Risikozuweisung und Interessenausgleich in der Praxis (I)

Risikozuweisung und Interessenausgleich in der Praxis (I)

Sollte ein Auftragnehmer Turnkey in dem hier verstandenen Sinne anbieten, übernimmt er erhebliche Risiken, die ihm möglicherweise nicht direkt klar sind. Die Anlage, die er zu errichten hat, muss funktionstauglich sein und er trägt die Verantwortung für die Planung und Ausführung aller Arbeiten, ohne dass es ein detailliertes Leistungsverzeichnis gibt. Oftmals ist es vor Vertragsschluss aus Zeitgründen nicht möglich, alle technischen Belange ausführlich und abschließend zu klären. Neben dem Risiko der funktionalen Leistungsbeschreibung entwickelt sich ebenfalls das Risiko der baubegleitenden Detailplanung. In der Regel wird der Auftragnehmer nicht bereit sein, diese Risiken komplett zu übernehmen. In diesem Zusammenhang bieten sich bei der Vertragsgestaltung mehrere Ansatzpunkte die Risiken ausgewogen zu verteilen.

Detaillierte, abschließende Beschreibung einzelner Leistungen

Eine rein funktional formulierte Leistungsbeschreibung kommt in der Praxis nicht vor. Auftragnehmer und Auftraggeber haben ein Interesse an konkreten Leistungsvorgaben. Auf diese Weise vermeiden sie, dass es bei wichtigen Gewerken oder Positionen zu einem Streit darüber kommt, ob eine vertragskonforme – der funktionalen Leistungsbeschreibung entsprechende – Ausführungsvariante gewählt wurde. Dem Auftraggeber ist es dadurch möglich, besondere Wünsche umzusetzen oder zu verhindern, dass der Auftragnehmer eine zu „billige“ Lösung wählt. Der Auftragnehmer wiederum kann auf diese Weise sicherstellen, dass die von ihm kalkulierte Ausführungsvariante vom Auftraggeber als vertragsgerecht akzeptiert wird.

Die Vertragsparteien müssen aus diesem Grund darauf achten, dass eindeutig zu erkennen ist, welchen Regelungsumfang die detaillierte Beschreibung haben soll: Ist sie konkretisierend gemeint oder soll sie innerhalb des relevanten Leistungsbereichs alle zu erbringenden Lieferungen und Leistungen komplett und abschließend beschreiben. In diesem Zusammenhang könnte der Fall eintreten, dass letztere Regelung mit einer Vollständigkeitsklausel kollidiert, falls sich bei der Ausführung herausstellt, dass in diesem Bereich weitere Leistungen erforderlich sind, um den forcierten Zweck des Vertrages zu erreichen. Besonders in dem Fall, wenn das Angebot des Auftragnehmers Bestandteil des Vertrages wird und viele ausführliche Beschreibungen einzelner Leistungen enthält, ist auf das Zusammenspiel mit den anderen Vertragsbestandteilen zu achten.

Annahmen des Auftragnehmers

Eine (teil-)funktionale Leistungsbeschreibung ist nicht eindeutig und zwingt den Auftragnehmer aus diesem Grund seiner Kalkulation Annahmen zu Grunde zu legen („Kalkulationsannahmen“). Sollte ihm eine ausführliche Ausführungsplanung vor Angebotsabgabe nicht möglich sein, werden sich diese Annahmen auf die zu errichtende Anlage beziehen (z.B. die erforderlichen Mannstunden und Materialien).  Auf Basis der ihm zur Verfügung stehenden Informationen wird der Auftragnehmer in der Folge Annahmen zu den Bauumständen treffen, welche die Anlage selbst betreffen können (z.B. die Bodenbeschaffenheit oder Temperaturschwankungen, denen die Anlage ausgesetzt ist) oder welche sich auf den geplanten Bauablauf beziehen.

Im Hinblick auf bestimmte Bauumstände (z.B. Baugrundbeschaffenheit) ist es üblich, über detaillierte Klauseln eine angemessene Risikoverteilung zu vereinbaren. Diese Klauseln außen vor gelassen hat sich der Auftragnehmer bei allen anderen Annahmen in Bezug auf die Anlage oder den von ihm geplanten („angenommenen“) Bauablauf zu fragen, ob er die Annahmen in sein Risiko nehmen möchte. Wegen der weitreichenden Turnkey-Verpflichtung kann der Auftraggeber im Regelfall davon ausgehen, dass der Auftragnehmer allen Umständen Rechnung getragen hat. Die im Vorfeld gewählte Pauschalvergütung ist gerade nicht abhängig vom tatsächlichen Aufwand. Während sich der Auftragnehmer im Inlandsbau noch darauf verlassen kann, dass er nur solche Umstände berücksichtigen muss, die bei Angebotsabgabe oder Vertragsschluss erkennbar waren und er im Übrigen von einer Standardbaustelle mit einer Standardbauausführung ausgehen darf, muss er sich bei ausländischen Rechtsordnungen fragen, ob sie auch dieser Wertung folgen. Falls der Auftragnehmer möchte, dass er bei Nichteintritt bestimmter Annahmen Mehrkosten und Terminverlängerung einfordern kann, sollte er die entsprechenden Annahmen in den Vertrag implementieren.

Rainer Proksch unterstützt Firmen in Einkaufs-, Contract- und Claimfragen rund um Großbaustellen. Er besitzt langjährige praktische Erfahrung in der außergerichtlichen Lösung.

http://proksch.work/risikozuweisung-und-interessenausgleich-in-der-praxis-i/

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