Newsletter No. 31 - Realitätsverzerrung auf LinkedIn: Emotionen vs. Fakten
Prolog
In einer Welt, in der die digitale Präsenz immer wichtiger wird, ist LinkedIn oft eine Bühne für die besten Versionen von uns selbst. Das ist vielleicht nichts Neues. Die Frage ist aber, ob hier nicht durch persönlich gefärbte eigene Erfahrungen (Eigenevidenz, n = 1) und starke Vereinfachungen Unwahrheiten produziert werden.
Hauptteil
Als Wissenschaftler kann ich sagen, dass es in Publikationen oft sogar auf das einzelne Wort ankommt - so werden Adjektive vermieden und vor allem geht es um Präzision im Ausdruck und eben nicht um die eigene Meinung, sondern um Objektivität. Bei LinkedIn geht es um Emotionalität, manchmal um witzige Banalität und vor allem um die eigene Meinung. Die beiden Domänen haben also eine grundverschiedene Ausrichtung.
Problematisch wird es jedoch, wenn Emotionen über Fakten gestellt werden. Inspirierende Geschichten und motivierende Zitate überschwemmen unsere Feeds, und das kann großartig sein, um uns emotional zu beflügeln. Aber stellen wir in der analogen Welt nicht oft fest, dass die Unternehmen, die Mitarbeiter und überhaupt die Menschen, denen wir im Alltag begegnen (also alle, denen wir nicht auf LinkedIn folgen), doch irgendwie ganz andere Themen haben?
Startups, die keine lustigen Geschichten über Workations erzählen, sondern sich längst nur noch langweilig um die nächste Finanzierung kümmern. Manager, die nach der Konferenz nicht ihren veganen Burger ins Hotel bestellen, sondern sich jeden Tag über ihren 9-to-5-Job in ihrer 5-Tage-Woche ohne Homeoffice freuen. Auf Veranstaltungen ohne Konfettikanonen und tolle, inspirierende Speaker und Coaches, sondern in eher schnöden, fensterlosen Konferenzräumen beim wöchentlichen, mehrstündigen Jour Fixe oder einer Konferenz mit 90-minütiger Manel-Talkrunde, bei der jeder irgendwas halbwegs Passendes von sich gibt, was ihm gerade in den Sinn kommt.
Das ist alles noch in Ordnung, denn hier zeigt jeder die beste Version von sich und seinem Unternehmen. Problematisch wird es aber, wenn Fakten verdreht oder gar Falschaussagen und Unwahrheiten verbreitet werden. Das persönliche Empfinden ist eben kein rationales Argument. Da hilft es auch nicht, das Wort „Studien“ zu erwähnen, denn die wenigsten haben wissenschaftlich gearbeitet und können diese interpretieren. Geschweige denn, dass sie sich die Zeit nehmen, sie zu lesen. So weicht die Möglichkeit der Partizipation: „Jeder kann zu allem seine Meinung sagen“ objektiv geprüften und qualitätsgesicherten Fakten.
Die Komplexität unserer Welt wird auf Plattitüden und Populismus reduziert und kann zu einer Verzerrung der Wahrheit führen, da der Kontext der Information und damit die Überprüfbarkeit fehlt.
Verstärkt wird dies durch den Effekt, dass wir uns in unserer LinkedIn-Bubble aufhalten und glauben, dass uns die relevanten Informationen bereits erreichen („news-finds-me“-Effekt). Es geht hierbei also nicht um objektive Informationen, sondern um eine Ansammlungen an lauten Meinungen. In der Literatur folgte auf die Aufklärung irgendwann die Romantik, in einer Zeit der kalten Industrialisierung und der politisch turbulenten Zeit der Französischen Revolution. Die Reaktion darauf war die Beschäftigung mit dem Inneren des Menschen, seinen Gefühlen und seiner Beziehung zur Natur. Irgendwie kommt einem das bekannt vor, wenn man durch seine Feeds scrollt: mehr Selbstbewusstsein des Bürgertums, Selbstverwirklichung oder zumindest Selbstfindung, Rückzug ins Homeoffice (bedrohlich gewordene Außenwelt), weinende Selfies, wenn man seinen Job gekündigt hat, um ein Start-up zu gründen (inneres Gefühlsleben), berufliche Visionen, um zu den Besten zu gehören (Träume und Unterbewusstsein) usw. Und genau in dieser Zuspitzung und Argumentation liegt das Problem. Nein, natürlich sind wir nicht wieder in der Romantik angekommen, auch wenn es vereinzelt sozialromantische Postings gibt. Das ist ein typischer Vereinfachungsfehler.
Man könnte auch sagen, dass subjektive LinkedIn-Erfahrungsberichte Fakten ersetzen. Klassische lineare Medien haben deswegen eben nicht ausgedient.
Ein anderes Beispiel ist das sogenannte teleologische Denken - ein schwieriges Wort. Es bedeutet, dass man sich auf das Ziel oder den Zweck hinter einer Handlung konzentriert. Wir haben das hier auch schon öfter gesehen, dass jemand auf LinkedIn ein Foto von sich beim Sport postet und dazu schreibt: „Ab heute trainiere ich jeden Tag, um im Job fit zu bleiben und gesund zu leben.“ Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden, aber man könnte auch kritisch anmerken: Es geht hier um eine starke Vereinfachung von Handlungen (nicht nur das Endziel ist wichtig, kann auch Spaß machen) und schließlich Leistungsdruck (fördert eine Kultur der Selbstoptimierung und des Vergleichens).
Oder: „Ich arbeite jeden Tag so hart, um eines Tages finanziell unabhängig zu sein“. Auch hier könnte man die Reduktion auf Erfolg (Chancenungleichheit, Privilegien werden meist ignoriert), hohe Erwartungshaltung („Moment mal, arbeite ich als Follower nicht genug?“) und die Vernachlässigung anderer Werte (Freude an der Arbeit, soziale Aspekte) als negativ ansehen. Und vor allem: Macht die Person nach dem Post wirklich jeden Tag Sport - meist bleibt es vermutlich wieder bei dieser initialen Eigenmotivation. Und die meisten arbeiten auch nicht jeden Tag hart für ihren Erfolg - auch wenn es in ihrem Feed so aussieht. Auch hier findet eine Verzerrung der Realität statt.
Empfohlen von LinkedIn
Epilog
In der Wissenschaft gibt es immer zwei Seiten, Argumente dafür und Argumente dagegen. Eine These gilt so lange, bis sie im wissenschaftlichen Diskurs widerlegt wird. Deshalb freue ich mich über jeden kritischen Kommentar im Meer der Jubelrufe und Ja-Sager, die kritisches Denken ernst nehmen, Informationen hinterfragen und auch auf Fakten hinweisen. Dabei geht es nicht um Pessimismus oder Idealismus, sondern um ein realistisches Bild der Arbeitswelt.
Über den Newsletter
Format? Meist kurz, manchmal etwas länger, wenn mein Puls ansteigt. Alle Newsletter hier.
Typos? Fehler gerne melden.
Themen? Hat jemand eine gute Story oder Insider-Wissen? Gerne per Linkedln oder anonym zusenden.
Vortrag erwünscht? Wer eine Keynote oder Moderation zur Digitalen Gesundheit bzw. Medizin benötigt, kann sich gerne bei der DXM GROUP, der Redneragentur Athenas oder per LinkedIn melden.
Wie zitieren? Matusiewicz D (2024): Realitätsverzerrung auf LinkedIn: Emotionen vs. Fakten, in: DXM - Digital X Medizin weekly, Newsletter, Jg. 2, Ausgabe 31, 2024.
Teilen? Sehr gerne verlinken und teilen - auch außerhalb von LinkedIn. Dafür ist es geschrieben und unabhängig von Partikularinteressen.
Evidence Based People Management
3 MonateIch kann das leider nicht kritisch sehen... meiner Privatevidenz zufolge ist das zutreffend ;)
Zukunftsmedizin durch mediales Körperwissen
3 MonateIch habe Sie leider auf der Gesundheitswirtschafzskonferenz verpasst. Ich wünschte es gäbe ein Plattform für humanities Die Mensch Maschine schnittstelle braucht aus meiner Sicht medientheorie Immer nur Ethik reicht nicht
High Performer and Visionary for Moonshot Rethinking Medicin, Klinikchirurg, Chefarzt, MHBA, Healthstratege, Risikomanager, (Health) Business Coach and Consulting!
3 MonateSo funktionieren soziale Medien! Wer sich daran bewusst beteiligt, sollte darum wissen, alles andere ist blauäugig!
Senior Marketing Managerin beim CyberForum: Hightech. Unternehmer. Netzwerk
3 MonateGuter Ordungsruf! Aber wissen wir das nicht alle beim Scrollen der neuesten „Nachrichten“? Ich denke, das haben wir alle drauf, sehr schnell abzuschätzen, ob es sich um Me-myself-and-I handelt oder um etwas Substanzielles.