Spiegel der Seele

Spiegel der Seele

Tja, es war alles anders :-)

In jener Zeit, in der Himmel und Erde erschaffen wurden, stand das Licht noch wie ein Ozean über der Welt, und die Schatten hoben sich ab wie sachte Wellen im Wind. Es gab keine Nacht und keinen Tag, kein Oben und kein Unten, sondern nur ein riesiges Gewebe aus Farben, Formen und Schwingungen, in denen alles miteinander tanzte. Und mitten in diesem Tanz entstand der Mensch.

Als das Licht und die Dunkelheit sich das erste Mal trafen und das Universum seine Augen öffnete, war der Mensch geboren. Doch er war weder weiblich noch männlich, sondern eine Gestalt aus reiner Essenz, in ihm vereint alle Möglichkeiten, alle Facetten des Seins. Der Mensch konnte alles spüren, jede Regung, jede Sehnsucht, jede Furcht, die in ihm ruhte. Doch so intensiv das Leben in ihm pulsierte, so fremd und unergründlich war er sich selbst. Und die Schöpfer, die den Menschen erschaffen hatten, betrachteten ihn in stillem Erstaunen.

"Warum fühle ich mich allein?" fragte der Mensch irgendwann in die Weiten des Universums, und die Antwort kam in der Form einer sanften, kaum hörbaren Stimme.

"Du fühlst dich allein, weil du dich selbst nicht kennst. Um dich selbst zu erkennen, sollst du in die Welt hinausgehen, und damit du dich wirklich erkennen kannst, werden wir dir Begleiter geben – Geschöpfe, die aus dir selbst stammen."

Und so geschah es, dass der Mensch in all seinen Eigenarten, Stärken und Schwächen in die Tiere gegossen wurde. Die erste Schöpfung aus dem Menschen war der Löwe, kraftvoll und stolz, mit einem Herzen, das für Mut und Kühnheit schlug. Als der Mensch ihn sah, erkannte er etwas in sich, was er bis dahin nicht gewagt hatte zu benennen: seine eigene Stärke, sein eigener Stolz.

Dann wurde der Adler geboren, und der Mensch sah, wie der mächtige Vogel die Lüfte durchbrach, hoch oben, unberührt von der Erde, doch mit scharfen Augen, die alles erfassen konnten. Der Mensch spürte in sich den unstillbaren Drang nach Freiheit, das Bedürfnis, die Welt aus der Ferne zu betrachten, losgelöst von der Nähe der Erde.

Ein zarter Reh wurde erschaffen, in dessen Augen die Ruhe und der Frieden einer tiefen, stillen Seele lebten. Der Mensch sah sich selbst in dieser Sanftheit und erkannte, dass auch in ihm eine Zerbrechlichkeit wohnte, die er zuvor nicht bemerkt hatte, eine zarte Sehnsucht nach Frieden, nach Ruhe in einer chaotischen Welt.

Der Wolf, der aus dem Schatten der Dämmerung trat, mit einem Rudel an seiner Seite, das ihm die Treue schwor, zeigte dem Menschen seine Sehnsucht nach Verbundenheit, nach Loyalität, nach dem Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein.

Und so ging es weiter: jedes Tier, das die Schöpfer erschufen, war ein Teil des Menschen, ein Stück seines inneren Wesens, das er durch die Tiere nun mit anderen Augen betrachten konnte. In jedem Tier lag eine Wahrheit über den Menschen verborgen, und in jedem Blick, den er ihnen schenkte, fand er eine Facette seiner eigenen Seele.

Mit der Zeit begann der Mensch, in den Wäldern, über den Wiesen und in den Lüften nach Antworten zu suchen. Die Vögel, die wilden Raubtiere, die sanften Geschöpfe der Erde – all diese Geschöpfe waren nun seine Lehrer, und jeder von ihnen trug eine Lektion in sich. Der Mensch erkannte, dass er nicht getrennt war von dem, was um ihn herum existierte, sondern dass die Welt ein Spiegel war, in dem er sich selbst entdecken konnte.

Doch eines Tages, als er auf einer Lichtung inmitten des Waldes stand, spürte er eine Leere, die ihm noch unbekannt war. „Warum sehe ich so viele Teile von mir, aber doch nicht das Ganze?“, fragte er die Tiere um ihn herum. Doch sie blickten nur in Stille zurück, und er wusste, dass er seine Antwort woanders finden musste.

Da trat eine letzte Schöpfung hervor – ein Wesen, das weder Löwe noch Wolf, weder Adler noch Reh war. Dieses Wesen war der Mensch selbst, ein Spiegelbild seiner selbst, aber mit Augen, die voller Geheimnisse und tiefem Wissen funkelten.

„Wer bist du?“ fragte der Mensch und spürte die Ehrfurcht, die von diesem Abbild ausging.

„Ich bin du“, antwortete das Wesen mit einer Stimme, die wie der Widerhall der eigenen Gedanken klang. „Ich bin das, was du sehen kannst und zugleich das, was du nicht zu erfassen vermagst. Denn so wie die Tiere dir Teile von dir offenbaren, so bleibt doch ein Teil immer im Verborgenen. Deine Suche wird niemals enden, denn jedes Mal, wenn du glaubst, dich selbst gefunden zu haben, wirst du noch tiefer suchen müssen.“

Der Mensch begriff, dass seine Reise niemals eine endgültige Antwort finden würde. Doch diese Einsicht brachte ihm Frieden, denn er wusste nun, dass das Abenteuer des Lebens genau in dieser Suche lag – im ständigen Blick in den Spiegel der Natur, in den Tieren, in allem, was existierte.

Und während er über diese Erkenntnis nachdachte, erhob sich die Welt um ihn herum wie eine Melodie. Die Tiere, die Winde, die Sterne – alles vereinte sich in einem großen Gesang, und der Mensch stand mitten darin, mit dem Wissen, dass er ein Teil davon war und zugleich ein Wanderer, ein Suchender auf einem ewigen Pfad.

So wurde der Mensch zur Geschichte seiner selbst, und in dieser Geschichte lebte die Welt, und wer sagt das?🙃

Was hätten wir ohne Fantasie getan?

Ram Bremen, den 04.11.2024.

.

Zum Anzeigen oder Hinzufügen von Kommentaren einloggen

Ebenfalls angesehen

Themen ansehen