Dem Leben Bedeutung geben
Letzte Woche habe ich meinen besten Freund aus der Grundschule in Amsterdam besucht. Er berichtete, dass seine Lebensgefährtin sich die Woche darauf mit 63 in Frührente verabschieden würde. Ihre gemeinsamen Pläne hatten mich interessiert und auch, was sie individuell beabsichtigte.
Er verwies auf einen TED-Talk von Dr. Riley Moynes zum Thema Rente.
Diese teilte die Erfahrung vieler Ruheständler in vier Phasen auf:
1. Urlaub
2. Unzufriedenheit
3. Ausprobieren
4. Produktivität
So meinte mein Freund, dass seine Freundin sich zunächst darüber freuen würde, keine Verpflichtungen mehr zu haben. Zumindest nicht wie bisher. Sie war Schulleiterin und hat jeden Tag um 07.00 Uhr ihre E-Mails gecheckt wer krank war – damit sie Lösungen fand. Nun war sie in der Lage einfach Impulsen nachzugeben, zu schauen, was zugedeckt war und sich von einer inneren Kreativität überraschen zu lassen.
Vier Phasen nach dem Ruhestand (?)
Zu Hause habe ich mir das Video einmal angeschaut – und logischerweise war es Amerikanisch geprägt. Die vier Stufen waren teils unterteilt. So stammte die Unzufriedenheit nach der Urlaubsphase aus dem erlebten Verlust. Aus den Befragungen nannte er hier:
a. Verlust der Routine
b. Verlust von einem Gefühl der Identität und Zugehörigkeit
c. Verlust von (Arbeits-) Beziehungen
d. Verlust von Sinngebung (für manche verbunden mit der Erwerbstätigkeit)
e. Verlust von Macht (in geringerem oder stärkerem Maß)
Einige dieser Punkte konnte ich – in der Tat – in meiner Umgebung beobachten. Je nach Trennungsverarbeitung, Abschiedskompetenz und Trauerarbeit waren Betroffene rascher in der Lage, Altes abzuschließen und sich in Neues hineinzugeben.
Dieses beschreibt Dr. Moynes in den Phasen drei und vier. In der letzten Phase wird Logisches vorgeschlagen: Dienen mit den vorhandenen Kompetenzen. Er kommt dann mit Beispielen von Personen, die sich zusammengetan hatten und Wachstum mit ihren Dienstleistungen erlebten. Das war dann das Ende des Vortrags.
Ist Produktivität die Antwort auf die Sinnsuche?
Obwohl ich mich anfangs durch die Erkennung mit den Aussagen identifizierte, blieb ein unbefriedigendes Empfinden nach dem Abschluss zurück. Ich verstand den Aufruf als ein Appell, mehr vom Gleichen wie „früher“ zu tun – nun aber in einem anderen Kontext.
Die Frage nach dem Sinn („dem Leben Bedeutung geben“) wurde in diesem Fall mit Produktivität, Wachstum und Effektivität beantwortet. Natürlich für eine andere Zielgruppe unter veränderten monetären Bedingungen - im besten Fall mit Personen mit denen man gern zusammen ist. Alles gar nicht übel.
Dennoch blieb mein Hadern mit dieser Aussage. Wer sich ein Leben lang über Leistung definiert hat, soll sich erneut der Leistungsorientierung verschreiben? Da hätte ich mir einen Paradigmenwechsel vorstellen können. Z.B. vom „Tun“ ins „Sein“. Denn der Lösungsansatz der erneuten Ergebnisse hält nicht ewig an.
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Leistung ist endlich
Wer nicht länger leistungsfähig ist, sieht sich gezwungen, nochmals auf Sinnsuche zu gehen. Dass dieses Szenario eintreffen kann, ist nicht weit hergeholt. Wer im Gesundheitswesen arbeitet, weiß um die Realität von Krankheiten, Pflegebedürftigkeit und der Notwendigkeit loszulassen.
Auch wer bis ins hohe Alter gesund bleibt, verliert irgendwann an Kraft und Energie – und ist nicht länger in der Lage, die Vorschläge von Dr. Moynes zu erfüllen. Nichts gegen diese inspirierende Persönlichkeit. Aber wenn wir eines Tages nicht länger leisten können, macht es Sinn, sich rechtzeitig mit den Konsequenzen davon zu beschäftigen.
Es muss nicht nur das Alter sein. Wenn eine Antwort auf die Sinn-Frage universell gültig sein soll, ist sie auch für Gefangene relevant, für Personen mit geringer Ausbildung, Menschen in einem anderen kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und geographischen Umfeld.
Wenn wir Corona etwas Gutes abgewinnen wollen, dann möglicherweise die Tatsache, dass wir mit uns selbst konfrontiert wurden in einer Situation, in der wir nicht verreisen konnten, nicht in die Firma gehen, nicht mit den Leuten Kontakt haben, wie wir das wollten.
Wer die Pandemie mental gut überstanden hat, fand wahrscheinlich Antworten in sich selbst.
Pilgerpfad
Letzte Woche war ich beruflich in Waldsassen, nahe der tschechischen Grenze. Nach einem Führungstraining machte ich einen Spaziergang und kreuzte dabei einen Pilgerweg. An einem Baum war eine Tafel befestigt:
ich ging nur
für einen kurzen
Spaziergang hinaus
und beschloss schließlich
bis zum Sonnenuntergang
draussen zu bleiben
denn ich stellte fest, dass das
Nach – draussen – Gehen
eigentlich ein
Nach – innen – Gehen
war
#karrierecoaching
Docent Creativity bij Rhine-Waal University
4 MonateGut geschrieben - danke! "Sinnsuche im Sein statt im Tun" - ein wertvolles Prinzip - hoffentlich nicht nur im Ruhestand ;-)
Fachbereich Personal & Recht
4 MonateWunderbar…
Career Coach, Outplacement-Consultant, Resume Writer, Job-Search Strategist, Author
4 MonateHier - im Übrigen - die Originaltafel:
Schuppener-Global-Transitions - competent & empathic
4 MonateHallo Vincent, am Samstag habe ich eine Führung bei uns in Kaufering gemacht. Thema: Auf den Spuren von Viktor Frankl in Kaufering. Er war hier KZ Häftling. Er ist dir sicher bekannt als der Autor von "Men's Search for Meaning". Egal was passiert, ich darf nach dem Wozu fragen, anstatt nach dem Warum. Liebe Grüße - Jochen
Consultant - Coach - Speaker - Regulatory - Organisational Development - Pharmaceuticals, Veterinary Medicine, Plant Protection, Biocides, MPR, NVR, PPP
4 MonateHallo Vincent G.A. Zeylmans van Emmichoven, danke für diesen Artikel. Ich kenne den erwähnten TED-Talk nicht, aber als Wissenschaftler kam mir sofort das Stichwort "Survivor Bias" in den Sinn 😀 . Was für mich bleibt, ist die Erkenntnis, solche Pilgerreisen zu starten, wenn man einen neuen Lebensabschnitt beginnt.