Reguliert das Gehalt wirklich Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt?
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Reguliert das Gehalt wirklich Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt?

Handelsblatt am Dienstag, den 2. Mai (erste Seite): Vorteile durch den Arbeitskräftemangel? Unter dieser Überschrift meint Simon Jäger, Chef des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), dass der Mitarbeitermangel Deutschland produktiver machen könnte. „Die Arbeitskräfte gehe dorthin, wo die Löhne höher sind. Und die Betriebe, die höhere Löhne zahlen, sind produktiver“, so der 37-jährige Ökonom.

Diese Überzeugung deckt sich nur ganz begrenzt mit den Kriterien, nach denen meine Klienten ihren künftigen Arbeitgeber aussuchen. Was valide sein mag für die Kassiererin oder den Gabelstaplerfahrer verliert zunehmend (Maslow lässt grüßen) an Relevanz für Tätigkeiten die eine höhere Ausbildung erfordern.

Meine Mandanten schauen – neben dem Gehalt – auch nach:

·       Arbeitsklima (wie dieses eruiert werden kann, dazu gleich mehr)

·       Vorgesetzte Stelle, Möglichkeit von dieser Person zu lernen und Führung im Allgemeinen (ebenso)

·       Zukunftsfähigkeit der Produkte und Dienstleistungen

·       Professionalität des Onboardings, der Arbeitsabläufe und Organisation

·       Nähe zur Firma, Arbeitsplatzausstattung, inspirierendes Umfeld

·       Home-Office, flexible Arbeitszeiten, Elternzeitreglungen für beide Elternteile, Work-Life-Balance, Sabbatical, sonstige Sozialleistungen

Gerade Personen mit ersten Berufserfahrungen stellen fest, dass das Gehalt kaum ein Fehlen der obigen Faktoren kompensiert. Das führt allerdings bei einem Arbeitgeberwechsel häufig zu einer anderen Gefahr:

Honeymoon

Wer unter seinem Chef gelitten hat, wird beim nächsten Arbeitgeber darauf den Fokus richten. Wer gemobbt wurde, wird seine KollegInnen genau anschauen. Wenn Störgefühle fehlen, entsteht leicht eine Euphorie. Ich erhalte dann Rückmeldungen „dass alles besser ist als bisher“. Ich warne immer vor dem „Honeymoon-Feeling“. Wer verliebt ist, tut sich mit Objektivität schwer, bis eines Tages entdeckt wird, dass der Partner auch nur ein Mensch ist.

Blind Signing

Die selektive Wahrnehmung kann zum „Blind Signing“ führen. Rasch wird überprüft, ob beim neuen Arbeitgeber die gleichen Gefahren lauern wie vorher. Wenn nicht, wird rasch unterschrieben.

Häufig hat auch der Arbeitgeber ein Interesse daran, den Prozess abzukürzen. Es ist keine Seltenheit, dass der Arbeitsalltag in den schönsten Farben angemalt wird. Ist ein Headhunter im Spiel, stößt dieser vielfach ins gleiche Horn. Was früher den Bewerbern vorgeworfen wurde, der Realität ein wenig nachzuhelfen, ist mittlerweile auch beim Arbeitgeber keine Seltenheit.

Gerade in Zeiten in denen Arbeitgeber den Kampf um qualifizierte Mitarbeiter als Realität erleben, ist beim Bewerber eine nüchterne Überprüfung angesagt. Wie kann sich ein Kandidat ein Bild vom Unternehmensalltag verschaffen und – im Idealfall – schauen, dass mehrere Angebote gleichzeitig heranreifen?

·       Darauf bestehen, das künftige Team kennenzulernen. Zeit mit den künftigen KollegInnen einfordern. Sich bei diesen nach Unternehmensstärken und Schwächen erkundigen. Würden sie die Entscheidung für das Unternehmen nochmals treffen? Es gibt immer einen „Tag Nummer eins“. Wenn es dann nicht passt, verlieren alle! Arbeitgeber, Bewerber, Kandidaten die in Frage gekommen wären. Mehr als die Hälfte aller neuen Mitarbeiter, die das Unternehmen in der Probezeit verlassen, treffen diese Entscheidung am ersten Tag. Das kann vermieden werden!

·       Mal schauen auf Kununu (sowie Glassdoor und Meinchef.de). An sich melden sich eher die kritischen Mitarbeiter. Aber ein Vergleich mit der Bewertung von Wettbewerbern lohnt sich als Stimmungsbild.

·       Jahresabschluss bei Bundesanzeiger.de anschauen. Der Inhalt geht meistens weit über Finanzzahlen hinaus. Sie finden einen Lagebericht mit SWOT-Analysen, einen wirtschaftlichen und qualitativen Ausblick sowie Maßnahmen zur Mitarbeiterbindung.

·       Bei LinkedIn und XING den Arbeitgeber eingeben und schauen, welche Mitarbeiter dort arbeiten. Job-Title? Wie sind sie gekleidet? Welche Atmosphäre kommt Ihnen entgegen?

·       Im Interview fragen, wie Führung sichtbar wird? Was können Sie erwarten und – sollten Sie sich als Führungskraft bewerben – was wird von Ihnen in der Führung verlangt?

·       Erfragen: Wenn der Arbeitgeber und Sie zusammenfinden, welche Leistungen müssten Sie im ersten Jahr erbringen, damit Sie nach einem Jahr eine optimale Rückmeldung erhalten würden?

·       Im Idealfall: Drei Tage Probearbeiten! Im Gesundheitswesen und häufig im Handwerk ist die Hospitation eine Normalität. Diese kann auch auf andere Berufszweige erweitert werden. Im praktischen Alltag lernt man sich kennen.

Jeder Punkt an sich eignet sich nicht als Entscheidungsgrundlage. Das Gesamtbild ist allerdings tragfähig.

Gute Nachricht für Arbeitgeber: Nicht nur das Geld spielt eine Rolle

Intuitiv wissen Arbeitgeber, dass auch andere als monetäre Faktoren eine Rolle spielen. In Deutschland gibt es 4 Mio. Arbeitgeber (inkl. Solo-Unternehmen). Lediglich 16.000 Unternehmen beschäftigen mehr als 250 Mitarbeiter, also 0,3 Prozent. Diese Konzerne und gehobenen mittelständischen Unternehmen erwirtschaften 65 Prozent der Wertschöpfung mit 35 Prozent aller Beschäftigten. Die anderen 65 Prozent der Arbeitnehmer (wir reden insgesamt von ca. 45 Mio. Personen) sind somit in Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeiter – also häufig im Mittelstand – beschäftigt. Diese Unternehmer sind nicht in der Lage, die Gehälter der Konzerne zu zahlen – und bieten dennoch ein Zuhause für ca. 30 Mio. Mitarbeiter.

Die Aussage: „Die Arbeitskräfte gehe dorthin, wo die Löhne höher sind“ ist so nicht richtig. Gleichwohl wird es für den Mittelstand zunehmend wichtiger mit ihren individuellen Stärken als Ausgleich zum geringeren Gehalt sichtbar zu sein und diese kreativ zu vermarkten. Ein guter Anfang wäre ein qualifizierter Bewerbungsprozess, schnelle Reaktionszeiten und Transparenz im Einstellungsverfahren.

Fabian Krüger

Bereichsleiter Finanzen / Prokurist

1 Jahr

👍

Ralf Günther

Geschäftsstellenleiter (Branch Manager) - ADAC Hessen-Thüringen e.V.

1 Jahr

Eine sehr umfassende Darstellung. Danke!👍🏻

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