Systemischer Realkonstruktivismus - Die Bausteine der Kommunikation

Seit Jahrzehnten wird in der Komplexitätsforschung nach den "Bausteinen der Komplexität" gesucht. Stephen Wolfram ist sich seit über zwanzig Jahren sicher, dass es sie geben muss. Marvin Minsky nannte sie "Agens". John Conway zeigt mit seinem "Game of Life", dass und wie sich Automatentheorie dafür nutzen lässt, "Spiele", also Sets von Regeln, zu untersuchen.

So setzt neuere Komplexitätsforschung auf den Arbeiten von Norbert Wiener, Stanislaw Ulam u. a. auf, um unter anderem herauszufinden, ob es solche "Bausteine der Komplexität" gibt, wie sie sich zusammensetzen und wie sie sich in ihrem Zusammenspiel verhalten.

Wer das herausfindet, hält den Schlüssel in den Händen, komplexe Systeme nach den Spielregeln ihrer Entscheidungen zu untersuchen und von dort abzuleiten, wie sie sich unter spezifischen Verbindungen verhalten - und mehr.

Niklas Luhmann hat in den 80ern mit seiner "Theorie Sozialer Systeme" den erneuten Anschluss der Soziologie und Kommunikationsforschung an die Mathematik gewagt:

Indem er Kommunikation als Entscheidungssystem anlegt, noch dazu als autopoietisches, und über das und andere Merkmale als komplexes lebendes System, hat er - vermutlich ohne das Ausmaß der Folgen zu ahnen - Soziale Systeme mitten in die Erforschung von Leben und Komplexität katapultiert.

Angeregt durch den (nicht nur) formlogischen Gedanken, dass in aller Erkenntnis zuerst mal irgendwas unterschieden wird, hat er für Systemtheorie einen ersten Unterschied gesetzt, nämlich den, dass sich Systeme aus ihren Umwelten heraus unterscheiden. Soweit, so bekannt, nur hier nochmal formlogisch markiert und auf Soziale Systeme übertragen.

Manche Systeme tun das so, dass sie dabei harte Grenzen ausbilden, über die keine Information mehr aus ihrer Umwelt in sie eindringen kann. Sie funktionieren energetisch zwar offen, informationell aber geschlossen. Sie können von Umwelt aus nicht Punkt-zu-Punkt manipuliert werden, nur orientiert - oder destruiert. Die Idee dazu kam vor über vierzig Jahren von Humberto Maturana, der das für biologische Systeme festgestellt hat. Er nannte das "Autopoiese", was soviel bedeutet wie "Reproduktion anschlussfähiger Elemente". Ein Begriff, der es in sich hat ...

Kommunikation selbst wurde bei Luhmann zum Element Sozialer Systeme, und diese Idee hat im Anschluss für einige Verwirrung gesorgt. Plötzlich schien der Mensch aus Kommunikation entfernt, hatte nichts mehr mit ihr zu tun.

Das war natürlich ein Fehlschluss. Luhmann selbst hat immer wieder betont, dass es keine Kommunikation ohne Menschen gibt und dass zum Beispiel Emotionen als Ausdruck von Gefühlen eine wichtige Rolle in den meisten Kommunikationsprozessen spielen. Wohlgemerkt: Das Mitteilungsverhalten kann kommunikativ relevant werden. Wie allerdings, das steht auf einem anderen Blatt.

Die Gefühle gehören zu einem anderen autopoietischen, einem anderen komplexen lebenden System: Psyche. Kommunikationssysteme fühlen, empfinden, denken nicht, sie kommunizieren.

Luhmann wollte sich ansehen, wie sich Kommunikation organisiert. Er fand das komplex und autopoietisch, dass also zum Beispiel Gedanken nicht einfach so in Kommunikation fortgesetzt werden. Es gibt sie da nicht. Nur in Psychen. Kommunikation kann Anregungen aus ihrer Umwelt als Themen prozessieren. Sie kann aber nicht denken.

Der wichtige Punkt daran wird schnell über eine Frage klar, nämlich:

Was nutzen Kommunikationssysteme, um zu tun, was sie tun?

Woran/worin baut sich ein Wirbelsturm auf?

Umwelt!

Und da finden wir Psychen in Umwelt von Kommunikation - und, wenn auch als unscharfes Konzept und als beliebtes Thema von Kommunikation, den Menschen.

Aber eben nicht nur.

Kommunikation funktioniert nach Luhmann als dreifache Selektion aus Information, Mitteilen und Verstehen.

Das müssen wir ein bisschen korrigieren, denn auch wenn alle Elemente komplexer lebender Systeme Informationscharakter für ihr System haben, entscheidet doch das Gesamtsystem, wie und woran es diese verbaut, wie es selektiert, wie es sich selbst informiert.

Was für Kommunikation leicht erklärt ist: In Umwelt von Kommunikation passieren Geräusche, Phänomene, Sachen, Zeug, da schwirrt jede Menge durch die Gegend. Und genauso wie Umweltphänomene unsere Gedanken anregen, aber nicht machen können, sondern unsere Psychen an Gedanken und Umweltanregungen weitere Gedanken formen, macht das Kommunikation mit ihrer Umwelt und sich selbst.

Das kann jeder leicht nachvollziehen: Wenn zehn Leute im Raum miteinander reden, sitzt nicht nur die halbe Gesellschaft in Sachen Konditionierungsmuster, privater Ärger und kulturelle Vorlieben und Abneigungen mit im Raum, sondern auch längst nicht jedes Mitteilungsverhalten wird mitgenommen, längst nicht jede Meinung wirkt orientierend, längst nicht jedes Verstehen ist für die Folgekommunikation interessant. Es können sogar Leute mit im Raum sein, die sind gar nicht im Raum - an der Meinung des Chefs im Urlaub kann sich die ganze Kommunikation so rhythmisieren, als wäre da tatsächlich ein Sergeant Drillmaster da, der sagt: "Alles auf mein Kommando!"

Und "Kommunikation" meint hier eben nicht mehr als: Welches Mitteilen, welches Meinen, welches Verstehen wird hier wie mitgenommen und wie bezieht sich Kommunikation auf Kommunikation. Wir müssen also ihrer Entwicklung zusehen, um entscheiden zu können, wie das jeweilige System nun entschieden hat. Ich kann ja lange den Mund auf und zumachen, das heißt noch nicht, dass das Kommunikationssystem das auch aufgreift ... Oder damit macht, was mir dazu durch den Kopf schwirrt. Ich muss ihm zusehen, aufpassen, analysieren, was es tut, um halbwegs funktional bestimmen zu können, was da vor sich geht, wie Kommunikation sich auf Kommunikation bezieht und sich organisiert.

Wir korrigieren Luhmanns Element-Begriff auf:

dreifache Selektion aus Meinen, Mitteilen und Verstehen und haben damit zusammen, woran sich Kommunikation genau verbaut: Woran selektiert und verbindet/verbaut sie wie ihre Elemente?

Meinen - Mitteilen - Verstehen.

Damit haben wir einen Baustein von Kommunikation gefunden: Die Verbindung dieser Drei. Nicht die Drei selbst. Nur die Verbindung, die Auswahl. Das hat Luhmann auch schon so vorgedacht. Das ist nicht neu.

Meinen, Mitteilen und Verstehen passieren in Umwelt von Kommunikation. Psychen können etwas meinen. Aber, Kommunikation kann durchaus etwas für "Meinen" halten, das ist in keiner Psyche passiert. Jemand räuspert sich, und das wird als Mitteilungsverhalten interpretiert, Kommunikation greift das auf, und es kommt zu einem Konflikt, dabei war das Räuspern nur eine Reaktion auf ein Halskratzen.

Was jetzt kommt allerdings, das ist neu:

Indem wir die Forschung Luhmanns mit einer eigenen Formlogik verbinden (mit der von Spencer-Brown geht das nicht) und an die Komplexitätsforschung von Ulam, Conway, Wolfram, Ilachinski und natürlich damit auch an Turing, Cook und viele andere aufschließen, können wir

6 Bausteine von Kommunikation

als dreifach selektive FORMen abbilden.

Wir beschreiben Kommunikation als komplexes lebendes Entscheidungssystem dreifach selektiver FORMen.

Wir bringen hier geistes- und naturwissenschaftliche Forschung über Mathematik zusammen und erhalten so die Möglichkeit, Bausteine komplexer Entscheidungssysteme in/mit/über ihre/n Kombinationsmöglichkeiten zu untersuchen.

Und weil wir das mathematisch tun, haben wir darüber die Möglichkeit uns zum Beispiel am Computer anzusehen, was bestimmte Kommunikationssysteme unter bestimmten Bedingungen, also in bestimmten Kontexten und mit spezifischer FORM tun.

Mit einer FORMalen mehrwertigen Rekursionslogik können wir den Entscheidungsprozessen komplexer Entscheidungssysteme im Allgemeinen und den Entscheidungsprozessen und der Selbstorganisation komplexer lebender Systeme im Besonderen folgen.

Nichts kann uns vorhersagen, was ein komplexes lebendes System auf den Punkt tut: Wir müssen dem System dabei zusehen.

Wir brauchen also Systeme, die universelle Merkmale komplexer lebender Systeme aufweisen und die denselben Spielregeln folgen, damit wir solchen Systemen dabei zuzusehen können, wie sie sich entwickeln.

Das können wir über unsere Forschung.

Die 6 Bausteine dreifach selektiver Entscheidungssysteme, beziehungsweise die 6 FORMen lassen sich lesen und auf Kommunikation direkt anwenden, und wir können Computeremulationen komplexer lebender Systeme zusehen und von dort lernen, was Kommunikationssysteme spezifischer FORM tun.

Daraus haben wir schon viel erfahren. Nach und nach werden wir das in diesem Buch ausarbeiten.

Es ergibt Sinn, dass sich auch Kommunikationssysteme nach bereits aus der Natur bekannten Mustern entwickeln, wie Sinn ergibt, dass unserer Spezies spezifische Mustererkennung inne ist.

Bei Dave Snowden konnten wir übrigens kürzlich auf Linkedin lesen, dass er ebenfalls auf der Spurensuche nach Mustern von Komplexität in der Natur ist. Suchen allerdings reicht nicht: Solche Muster können nicht nur gefunden werden. Uns muss gelingen, Systeme zu konstruieren, die eine eigene Historie entwickeln, der wir zusehen können, um zu erfahren, wie sie sich verhalten. Für Kognitions- und Kommunikationssysteme müssen wir dafür die transdisziplinäre Brücke bauen.

Mit einer Wissenschaft allein kommen wir hier nicht aus. Wir müssen zusammenführen und von dort aus darüber hinaus.

Kommunikation als komplexes lebendes System zu begreifen, schließt uns Analysemöglichkeiten auf, die vermutlich für viele deutsche Systemtheoretiker und Nachfolger Luhmanns sich unangenehm präzise anfühlende Schlüsse zulassen.

Doch, keine Sorge: Daraus folgt nicht, dass Komplexität abgeschafft ist. Die Freiheit, die mit Unbestimmtheit kommt, gilt weiterhin. Aber, sie hat Grenzen, wie eben auch nicht jede xbeliebige Meinung wertvoll ist, sondern wir bereits geistige, rationale Regeln zum Beispiel aus dem logischen Positivismus kennen, die manche Argumente wert(e)voll machen, andere nicht. Daran hat die Systemtheorie nichts geändert, im Gegenteil: Sie setzt darauf auf.

Mit unserer Forschung schließt die soziologische Systemtheorie naturwissenschaftlich und mathematisch auf und nimmt dabei Unbestimmtheit als Konstante(?) in ihren Kalkül mit auf.

Die sechs Bausteine oder FORMen von Kommunikationssysteme ergeben sich über die Art und Weise, wie sich Kommunikation organisiert:

Worauf hat sie ihren Fokus? Auf Meinen oder Mitteilen oder Verstehen?

Wie bezieht sie sich auf sich selbst? Über Mitteilen, Meinen oder Verstehen?

In welchem Kontext tut sie das? Von Verstehen, Meinen oder Mitteilen?

Daraus ergeben sich diese sechs Grundbausteine:

Meinen/Mitteilen/Verstehen - Meinen/Verstehen/Mitteilen

Mitteilen/Meinen/Verstehen - Mitteilen/Verstehen/Meinen

Verstehen/Meinen/Mitteilen - Verstehen/Mitteilen/Meinen

Und aus den insgesamt 64 Kombinationsmöglichkeiten ergibt sich die ganze Bandbreite menschlicher Kommunikation, die wir jetzt en detail untersuchen können.

Dabei konnten wir schon einmal drei Gruppen von Kommunikationssystemen mit steigender Komplexität unterscheiden:

  • Monotonisierende Systeme
  • Rhythmisierungen
  • co-kreative Sinnsysteme

Jede Gruppe erfüllt spezifische Funktionen. Entlang dieser Funktionen können wir ihre Funktionalität in ihren entsprechenden Kontexten untersuchen, um zu entscheiden, ob wir dieser Selbstorganisation des Systems folgen wollen oder ob wir versuchen werden, das System in eine andere Richtung zu orientieren.

Dabei spielen menschliche Fähigkeiten eine gewaltige Rolle, denn wir können zeigen, dass insbesondere die Gruppe der co-kreativen Sinnsysteme mit einigen Voraussetzungen kommt: Sie benötigt Menschen, relativ stabil fähig zu höherem Komplexitätsmanagement oder Strukturen, Verträge, Aushandlungen im Hintergrund, die das systemisch ermöglichen.

Co-kreative Sinnsysteme benötigen Pogofähigkeit.

Wenn Sie uns also über "Pogofähigkeit" reden hören, können Sie davon ausgehen, dass wir diese Fähigkeit wichtig finden, weil sie nötig ist für co-kreative Sinnsysteme und weil ihr Fehlen solche Systeme unwahrscheinlicher macht.

Co-kreative Sinnsysteme sind unter den drei Gruppen die kleinste. Sie sind vergleichsweise selten. Sie kennzeichnen sich dadurch, dass sie sich selbst als Kommunikationssysteme reflektieren. Das ist keine Kleinigkeit, sondern eine wichtige Reflexionsleistung, die einiges fordert. Wir werden im Detail zeigen, was das unter anderem dafür bedeutet, wie solche Systeme im Vergleich zu allen anderen mit Brüchen in ihrer Selbstorganisation umgehen. Hier gibt es unter anderem etwas zu Demokratie und Selbsterhalt antifragiler Kooperationssysteme zu lernen.

Entlang der Kombinatorik der FORMen können wir nicht nur Funktionalität des jeweiligen Systems bewerten, sondern auch die sehr wichtige Frage stellen, was die Menschen können und brauchen, um niemanden mit Ansprüchen zu überfordern, die nicht erfüllt werden können und welche in Folge die Kommunikationssysteme in niedrigere und dysfunktional konfliktbeladenere Systemorganisation rhythmisieren werden.

Fassen wir bis hierher zusammen:

In der Komplexitätsforschung wird seit langem nach den Bausteinen der Komplexität gesucht.

Wir haben für komplexe Entscheidungssysteme durch Verbinden geisteswissenschaftlicher, hier insbesondere soziologischer Systemtheorie mit Automatentheorie und FORMlogik ua. diese "Bausteine der Komplexität" als FORMen komplexer Entscheidungssysteme gefunden/modelliert.

Von dort aus können wir den Entwicklungslogiken unter anderem komplexer lebender Systeme wie Kommunikationssysteme - und damit Organisationen - folgen, diese modellieren, am Computer emulieren und von dort her ableiten, wie Organisation zielgerichtet orientiert werden kann.

Komplexität ist damit nicht ausgeschlossen, sondern integrer Bestandteil und Folge der Selbstorganisation der damit generierten artifiziellen Systeme, über die wir komplexe lebende Systeme vergleichbar der Komplexitätsforschung in den Naturwissenschaften mathematisch untersuchen können.

Aus nur 6 Bausteinen ergibt sich eine Kombinatorik von 64 Systemen, die wir zur Analyse von Kommunikationssystemen nutzen.

Im nächsten Kapitel werden wir zu diesen 6 Bausteinen anschauliche Beispiele liefern, damit sie greifbar werden und leichter dabei zugesehen werden kann, was Kommunikation nun eigentlich genau in welchem Moment tut.

Wir liefern mit "Systemischer Realkonstruktivismus" eine komplexe Theorie komplexer (lebender) Entscheidungssysteme und damit die Möglichkeit zur Rekonstruktion von u. a. Kommunikationssystemen als komplexe lebende Systeme.

Wir können solchen Systemen bei der Arbeit, in Bewegung zusehen und von ihnen lernen, wie sie sich selbst ausdifferenzieren und unter welchen Bedingungen sie das wie tun.

Verena Michl

Gründerin wetransform Organisationsberaterin & Coaching , Karriereberaterin und Entwicklungs - Dramaturgin//zert. INQA Coach// Co- Host: #Fe:male Powerlunch

11 Monate
Ute Hamelmann

Rebuild Organizations - Release Train Engineer (SAFe®, DevOps) @ DB InfraGo, Autorin, Cartoonistin, Agile & Complexity Lover

11 Monate

Oh my gosh, dieser Artikel ist es! 😍 Love it!

Michael Gerstner

#Headofmyownheadspace Bereichsleitung bei iSo e.V., Sozialpädagoge, Coach, Supervisor und Organisationsberater

11 Monate

Oh... Da liegt ja noch was unterm Baum! ♥️🌲

Chris Kny

🟩 Management Assistant bei DATEV eG | Privates Profil mit persönlichen Ansichten

11 Monate

Ich freue mich sehr auf das Buch.

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