Renaissance der Doppel-Spitze
Die Erholung an den Aktienmärkten nimmt ihren Lauf. Der MSCI Welt hat seit Ende der Verkaufspanik (es gibt Humoristen, die der Meinung sind, im März habe keine Panik stattgefunden) 35% zugelegt. Damit beträgt sein Verlust seit Jahresanfang noch 8%. Der stärkste Sektor, Information Technology, notierte am Freitag 5% über Jahresanfang, und der zweitstärkste, Healthcare, knapp 2% darüber. Das sind ganz sicher keine Bärenmarkt-Werte. Es gibt aber andere Sektoren, die durchaus in Bärenmarkt-Territorium sind, wie zum Beispiel Real Estate mit einem Verlust von immer noch 24% gegenüber Jahresanfang, oder Energy mit einem Minus von 33%. Das Blatt wendet sich mittlerweile langsam auch in bisher schwachen Sektoren in zunehmend unverkennbarer Weise.
Es heisst, nach der Pandemie werde – je nach Quelle – nichts mehr sein wie vorher, oder vieles nicht mehr sein wie vorher. Das trifft aber auf die Aktienmärkte nicht zu. Hier haben wir nach wie vor starke Sektoren und starke Industrien in relativ schwachen Sektoren, die sich sehr gut in Szene setzen.
Darüber hinaus scheint mir, dass die Börse Anschluss findet an das, was ich im Newsletter Dezember 2019 als Doppelspitze bezeichnet hatte. Damit war die Aussage verbunden, zum Narrativ der Schumpeter’schen schöpferischen Zerstörung werde sich das Zinsnarrativ dazugesellen und den Börsen nachhaltigen Aufwind verleihen. Dieses Doppel-Narrativ hat das Potenzial, jene Populationen, die aufgrund verschiedener fraglos vorhandener Spannungsfelder in Wirtschaft, Kreditwesen und Politik ein Melt-Down an den Aktienmärkten erwartet haben, als Anleger zurückzuholen. Nun weisen Aktienmärkte im Gegensatz zu Gütermärkten bei steigenden Preisen nicht nur meistens zunehmende Nachfrage, sondern auch schrumpfendes Angebot auf. Diese Kombination ist, wenn sie sich durchsetzt, durchaus geeignet, Information Technology und Healthcare weiter anziehen zu lassen und gleichzeitig weitere Sektoren im Rahmen mittelfristiger Aufwärtstrends deutlich steigen zu lassen. Bis vor kurzem war die Annahme weiterherum verbreitet, dass ein Test der Tiefstmarken von März unausweichlich sei. Daraus folgt, dass sehr wahrscheinlich zu viel Liquidität gehortet wurde und das positive Momentum für solche Kreise eine unwiderstehliche Einladung sein wird, jetzt noch einzusteigen.
Die These der "Doppelspitze" findet Nahrung darin, dass bislang relativ schwache Sektoren begonnen haben, zum Teil sehr langsam und zögerlich, aber doch unmissverständlich relative Stärke aufzubauen. Dazu gehören die MSCI Indizes Industrials, Consumer Discretionary, Materials und, mit noch einigem Rückstand gegenüber diesen drei, Real Estate und Utilities.
Mein Mentor und Lehrer Alan Shaw versuchte mir beizubringen, im, wie er formulierte, "fensterlosen Raum" zu analysieren. Damit meinte er, die technischen Daten zu verwenden, ohne auf die Umwelt zu achten. Damit hatte er bei mir keinen Erfolg, obwohl sein Leistungsausweis allen Grund gegeben hätte, ihm blind zu folgen, legte doch sein Musterportfolio 621.15% zu während der S&P 500 in der gleichen Zeit um 241.72% stieg. Meine Neugier war aber stets zu gross, um nicht nur aus dem Fenster zu schauen, sondern auch das Fenster zu öffnen, mich hinauszulehnen und nach allen Richtungen zu schauen, womöglich noch unter Zuhilfenahme eines Fernrohrs. Wenn ich das jetzt tue, sehe ich nur Nebel. Schliesse ich das Fenster und befolge ich Alan Shaws Rat, so gibt es für mich nur eine Schlussfolgerung: Das eine Narrativ bleibt Schumpeters schöpferische Zerstörung, das andere lautet "don't fight the FED".
Wie wichtig ist die Konjunktur?
Sie ist wichtig. Allerdings nur mit der Zeit. Aktienmärkte versuchen, konjunkturelle Entwicklungen vorwegzunehmen. Nach einiger Zeit kühlt sich ihr Mut ab. Sie konsolidieren und warten Meldungen ab, die ihre eingepreisten Erwartungen bestätigen. Treffen sie ein, werden noch mutigere Erwartungen gebildet. Treffen sie nicht ein, korrigieren die Aktienkurse. Daher ist es wichtig, wenn Märkte unter erhöhter Ungewissheit steigen, mit 10-, 20- oder 40-Tage-Bollinger-Bändern die Avancen zu begleiten, um gegebenenfalls frühzeitig auszusteigen. Welche der drei Perioden gewählt wird, hängt von mehreren Umständen ab. Jene zu wählen, die sich als besonders nützlich erweist, setzt viel Erfahrung voraus.
Nicht von der Hand zu weisen ist die Beeinflussung der Erwartungen durch die Kursverläufe selbst. George Soros, dessen Erfolgsausweis an den Börsen dafür spricht, zuzuhören wenn er etwas sagt bzw. seine Bücher zu lesen, vertritt die Meinung, dass Aktienkurse und Konjunktur sich gegenseitig beeinflussen. Dafür hat er den Begriff der Reflexivität kreiert. Aus der Behavioral Finance Forschung sind viele Studien bekannt die belegen, dass Analysten ihre Schätzungen der zu erwartenden Kurse und der Unternehmensgewinne den vergangenen Aktienkursen anpassen. Aus dieser Perspektive ist der "fensterlose Raum" Alan Shaws in einer Zeit voller Rätsel darüber, wie die Konjunktur auf präzedenzlose monetäre und fiskalische Massnahmen reagieren wird womöglich nicht die schlechteste Rezeptur.
Und was ist mit Gold?
Seit Juli 2019 habe ich mich in mehreren Ausgaben des Newsletters und in Kolumnen positiv zu Gold und Goldminen-Aktien geäussert. Gold ist aber kein Ersatz für Aktien, sondern eine Ergänzung dazu – allerdings nicht immer, sondern nur zur richtigen Zeit. Und die richtige Zeit für Gold ist aus technischer Sicht vorhanden. Doch Gold als alleinige Anlage kommt bei nüchterner Betrachtung wohl nicht in Frage, weil sie ein Klumpenrisiko darstellen würde. Zwar bringt in richtigen Bärenmärkten auch die Diversifikation in reinen Aktien Portfolios nicht unbedingt den Schutz, den man in solchen Zeiten sucht. Doch ein Bärenmarkt in allen Sektoren weltweit während bald 20 Jahren wie im Goldpreis von USD 850.00 im Januar 1980 bis August 1999, als Gold zu USD 253.00 gehandelt wurde, hat es in der Geschichte der Aktienmärkte noch nie gegeben.
Alfons Cortés, Senior Partner bei Unifinanz Trust reg.