Gruß an Bord
Auf kleiner Fahrt

Gruß an Bord

Die Weihnachtszeit ist für mich immer eine kurze Pause, in der ich innehalte. Der Blick geht zurück, manchmal weit über das laufende Jahr hinaus. Ich erlaube mir eine große Portion Sentimentalität. Momente aus meiner Kindheit kommen dann mit großer Wucht zurück. Doch statt Teil des Ensembles bin ich nun Beobachter. Der Abstand tut gut, die eigene Geschichte darf neu erzählt werden. Ganz ohne Schwermut, ohne Gram. Es sind die Highlights, die ich mir ins Gedächtnis rufe. Die gruseligen Momente, nein, die muss ich nicht erneut erleben. Die sind eh ein Teil meiner Programmierung. Mit neuer Perspektive sorge ich dafür, dass die schönen Erlebnisse mein Innerstes in die Balance bringen. Gleichwohl ist es eine Ortsbestimmung. Wo gehöre ich hin?

In den vergangenen Jahren verbrachte ich Weihnachten häufig im Ausland, mal in Portugal, mal in Italien, mal in Dänemark. Meine Frau und ich haben dafür immer eine Lichterkette und ein, zwei Weihnachtskugeln dabei, um auch mal aus einer Palme oder ein paar Ästen einen Weihnachtsbaum zu machen. Das Reisen öffnet den Horizont. Immer wieder neue Menschen und neue Orte halten den Kopf auf Trab. Doch das ständige Suchen nach dem richten Platz im Leben lenkt auch ab. Je länger die Reise dauert, desto größer wird die Sehnsucht nach einem Heimathafen.

So ist es auch meinem Vater ergangen. Nach vielen Jahren auf See ist es Zeit, einen Anker zu setzen. Anfang der 1960er geht er von Bord der großen Schiffe. Die Liebe zu seiner Frau ist größer, als die zum Meer. Hamburg wird zum Mittelpunkt seines Lebens, die fernen Länder werden zur Erinnerung. Doch ganz ohne Wasser unterm Mors geht es nicht, also heuert er im Hafen an. Statt auf den Weltmeeren fährt er auf der Elbe. Die großen Pötte fährt er nicht mehr selbst, sondern nur noch mit seiner Barkasse an ihnen vorbei.

Weihnachtsaufführung im Treppenhaus

Seine Welt ist jetzt die Familie. Es kommen zwei weitere Kinder dazu. Große Sprünge sind nicht drin. Aber uns Kindern fehlt es an nichts. In der Adventszeit organisieren meine Eltern kleine Aufführungen mit den Nachbarskindern. Wir verkleiden uns, halten Kerzen in den Händen und singen Lieder, während die Erwachsenen mit Glühwein zuschauen. Heiligabend schmückt mein Vater im Wohnzimmer den krummen Baum, den er auf dem letzten Drücker günstig besorgt. Meine Mutter trägt ihre geblümte Schürze und bereitet in der Küche das Essen zu. Auf der Fensterbank dreht die hölzerne Weihnachtspyramide ihre Runden über den Kerzen. Die Tür zum Wohnzimmer ist verschlossen, bis die Weihnachtsglocke geläutet wird. Dann dürfen meine Geschwister und ich in die Stube. Wir erfüllten die Erwartung und sagen alle brav "Ah" und "Oh". Allerdings interessieren wir uns kaum für das großzügig verteilte Lametta, das Engelshaar, die alten Kugeln und die vergilbten Lichterketten, die von Jahr zu Jahr immer dunkler werden. Unser Blick wandert unter den Baum auf die eingepackten Geschenke.

Im Hintergrund läuft die Musik von Mahalia Jackson oder Freddy Quinn. Wir bekommen praktische Geschenke. Eines der Pakete ist immer ein Gemeinschaftsgeschenk für uns alle, meistens ein Gesellschaftsspiel, welches wir gleich zusammen spielen. Nach der Bescherung gibt es noch Kartoffelsalat mit Würstchen, meine Eltern haben zu der Zeit ihr zweites Glas Wein in der Hand. Und dann wird das Radio angestellt, wir müssen ruhig sein. In den nächsten Stunden ist "Gruß an Bord" auf Sendung, die Weihnachts-Botschaften für Seeleute aus aller Welt. Immer wenn mein Vater gerührt ist, muss er kichern. Tränen waren in seinem Elternhaus tabu. Es wird also viel gekichert, wenn Ehefrauen ihren Männern per Radio erzählen, wie sehr sie vermisst werden. Auch meine Mutter hatte einst Grüße um die Welt geschickt, wenn mein Vater zu Weihnachten wieder einmal auf hoher See war. So schwelgen wir zu Weihnachten auch immer in Erinnerungen.

Unser Haus ist immer voll und laut. Meine Cousine ist bei uns eingezogen, ein Opa ebenfalls. Wir haben sogar noch genug Platz für einen Studenten aus Afghanistan, der für ein Jahr bei uns wohnt. Der große Tisch im Esszimmer ist während der Weihnachtszeit das Zentrum unseres Familienlebens. Es kommen Nachbarn und Freunde dazu, wir sprechen laut, essen viel. Mein Vater schaut sich das Treiben mit einem breiten Lächeln an. Und irgendwann ist es dann soweit, er holt seine alte Mundharmonika raus, spielt Stücke wie "La Paloma" oder "Junge, komm' bald wieder", die seit dem für mich immer auch Weihnachtslieder sind.

Mein Vater hat seinen Heimathafen gefunden. Doch die großen Schiffe, die lassen ihn nicht los. Ich weiß damals nicht, dass es unser letzter Kinobesuch ist. Wir sehen uns "Titanic" an. Ich höre ihn immer wieder leise kichern. Ich schaue von der Seite in sein Gesicht und könnte wetten, dass seine Augen feucht sind.



Meggi Krieger

Sozialraummanagement

1 Woche

Sooo schön!

Thomas Meyer

ADRIA HOME DEUTSCHLAND Glampingexperte.de. Luxuriöse Ferien-Unterkünfte, die unvergessliche, naturnahe Urlaubs-Erlebnisse schaffen. #closertonature

1 Woche

Danke Gerd für die Teilhabe an Deiner Geschichte. Herzerwärmend und auf eine besondere Art norddeutsch weihnachtlich. Hab schöne Weihnachtstage 🖤⚓️☠️

Rainer Schuler

Abteilungsleiter SPS Smart Production Solutions bei Bertrandt Group mit Fokus auf Prozessoptimierung #gerneauchperdu

1 Woche

Moin Gerd, da stehen mir aber auch die Tränen in den Augen. Danke für die schöne Weihnachtsgeschichte,- Deines Lebens. CU next Year.

Kolja Kassner

Cloud shifter, daddy, hubby and Chief Business Development Officer bei CANUSA TOURISTIK GmbH & Co. KG

1 Woche

So schön. Sentimental. Weihnachtlich. Danke für's Teilen, Gerd 🎄

Danke für diesen tollen Artikel. Der zeigt was auch in meinem Herzen zählt. Ich wünsche Dir und Deinen Lieben wunderbare Weihnachten und freue mich auf ein Wiedersehen! Lieben Gruß Flow

Zum Anzeigen oder Hinzufügen von Kommentaren einloggen

Ebenfalls angesehen

Themen ansehen