Seemannsgarn in der Washington Bar

Seemannsgarn in der Washington Bar

In der Adventszeit werde ich immer etwas rührselig. Gestern zum Beispiel. Ich schaute mir mal wieder "Home Alone" an. Wie konnte ich nur die Szene vergessen, in der Kevin dem Nachbarn Marley rät, doch Bitteschön mal wieder mit seinem Sohn zu sprechen. "What if he won't talk to me?", fragte Marley? "At least you'll know. Then you could stop worrying about it. You won't have to be afraid anymore. No matter how mad I was, I'd talk to my dad. Especially around the holidays". Natürlich hat Marley seinen Sohn angerufen. Und ich musste mir eine Träne wegwischen. Für mich das die perfekte Unterhaltung zur Weihnachtszeit – und auch ein wenig Familienersatz.

Beim letzten gemeinsamen Weihnachtsfest mit meinen Eltern war ich 17. Nach dem Tod meiner Mutter war mir Weihnachten erst einmal nicht wichtig. Ich vergrub mich in mir selbst hinter einer hübschen Fassade. Während mein Vater in dem Alter schon die halbe Welt gesehen hatte, kenne ich nur meinen inneren Keller. Es dauerte eine Weile, bis ich Weihnachten wieder halbwegs klassisch verbrachte.

Für Heinz Blank ist es Anfang der 50er Jahre dagegen Normalzustand, nicht klassisch Weihnachten zu feiern. Er ist noch keine 20 und kennt bereits alle wichtigen Häfen in Europa, Südamerika und Asien. Zu der Zeit ist man mehrere Tage und nicht nur wenige Stunden in den Städten. Zu Weihnachten gibt es etwas mehr Heuer. Oft wird einfach auf See gefeiert. Er bringt sich selbst Spanisch und Englisch bei. Er hat immer ein Wörterbuch in der Tasche, um sich ein Wort zu übersetzen, was er nicht versteht. So kann er bald mit seinen Kameraden auch die Weihnachtslieder in deren Sprache singen.

An Bord liest er, was er in die Finger bekommt. Und erzählt selbst viele Geschichten. An Land findet er so schnell Anschluss – vor allem weiblichen. Auf dem Weg in die Hafen-Kneipen nimmt er seine Mütze ab, holt den Kamm aus der hinteren Tasche und bändigt sein blondes Haar. Wenn die Stimmung gut ist, nimmt er seine Mundharmonika und spielt Shanties. Schnell fällt der Satz "Ich liebe Dich", den kennt er in allen Sprachen. Und er meint es auch immer so, wenigstens für ein paar Tage, bis sein Schiff wieder ablegt. In Montevideo wird ihm das fast zum Verhängnis: Als er ein paar Monate nach einer Liebelei wieder in der Hauptstadt Uruguays ankommt, warten mehrere Männer mit Messern auf ihn. Es sind Verwandte seiner Romanze. Sie wissen, dass es in Hamburg eine andere gibt. Also bleibt er lieber an Bord.

Auf einer Tour nach Asien fängt er sich in den Philippinen Tuberkulose ein. Die Behandlung braucht Zeit, er bleibt mehrere Wochen im Krankenhaus. Mit Schiffen und Zügen geht es dann im Sommer 1954 zurück nach Europa. In der Schweiz befindet er sich zur Erholung auf einer Kur. Er nutzt die Zeit und fährt nach Bern. Er will das Endspiel zwischen Deutschland und Ungarn sehen und fühlt sich danach selbst wie ein Fußballweltmeister. Später erzählt er, dass er in fast allen Ländern war, die einen Seehafen haben – außer in Japan und Australien. Was er dort erlebt hat, erzählte er wiederum nur selten. Aber ich fand irgendwann eine Kiste mit Briefen in vielen Sprachen – und mit vielen Herzen.

Wieder Zuhause wird er befördert, er wird zum Steuermann auf großer Fahrt ausgebildet. Die Schiffe können nicht groß genug sein, die er sicher über die Ozeane bringt. Offizier soll er werden, vielleicht sogar Kapitän. Doch das Leben schlägt manchmal Kapriolen.

In der Washington Bar arbeitet zu der Zeit eine hübsche Bedienung. Sie hat den Laden und die Gäste im Griff. Manchmal lässt sie dort ihren Bekannten Freddy Quinn für ein paar Getränke singen. Mein Vater ist immer wieder dort, die Bedienung aber vergeben. Doch sie freunden sich an. Wenn er in Hamburg ist und keine Lust aufs Seemannsheim hat, besucht er sie in der Washington Bar. Er erfährt, dass sie von ihrem Kerl verlassen wurde und jetzt zwei Kinder alleine durchbringen muss. Also fragt er sie, warum sie nicht ihn einfach heiratet. Dann haben die Kinder einen Vater - und sie einen Mann, der sich kümmert. Sie sagt ja, es ist also abgemacht.

Im nächsten Mobilsten geht die Reise meines Vaters ganz weihnachtlich zu Ende.

Meggi Krieger

Sozialraummanagement

1 Woche

Was für eine Schatzkiste ...

Dr. Anton Notz

Unternehmenskommunikation/Finanzkommunikation/Krisenkommunikation/Nachhaltigkeitskommunikation

1 Woche

Mehr als nur eine schöne Geschichte. Ist ja ein Teil deiner Biografie, lieber Gerd. Liest sich trotzdem wie eine Storyline und verlangt nach mehr.

Kolja Kassner

Cloud shifter, daddy, hubby and Chief Business Development Officer bei CANUSA TOURISTIK GmbH & Co. KG

2 Wochen

Ich bin auch für den gewünschten Roman von dir. So schön, dir zuzulesen, Gerd 🥰

Yvonne Reinshagen

Project Manager INTERNORGA

2 Wochen

Lieber Gerd, ich warte auf den Roman! Würde ich gern lesen. Liebe Grüße an Dich und Steffi ❤️

Rainer Schuler

Abteilungsleiter SPS Smart Production Solutions bei Bertrandt Group mit Fokus auf Prozessoptimierung #gerneauchperdu

2 Wochen

Moin Gerd, wow klasse Story. Da bin ich schon auf die Fortsetzung sowas von gespannt. Schöne Weihnachten und einen schönen Start ins Jahr 2025.

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