Was sagen unsere Statistiken über Infektionszahlen, Inzidenzen und den R-Wert wirklich aus?
Bezugnehmed auf Frage 4 meines Leitartikels vom 31.03.2021 möchte ich mich eingehender mit der zur Zeit wieder omnipräsent geführten Diskussion über Inzidenzwerte als Gratmesser für Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung befassen. Was sagen unsere statistischen Kennzahlen wirklich aus und lassen sich daraus überhaupt dezidierte Maßnahmen ableiten? Auf welcher Basis treffen wir Entscheidungen?
1) Inzidenzen und was man daraus ableiten kann
Grundsätzlich ist die Inzidenz eine statistische Erhebung zur Darstellung der Verbreitung von Infektionen in der Gesellschaft, also dem Verhältnis von Infizierten zur zu schützenden Gesamtbevölkerung. Die Inzidenz hat keinerlei Aussagekraft zur Schwere und Güte von Erkrankungen, den tatsächlich betroffenen Personenkreisen oder der daraus resultierenden Infektionsgefahr für die Bevölkerung. Bei Inzidenzen wird nicht unterschieden zwischen erkannten, nachverfolgten und bereits unterbrochenen Infektionsketten. Eine Inzidenz von 100 kann z.B. bedeuten, dass in einem Kreis mit 100.000 EW ein einziges Ereignis wie eine Hochzeit oder ein Ausbruch in einer Asylunterkunft in den letzten 7 Tagen 100 tatsächlich nachgewiesene Infektionen hervorbringt, ohne dass hierbei eine nennenswerte Gefahr für die breite Bevölkerung entsteht, wenn diese Infektionsketten erkannt und die Infizierten rechtzeitig isoliert werden konnten. Eine transparente und fortlaufende Erhebung, in welchen Kreisen mit einer Inzidenz von über 100 solche Superspreader Events aufgetreten sind, gibt es meines Wissens bis heute nicht. Die Gesundheitsämter fragen die notwendigen Informationen für solche Erhebungen bis heute schlichtweg nicht ab und nur in Einzelfällen werden solche Zusammenhänge eher zufällig bekannt. Dennoch waren solche Massenausbrüche zu jeder Phase der Pandemie maßgeblich am gesamten Infektionsgeschehen beteiligt. Warum sind wir nach 12 Monaten Pandemie nicht in der Lage, diese einfachen Zusammenhänge herzustellen?
Wenn man den gelebten Prozess von Kontaktnachverfolgungen durch die Gesundheitsämter betrachtet, dann ist der Frageprozess insgesamt sehr unverbindlich und rein informativ gehalten. Es wird ganz höflich gefragt was man so getan, wen man getroffen oder ob man an einer Veranstaltung teilgenommen hat. Man konzentriert sich dabei auch nur auf die Infizierten und deren Kontaktpersonen 1. Grades. Jeder kann sich vorstellen, was die Angabe von wahrheitsgemäßen Kontakten im weiteren Verlauf bedeutet. Man vertraut also darauf, dass die Personen am Telefon Namen und Kontaktdaten von Freunden und Bekannten herausgeben, wohlwissend dass diese Personen dann in Quarantäne gehen müssen. Wenn man angibt, dass man z.B. an einem privaten Treffen mit 20 Personen teilgenommen hat, bedeutet das im Zweifelsfall 20 Quarantäneanordnungen und 20 Verfahren wegen Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz. Ist es tatsächlich nur annähernd realistisch, dass hier von den Bürgern wahrheitsgemäß geantwortet wird?
Es dürfte daher nicht überraschend sein, dass unsere Infektionsketten nicht aufgedeckt werden können (80% der Infektionen können keiner Quelle zugeordnet werden). Niemand wird im Zweifelsfall seine Freunde und Bekannte dem Risiko einer Quarantäneanordnung oder eines Gesetzesverstoßes aussetzen. Was wäre, wenn es einen rechtlichen Rahmen mit Immunität und Anonymität für Befragte und auch genannte Personen geben würde, wenn also kein Mensch im Rahmen dieser Kontaktnachverfolgung rechtliche, finanzielle oder freiheitliche Konsequenzen befürchten müsste? Könnten wir dadurch die Bereitschaft zur wahrheitsgemäßen Beantwortung dieser für die Pandemiebekämpfung essentieller Fragen nicht deutlich erhöhen. Wäre nicht an dieser Stelle der Überlegungen auch die Corona App ein adäquates Mittel, um anonymisiert Infektionsketten erfassen und brechen zu können? Ist der Verzicht auf eine verpflichtende Nutzung der App im öffentlichen Raum daher nicht ein eklatanter Verstoß des Staates in Bezug auf seine Schutzfunktion für die Bürger? Wird nicht der Datenschutz in dieser Fragestellung durch die App erst gewährleistet und der Verzicht auf die App stellt eine logische Begrenzung der informationellen Selbstbestimmung dar, wenn durch das Fehlen der anonymen Tracing Technologie die zwingende Notwendigkeit entsteht, telefonisch gegenüber dem Gesundheitsamt persönliche Daten von potentiellen Kontaktpersonen ohne deren Einwilligung herauszugeben? Was bedeutet diese Erkenntnis für die Aussagekraft von Inzidenzen?
Die gesamte Infektionsdynamik basiert auf Mobilität und menschlichen Kontakten, egal ob aus dem privaten oder beruflichen Umfeld. Die Zielsetzung von Kontaktnachverfolgung ist einzig und alleine das Unterbrechen von Infektionsketten und damit die Verhinderung von Kontakten potentieller Virusträger mit neuen Wirten. Wenn also der Prozess zur Kontaktermittlung einen logischen Konstruktionsfehler enthält und wie bisher 80% der Infektionen keiner Quelle zugeordnet werden oder Kontaktpersonen nicht identifiziert werden können, dann verlieren Inzidenzzahlen Ihre sowieso schon begrenzte Aussagekraft. Wenn wir nicht in der Lage sind, festzustellen wie viele Infektionen tatsächlich bei privaten Kontakten zwischen mehreren Haushalten im Nachbarschafts- und Freundeskreis entstehen, mit welcher Begründung rechtfertigt der Staat dann Freiheitseinschränkungen für private Treffen. Auf welcher Faktenbasis begründet sich die vereinbarte Notbremse bei Inzidenz von +100?
Die Antwort ist relativ einfach und kurz: Fehlercode 101: Faktenbasis wurde nicht gefunden
2. Was können wir aus den Modellversuchen wie z.B. in Tübingen lernen?
Tübingen verfolgt eine bundesweit viel beachtete Test- und Öffnungsstrategie, bei der mittels Schnelltests in einer abgegrenzten und engmaschig kontrollierten "Freizone" die Durchseuchung der Gesellschaft analysiert wird. Ziel ist es, die Akzeptanz der Bevölkerung für regelmäßige Massentestungen im Austausch für Freiheitsrechte zu erhöhen. Logische Konsequenz bei diesem "Handel" ist es, dass bisher unbekannte Infektionen aufgedeckt werden und als direkte Folge die Inzidenz ansteigt. Jedoch wird durch das Aufdecken der stillen Infektion im Idealfall eine komplette Infektionskette unterbrochen. Man muss kein Wissenschaftler sein um zu erkennen, dass es einen gesellschaftlichen Mehrwert bei der frühzeitigen Aufdeckung und Unterbrechung von bisher unerkannten Infektionsketten gibt. Gleichermaßen ist unter Berücksichtigung der in Deutschland vorhandenen Datenkultur und der geringen Aussagekraft unserer Statistiken die Angst groß, bei kurzfristig steigenden Inzidenzen und gleichzeitig langfristig fallenden Opferzahlen und Belegungszahlen in Kliniken und deren Intensivstationen das letzte valide Instrument der staatlichen Einflussnahme (Beschluss von Maßnahmen auf Basis Inzidenzzahlen) in der Pandemiebekämpfung zu diskreditieren. Die in der Öffentlichkeit geführte Diskussion dreht sich daher nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Bedeutung für die Pandemie-bekämpfung, sondern lediglich darum ob in Tübingen die Inzidenzen steigen oder fallen und auf Basis der simplen Feststellung von steigenden Inzidenzen wird der Modellversuch pauschal als gescheitert dargestellt. Ist das ein Armutszeugnis der Politik & Wissenschaft? Diese Frage darf sich jeder selbst beantworten, doch unter Berücksichtigung der fatal einseitigen Betrachtung von Inzidenzen und Infektionsquellen vermute ich, muss man egal welchem politischen Lager man sich zugehörig fühlt anerkennen, dass der Staat, Wissenschaft und die Medien an dieser Stelle ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
3. Was bedeutet der sogenannte R-Wert
Erstmal muss man feststellen, dass es einen tatsächlichen R-Wert eigentlich nicht gibt, bzw. dessen Berechnung nicht auf Tatsachen sondern hochkomplexen Modellrechnungen beruht. Die Berechnung des R-Werts erfolgt vereinfacht gesagt nach folgendem Schema:
<Natürlicher R-Wert des Virus> - <Wirkung Maßnahme 1-n> - <Effekt sonst. Einflüsse>
Der natürliche R-Wert lässt sich am Anfang einer Pandemie relativ einfach statistisch errechnen, da dort die tatsächlichen Ansteckungs- und Ausbreitungszahlen ohne Einfluss von Vorbeugungs- und Eindämmungsmaßnahmen erkennbar sind.
Die Wirkung von einzelnen Maßnahmen wird in einem mathematischen Modell berechnet. Das bedeutet, dass z.B. Masken ein spezifischer negativer R-Wert zugewiesen wird. Das gleiche macht man für Abstandsregeln, Hygienevorschriften, Lockdown und alle anderen Regularien der Pandemiebekämpfung.
Der tatsächliche R-Wert errechnet sich demnach unter der Annahme, dass die Maßnahmen gemäß Modellrechnung von der Bevölkerung akzeptiert und befolgt werden. Glaubt jemand wirklich, dass die Akzeptanz und Befolgung der einzelnen Maßnahmen in der Bevölkerung messbar oder berechenbar ist? Haben nicht vielmehr einzelne Ereignisse und die zentrierte Berichterstattung in den Medien massiven Einfluss auf die Wahrnehmung der Menschen und damit auf die Konsequenz bei der Umsetzung bzw. Einhaltung von Maßnahmen? Wie sieht die Realität aus? Nehmen wir als Beispiel die Beschränkung von Treffen auf 2 Haushalte. Während diese Kontaktbeschränkung am Anfang der Pandemie von einem Großteil der Bevölkerung befolgt wurde und tatsächlich jeder Einzelne darauf geachtet hat, mit wem man sich trifft, ist die Situation nach 12 Monaten doch völlig anders. Heute treffen sich die Menschen unter Einhaltung der Regeln einfach 5x am Tag mit je einem Haushalt, gut organisiert und für Überschneidungen mit einem komplexen Ausredenkatalog unterfüttert. Am Ende macht es aber nur einen geringen bis keinen Unterschied, ob ein Virusträger über den Tag verteilt 50 Personen trifft, oder bei einem Fest 50 Personen auf einmal anwesend sind. Dem Virus ist es tatsächlich egal, wie viele Personen anwesend sind. Er nimmt einfach jeden Kontakt dankend an und frisst sich dadurch tief in die Gesellschaft. Abschließend kann man zum Thema R-Wert feststellen, dass die Aussagekraft der Berechnung essentiell von der Akzeptanz in der Bevölkerung für die einzelnen Maßnahmen abhängt und diese Akzeptanz und Befolgung schichtweg nicht plausibel berechnet werden kann.
In der Gesamtbetrachtung zur Fragestellung, was Infektionszahlen, Inzidenzen und R-Wert wirklich bedeuten steht an Ende der Gedankenreise ein großes NICHTS. Vielmehr müssen wir leider feststellen, dass Staat und Bevölkerung eine gemeinsame Verantwortung bei dem Umgang mit Pandemien haben. Wer verantwortet was und wer trägt die Konsequenzen?
Zentrale Aufgaben des Staates:
- Schutz der Bevölkerung vor Infektionsgefahren
- Definition von adäquaten Schutzmaßnahmen und deren Gültigkeit
- Schaffung von Rechtssicherheit (für alle Beteiligten im Prozess)
- Kontrollmechanismen inkl. Datenerhebung & -auswertung
- Infrastruktur für Behandlung, Unterbringung, Impfung und Testung
Zentrale Aufgaben der Bürger:
- Einhaltung der Schutzmaßnahmen
- Wahrheitsgemäße Mitwirkung bei Aufklärung und Nachverfolgung
- Vermeidung und ggf. Meldung von potentiellen Gefahrenlagen
Konsequenzen für Bürger bei Nichterfüllung der Aufgaben:
- Einschränkung der Freiheitsrechte
- Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren
- Zerstörung von persönlichen Beziehungen in Familie und Freundeskreis
- Verlust des Arbeitsplatzes
- Verlust der Informationellen Selbstbestimmung
Konsequenzen für Staat, Staatsdiener und deren regionale Entscheidungsträger
- NICHT VORHANDEN
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3 JahreIhre bisherigen 5 Artikel sind wirklich sehr gut, weiter so
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3 JahreExcellent!
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