Rezepte für eine nachhaltige Vorsorgereform

Rezepte für eine nachhaltige Vorsorgereform

Der UBS Vorsorgeindex Schweiz erreichte Ende 2018 seinen bisherigen Tiefstand. Als Pulsmesser ermittelt er die Gesundheit des Schweizer Vorsorgesystems. Die negative Dynamik, die seit mehr als zwei Jahren anhält, ist vor allem dem rapiden Anstieg der Rentner- gegenüber den Erwerbstätigen-Zahlen geschuldet. Vor diesem Hintergrund haben wir zusammen mit dem Forschungszentrum Generationenverträge (FZG) der Universität Freiburg im Breisgau die langfristigen Perspektiven der Schweizer Altersvorsorgesysteme und des öffentlichen Haushaltes analysiert (die detaillierte Studie kann unter www.ubs.com/vorsogeforum heruntergeladen werden).

AHV mit enormer Finanzierungslücke

Ein wesentliches Problem unserer ersten Säule der Altersvorsorge ist, dass sie mit Blick auf die Rechnungslegung nur eine simple «Milchbüechli-Rechnung» vorlegen muss – eine einfache Darstellung von Einnahmen/Ausgaben. Jedes KMU, gar jeder Turnverein in unserem Land, hat neben einer Erfolgsrechnung jährlich auch eine Bilanz vorzulegen, in der alle Guthaben und Verpflichtungen dargestellt werden. Unser wichtigstes Sozialwerk, die AHV, muss dies nicht tun. Um Transparenz über ihren finanziellen Gesundheitszustand zu schaffen, haben wir daher eine AHV-Bilanz erstellt.

Ausgangspunkt ist die sogenannte Generationenbilanz. Sie gibt an, wie viel jede heute lebende Generation im Durchschnitt pro Kopf im übrigen Lebensverlauf noch in die AHV einzahlen wird, abzüglich der Leistungen, die sie in Zukunft von der AHV erwarten kann. Die Differenz zwischen den zukünftigen Einzahlungen und den zukünftigen Auszahlungen entspricht der Nettozahlung zum Gegenwartswert des jeweiligen Altersjahrgangs gegenüber der AHV. Eine negative Nettozahlung bedeutet, dass ein Altersjahrgang mehr Leistungen aus der AHV in Anspruch nehmen wird, als er in seiner verbleibenden Lebensdauer noch an Beiträgen einzahlen wird.

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Die Abbildung zeigt das Ergebnis und fördert Erstaunliches zutage. Die AHV verspricht jedem Jahrgang mehr Leistungen, als dieser selber einbezahlen muss. Dass die Nettozahlungen an die heute 65-Jährigen am höchsten ist, leuchtet ein, da diese Generation die noch längste Bezugsdauer vor sich hat und nur noch relativ wenige Beiträge bezahlen wird. Erstaunlich ist aber, dass auch allen anderen Jahrgängen mehr versprochen wird, als sie selber je einzahlen müssen. Ein solches System muss über kurz oder lang finanziell zusammenbrechen. Das Ausmass des so entstehenden Finanzierungslochs lässt sich berechnen, indem für jeden Jahrgang die Anzahl Personen mit der entsprechenden Nettozahlung multipliziert wird und dann diese Ergebnisse über alle Jahrgänge aufsummiert werden. Tut man dies für die Gesetzgebung noch vor der AHV-Zusatzfinanzierung durch die STAF, so beliefen sich die nicht finanzierten Leistungsversprechen der AHV auf sage und schreibe rund 1100 Milliarden Franken oder fast 170 % des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Schweiz. Zum Vergleich: Der AHV-Ausgleichsfonds, der das Sicherheitspolster der AHV ist, wies per Ende März 2019 ein Vermögen von 36,9 Milliarden Franken aus.

AHV-Reform und Generationengerechtigkeit

Unter Berücksichtigung der STAF, die vom Stimmvolk im Mai angenommen wurde, beträgt die Finanzierungslücke der AHV noch immer knapp 940 Milliarden Franken oder rund 136% des BIP. Die Lücke wird damit um etwa einen Fünftel reduziert. Zusammen mit der nächsten Reformvorlage AHV 21 (unter Berücksichtigung der heute bekannten Eckpunkte ) würde sie die Lücke sogar etwa halbieren. Doch selbst nach dieser Reform verbleiben in der AHV nicht finanzierte Leistungsverprechen von rund 550 Milliarden Franken.

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Die Sanierungslast beider Reformen liegt jedoch weitgehend bei den Jungen. Für eine heute 10- bis 25-jährige Person sind die Sanierungsbeiträge drei Mal so hoch wie für eine 55-jährige Person, fünf Mal so hoch wie für eine 65-jährige Person und etwa 15 Mal so hoch wie für eine 75-jährige Person. Die vorgesehene Angleichung des Rentenalters der Frauen an das der Männer ist die einzige Reformmassnahme, die die Generationengerechtigkeit stärkt.

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Neben der steigenden Anzahl Rentner wiegt auch die längere Rentenbezugsdauer schwer. Personen, die heute in der Schweiz das Rentenalter erreichen, werden im Durchschnitt für jedes Jahr, für das sie eine AHV-Rente beziehen werden, nur noch 1,8 Jahre gearbeitet und AHV-Beiträge geleistet haben. 1948, als die AHV eingeführt wurde, waren es noch 3,4 Beitragsjahre pro Bezugsjahr. Will eine Gesellschaft eine solch massive Reduktion der relativen Lebensarbeitszeit geniessen, so muss sie eine Wohlstandsreduktion hinnehmen – entweder über tiefere Renten oder über einen tieferen Lebensstandard der zahlenden Generationen.

Referenzalter gleitend und sozialverträglich anheben

Eine Flexibilisierung des Renteneintritts mit einer langsamen und schrittweisen Anhebung des Referenzalters, sodass die durchschnittliche Bezugszeit etwa 20% des gesamten Lebens ausmacht, würde die AHV-Finanzierunglücke mehr als halbieren und zugleich für mehr Generationengerechtigkeit sorgen.

Gegen eine Erhöhung des Referenzalters wird häufig die gesellschaftlich brisante Problematik der Arbeitslosigkeit der über 50-Jährigen angeführt. Aus Sicht der Sozialversicherungen gilt jedoch, dass für jeden, der nicht (mehr) am Erwerbsleben teilnimmt, alle anderen umso länger arbeiten müssen, um die fehlenden Sozialbeiträge in den Sozialversicherungen und die Zusatzkosten für die Gesellschaft auszugleichen. Tatsächlich ist die Erwerbsbeteiligung der über 50-Jährigen von heute über 76 Prozent noch nie so hoch gewesen, sodass längst nicht alles so düster ist, wie es manchmal dargestellt wird. In unserer Studie zeigen wir verschiedene Modelle auf, die das Referenzalter in kleinen Schritten über einen längeren Zeitraum anheben. Zum Beispiel könnte ab einem bestimmten Jahr das AHV-Referenzalter während insgesamt zwölf Jahren um zwei Monate pro Jahr für Männer und drei Monate pro Jahr für Frauen angehoben werden, bis das Ziel bei Alter 67 für beide Geschlechter erreicht ist.

Tendenziell weisen Akademiker und Besserverdienende eine höhere Lebenserwartung auf und treten häufig erst später in den Arbeitsmarkt ein. Hingegen haben Personen, die über einen längeren Zeitraum starken physischen Belastungen ausgesetzt sind und/oder besonders tiefe Löhne aufweisen, eine kürzere Lebenserwartung. Rentenaltermodelle, die solche Faktoren berücksichtigen, sind gerechtfertigt und weisen eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz auf. So können berufs- oder branchenspezifische Abschläge (zum Beispiel Bauarbeiter) oder Aufschläge (zum Beispiel Akademiker) auf das geltende Referenzalter berücksichtigt werden. Beispielsweise könnte für jeden Anstieg des Referenzalters um drei Monate das Referenzalter für Bauarbeiter lediglich um einen Monat angehoben werden. Allerdings sind Modelle mit berufs- und branchenspezifischen Abschlägen komplex, da die Verweildauer jedes Versicherten in jeder Branche berücksichtigt werden muss. Denkbar ist auch, Personen mit einer besonders hohen Anzahl Beitragsjahren als Erwerbstätige und gleichzeitig einem markant tiefen Lohnniveau über den Lebensverlauf Abschläge zu gewähren. Dabei könnte für jedes zusätzliche Beitragsjahr als Erwerbstätiger über dem Referenzwert eine Reduktion des Referenzalters (beispielsweise um zwei Monate) angerechnet werden.

Diese Überlegungen zeigen, dass eine generationengerechte, nachhaltige Sanierung unserer Vorsorgewerke möglich ist. Eine Flexibilisierung des Rentenalters mit einer Verlängerung der Erwerbsphase kann die AHV sanieren und den Wohlstand aller Generationen erhalten. Zudem würde eine umfassende staatliche Rechnungslegung – im Sinn der oben dargestellten AHV-Generationenbilanz – über alle Sozialversicherungen hinweg die Transparenz erhöhen und die politischen Entscheidungsgrundlagen verbessern.  

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