OMG! Das Internet als Befreier unserer Schriftsprache?
Der Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker Mark Solms schrieb, das wir sind, was fühlen. Das steht zwar schon im letzten Artikel, den ich zu Sprache als Verstärker unserer Wahrnehmung schrieb. Hier eignet sich seine These aber erneut, um die zeigen, was für Gefühlswesen wir doch sind. Denn um Gefühle geht es auch, wenn man sich anguckt, wie das Internet unsere Schriftsprache verändert.
Besser gesagt: Wie es dazu geführt hat, dass wir formale Vorgaben wie Rechtschreibung und Grammatik nicht mehr allzu ernst nehmen und sprachlich viel kreativer geworden sind. Warum? Um unseren Gefühlen besser Ausdruck zu verleihen. Wir schreiben informeller, you know? Cooler und kreativer, könnte man meinen. Besonders in Chats und an anderen Internetorten. It’s all about ❤️, 🤯 und 🤪.
„Because Internet – Understanding how language is changing”, heißt das Buch, das die Linguistin Gretchen McCulloch zu dem Thema geschrieben hat. Wenn Menschen miteinander kommunizieren, verstehen sie sich umso besser, je mehr sie ihre gegenseitigen Gefühlzustände verstehen. Wenn wir so richtig miteinander sprechen, drücken wir uns gestikulierend aus, übermitteln Informationen mimisch und modulieren Lautstärke und Tonart unserer Stimme. Manchmal kommt es sogar zu spontanen High-Fives, OMG-Gekreische oder Umarmungen 😍.
Wörter sind Abstraktionen, und sie bekommen beim Sprechen eine emotionale Qualität, die wichtigen Informationen enthält. Deshalb ist das Gespräch von Angesicht zu Angesicht auch die reichhaltigste Form der Unterhaltung. Und auch die, der wenigsten Missverständnisse. Sie kennen das aus E-Mail-, Slack-, Discord- etc.-Diskussionen, bei denen man manchmal denkt: Was will der denn jetzt von mir?! Wahrscheinlich nix schlimmes. Aber wir versuchen fast immer, weitere (emotionale) Informationen zwischen den Zeilen zu entdecken.
Ein paar schnelle Fakten aus Gretchens Buch:
Die Regeln „von oben“ (in Deutschland sind das die vom Rat für deutsche Rechtschreibung) gelten zwar noch. Aber neue Regeln entstehen aus der kollektiven Praxis von Milliarden von „social monkeys“ – Regeln die unsere sozialen Interaktionen beleben. Das passiert in der üblich hohen Geschwindigkeit: Die Welt wird immer schneller immer komplexer, und so wandelt sich auch die Sprache im Internet in einem Tempo wie nie zuvor. Und infiziert sogar Bücher. So hat Literaturnobelpreisträger Jon Fosse in seinem Buch „Morgen und Abend“ keine Punkte am Ende seiner Sätze gesetzt
Geht auch ohne
Er schreibt dann stattdessen in einer neuen Zeile weiter
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So wie das Internet so manches demokratisiert haben soll, sei dies auch mit der Sprache geschehen, schreibt Gretchen. In Foren, Chats und anderen semi-öffentlichen Orten, an denen man schreiben kann, wie es beliebt, entsteht „Sprache als Netzwerk“, als eine Art „Open Source Projekt“ mit enormer kreativer Kapazität.
Beim Ausdruck geht es natürlich auch immer um den Ausdruck der eigenen Identität. Die sich von Erwachsenen absetzende Jugendsprache macht das jedes Jahr wieder vor mit sheesh, goofy, bodenlos und Co. Fun Fact hier: „Es ist klar belegt, dass jungen Frauen den Wandel treiben.“ Sie kreieren Sprachinnovationen, welche die Männchen dann übernehmen, schreibt Gretchen. Ältere Menschen sind schon oft ratlos, wenn mann ein ;) ans Ende einer Nachricht hängt: Was hat mein Sohn immer mit diesen Semikolons und Klammern am Ende seiner Sätze?
Man kann sich konservierend darüber echauffieren, dass es nicht „Das macht Sinn“ heißt, weil das wohl von „It makes sense“ kommt und im Deutschen die Dinge höchsten „sinnvoll sind“. Oder man freut sich wie Gretchen über die Kreativitäts- und Gefühls-Explosion der Internet-Schreibe: „I'd gladly accept the decline of standards that were arbitrary and elitist in the first place in favor of being able to better connect with my fellow humans. Perfectly following a list of punctuation rules may grant me some kinds of power, but it won't grant me love.“
Anders ausgedrückt: Wenn wir unter uns schreiben, wird aus dem fein säuberlich getrimmten Vorgarten der geregelten formellen Sprache ein bunter Urwald, in dem Worte und Formulierungen wild wachsen.
PS: Ich träum ja davon, dass sich sbeg mal durchsetzt im deutschsprachigen Raum. Einige Freunde wissen, was damit gemeint ist: so bald es geht. Gesprochen espeg. Als Alternative zum, wie ich finde zu geleckt klingenden asap.
PPS: Man kann im Vorspann keine Links setzen. Deshalb hier der zu meinem letzten Artikel über Sprache als Verstärker unserer Wahrnehmung.