Neue Ideen für Europa – transnationale Kommunikation und Popkultur statt Abendländerei
Wie froh wäre Johann Wolfgang von Goethe gewesen, das grenzenlose und echtzeitige Netz für den transnationalen Dialog einzusetzen. Der Dichterfürst nutzte den Postweg. Aber auch hier gab es eine Besonderheit. Das Postmonopol war in privater Hand und galt als Grundpfeiler der vorindustriellen Modernisierung. Ihr „Erfinder“ Franz von Taxis wurde auf eine Stufe mit Christoph Kolumbus gestellt. Der damalige Provider „Thurn und Taxis“ gewährte Goethe ein Freibriefrecht. „Für Briefe von und an Goethe musste kein Porto bezahlt werden“, erwähnt der Literaturwissenschaftler Peter Goßens im Interview mit Sabria David, Kuratorin des Projektes „Streaming Egos“.
Goethe konnte so viele Briefe schreiben, wie er wollte. Mit dieser freien Kommunikationsform entwickelte er sich zum Netzwerker für den europäischen Diskurs. Es war die Triebfeder seines kosmopolitischen Humanismus, von dem sich die völkisch gesinnten Politiker rechter Parteien eine Scheibe abschneiden sollten. Heute würde Goethe dafür Facebook, Twitter, Periscope, Instagram und einen Blog einsetzen. Damals nutzte er vor allem seine eigene Zeitschrift „Ueber Kunst und Alterthum“, um mit den „Literatoren“ Europas in Kontakt zu treten. „Neben seiner umfangreichen Korrespondenz, den Besuchern und Gesprächen, die zum Weimarer Alltag gehörten, war es vor allem das Projekt der Zeitschrift, die es dem alternden Goethe ermöglichte, ein virtuelles, aber durch seine gedruckte Form manifestes Kommunikationsnetz zu spannen und seine Wahrnehmung des weltliterarisch Bedeutsamen bekannt zu machen“, schreibt Goßens in seiner Habilitationsschrift „Weltliteratur“, erschienen im J.B. Metzler-Verlag. Goethe ging es darum, dass die gebildeten Menschen seiner Zeit miteinander darüber diskutieren, wie man altes Wissen in die neue Zeit rettet und ein neues gesellschaftliches Modell entwickelt:
„Wenn wir eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur zu verkündigen gewagt haben, so heißt dieses nicht, dass die verschiedenen Nationen von einander und ihren Erzeugnissen Kenntnis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt sich fort und erneuert sich mehr oder weniger; nein! hier ist vielmehr davon die Rede, dass die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennen lernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlasst finden gesellschaftlich zu wirken“, schreibt der Universalgelehrte in einem Grußwort an die Versammlung von Naturforschern und Ärzten im Jahre 1828.
Goethe und die europäische Öffentlichkeit
Goethe schuf eine kleine, aber sehr einflussreiche europäische Öffentlichkeit. Er suchte und fand Verbündete für sein weltliterarisches Unterfangen zur Schaffung eines transnationalen Kommunikationssystems. Weltliteratur wird von Goethe nicht als Kanon definiert, sondern als Programmatik zur Überwindung nationaler Verblendung. Nicht die Lektüre literarischer Werke steht im Vordergrund, sondern die grundlegende Kenntnis der Kulturen anderer Länder. Der Dichterfürst verstand sich als Katalysator zur Herausbildung einer europäischen Leserschaft. Zu seiner Lieblingslektüre zählte dabei „Le Globe“, die sich nationalen Vorurteilen und kulturellen Hegemonie-Bestrebungen entgegenstellte. Sein Anliegen wurde von nationalistischen Bedenkenträgern als undeutsche Gesinnung ausgelegt. AfD, Pegida und Co. würden es heute wohl genauso formulieren.
Mit seiner internationalen Netzwerkstärke konnte Goethe dieses Stammtisch-Gebrüll übertönen. Ähnliches erhofft sich Günther Rüther von den Intellektuellen unserer Zeit. Im 19. und 20. Jahrhundert waren es vor allem Kriege, die der europäischen Idee neue Kraft verliehen. Den Intellektuellen ging es dabei um die Überwindung nationalistischer Vorurteile, den Abbau von Hass oder Intoleranz und vor allem darum, verloren gegangene Freundschaften zwischen den Völkern erneut zu stiften, schreibt Rüther in seinem neuen Buch „Die Unmächtigen – Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945”, erschienen im Wallstein Verlag. Europa brauche jetzt die Stimme der Intellektuellen. Sie müssen die Sprache der Macht und der Expertokratie dechiffrieren, um der europäischen Idee wieder Auftrieb zu geben.
Die mediale Kraft der Popkultur
Rüdiger Altmann, der frühere Berater von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, kritisierte bereits in den 1990er Jahren das schleichende Gift der rückwärtsgewandten „Ersatzideologien” unter dem Deckmantel der Abendländerei.
Es sei die Aufgabe Europas, den Kulturkonflikt einer sich wandelnden Welt auszuleben und mit neuen Ideen zu überwinden. Welches sind die europäischen Ideen, die Europas Existenz heute ausmachen? Das kann nicht die Idee eines sich gegen die übrige Welt abgrenzenden Europas sein, das um seine Identität, auch um seine geschichtliche Identität, ringt. Die entscheidende Frage ist: Findet Europa den Mut, neue Ideen zu formulieren und auszuleben, die die ganze Welt angehen, also in diesem Sinne nicht spezifisch europäische sind? Auf diese Weise könnte Europa wieder jene Weltgeltung erlangen, die es früher gehabt hat. Altmann betont dabei die Kraft der Popkultur. Die mediale Kultur habe einen großen Bedarf und Verbrauch an Ideen.
„Darin unterscheidet sie sich deutlich von der Kultur der Klassengesellschaft alten Stils. In gewissem Sinne ist sie unideologisch. Zugleich entfaltet sie in der Massengesellschaft ein Kommunikationsfeld von großer Kraft…” Genau das sollte von der europäischen Zivilgesellschaft ausgehen. Vielleicht ist die Popkultur ein veritables Mittel, den Nationalisten und Rassisten in den europäischen Staaten das Wasser abzugraben – in transnationalen Dialogformaten. Als Vorbild für den transnationalen Netz-Diskurs könnten Goethe und die von Sabria David geförderte Salonkultur sein.
Die Dialogutopie der Gelehrten des 18. und 19. Jahrhunderts war der Grundstein für Lesegesellschaften, literarische Salons und Debattierclubs. Allerdings mit den Restriktionen der örtlichen Verfügbarkeit. Die Konvergenz der digitalen Technologien bewirkt neue Formen der Kommunikation. Was wir jetzt erleben, ist eine Abweichung von geschlossenen Medienformaten. Schon vor über 30 Jahren experimentierten die Kurd Alsleben und Antje Eske mit vernetzten Dialogen über HyperCards. Essentiell sei dabei die kulturelle Tiefe der Konversationen. Alsleben und Eske wollen die künstlerischen Qualitäten und die politische Dimension von sozialen Netzwerken im Internet abtesten. Es geht dabei um das mühsame Aushandeln von Positionen. Es geht um die Überwindung von Ressentiments und nationalistischen Vorurteilen. Eine aufgeklärte europäische Öffentlichkeit ist vonnöten, um den Vereinfachern und Verführern kein Spielfeld zu bieten, die mit simplen Antworten agitieren und zur Polarisierung anstacheln, um nicht komplexe Lösungen für komplexe Probleme anbieten zu müssen.