Unternehmenskultur „verändern“ - geht das überhaupt?
Auf magische Weise selbstorganisiert: eine Starenwolke (Quelle: iStock)

Unternehmenskultur „verändern“ - geht das überhaupt?

Unternehmenskulturen sind schwierig zu fassen, kaum zu beschreiben und doch hochgradig wirksam. Kein Wunder also wird bei fast jedem Veränderungsprozess gefordert, auch die Kultur müsse sich grundlegend wandeln. Doch was genau ist es, was sich hier ändern soll? Und: Was lässt sich überhaupt verändern und was entzieht sich dem direkten Zugriff? Ein systemtheoretischer Blick auf Kultur hilft das eine vom anderen zu unterscheiden. Das kann zu mehr Klarheit in Veränderungsprozessen beitragen - und zu mehr Konsequenz. Von der Entstehung des Tassenschiebens und vom Mut, neue Fakten zu schaffen.

Da war es wieder, das grosse Wort: Um hier einen Schritt weiter zu kommen, so empfahl uns der Berater, müsse man die Kultur im Team verändern. Am besten „mittels Kommunikationsmassnahmen“. Aha! Ich habe mich in diesem Moment gefragt, was genau er mit dem Begriff "Kultur" meint und ob wir vom selben sprechen. Denn ich gehe nicht davon aus, dass Kultur mit Kommunikationsmassnahmen geändert werden kann.

Wenn ein Veränderungsprozess an seine Grenzen stösst, wird oft die Kultur verantwortlich gemacht. „Wir brauchen eine neue Führungskultur.“ „Wir brauchen einen Kulturwandel.“ Benannt wird damit alles, was nicht recht in Worte zu fassen und doch irgendwie wirksam ist. Denn Kultur, das ist das Nebulöse, das Unausgesprochene, das, was immer da ist und wie eine zweite Regie das Geschehen auf der Bühne steuert. Wie eigenwillig Kultur ist, zeigt sich oft daran, wie sich neue Mitarbeitende an die Gepflogenheiten herantasten. „Ich will eine neue Idee einbringen. Kann ich sie einfach so im Meeting vorstellen?“ fragt mich zum Beispiel ein neuer Kollege. Eigentlich fragte er: Wie wird das aufgenommen, wenn ich die Idee im Meeting mit Geschäftsleitungsmitgliedern ohne Vorankündigung vorstelle? Kultur ist eine heikle Sache: Sie steht nicht im Arbeitsvertrag, und soll doch beachtet werden. Sie ist nirgends festgehalten und soll doch einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren sein – oder die grösste Blockade für einen Durchbruch.

Bei den Werten ansetzen?

Wie aber soll etwas nicht Explizites und kaum zu Greifendes wie Unternehmenskultur „verändert“, „designed“ oder gar „gemanaged“ werden, wie Publikationen zum Thema versprechen? Gemäss dem Pionier in der Erforschung von Organisationskultur, Edgar Schein, wird Kultur von tief im Unternehmen verankerten Grundannahmen und Werten gespiesen. Sie prägen Normen, "Artefakte" und das Verhalten der Menschen in der Organisation. Es scheint also ein naheliegender Weg zu sein, bei den Grundannahmen anzusetzen. Veränderungsprozesse starten dann mit Wertediskussionen und neuen Leitbildern. Kann das funktionieren?

Wie soll etwas nicht Explizites und kaum zu Greifendes wie Unternehmenskultur „verändert“, „designed“ oder gar „gemanaged“ werden?

Um diese Frage beantworten zu können, lohnt es sich, den Kulturbegriff zu schärfen: Was genau ist gemeint, wenn von Kultur die Rede ist? Was genau soll da verändert werden? Oder anders gefragt: Gibt es Definitionen von Kultur, die in einem Veränderungsprozess besser Orientierung geben als andere? Ich meine ja - denn jedes Konzept wirkt wie eine Brille: Manches sieht man damit klarer, anderes vielleicht auch gar nicht.

Für die Veränderung von Unternehmenskultur ist für mich vor allem eine Brille hilfreich, die den Blick dafür schärft, welche Teile eines Unternehmens direkt gesteuert und damit auch gestaltet werden können und welche sich dem direkten Zugriff entziehen. Definiert man Kultur beschreibend – „the way we do things“ oder Kultur als „Verhalten, Artefakte, Annahmen“ – ist diese Unterscheidung nicht zu machen. Kultur ist dann schnell irgendwie alles. Wo also soll ein Veränderungsprozess wirkungsvoll ansetzen? Anders mit einer systemtheoretischen Brille: Sie unterscheidet zwischen der formalen Seite der Organisation, ihren offiziellen Programmen, Prozessen und Strukturen, und ihrer informalen Seite, der „Kultur“. „Organisationskultur besteht aus Verhaltenserwartungen an Organisationsmitglieder, über die nicht offiziell vom Management entschieden wurde, sondern die sich langsam durch Wiederholungen und Imitationen eingeschlichen haben“ (Kühl 2018). Kultur ist in diesem Verständnis all das, worüber eben nicht gezielt entschieden wird. Sie entsteht selbstorganisiert und anonym aus dem unvorhersagbaren Wirken vieler Akteure. Kultur ist nach dieser Definition etwas, das per se nicht direkt gesteuert werden kann. So wie im Lauf der Zeit ein Trampelpfad neben einem gepflasterten Fussweg entsteht, so bildet sich Unternehmenskultur selbstorganisiert neben der formalen Seite der Organisation aus. Sie entsteht jedoch nicht unabhängig von der formalen Seite - im Gegenteil. Beide Seiten bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Darin liegt die Chance.

Tassen verschieben

Ein anschaulicher, wenn auch etwas plakativer Vergleich für diese Wechselwirkung ist eine neue Praxis, die sich an unserer Kaffeemaschine etabliert hat: Mitarbeitende stellen zwei Tassen unter den Auslauf der Kaffeemaschine. Kaum strömt der Kaffee aus der Maschine, werden die Tassen wild unter den beiden Düsen hin- und hergeschoben. Für einen neutralen Beobachter mag das kollektive Tassenverschieben wie ein merkwürdiges Ritual erscheinen. Es hat jedoch einen rationalen Grund: Aus dem einen Auslauf der Maschine kommt weniger Kaffee. Um also beide Tassen „gerecht“ zu befüllen, muss man nachhelfen. Informal wurde also eine Lösung für eine formale Unzulänglichkeit gefunden. Wer diese „Kultur“ ändern will, wird kaum eine Kampagne gegen das Tassenschieben lancieren oder über zugrundeliegende Werte diskutieren, sondern die Maschine reparieren - also am formalen System ansetzen, aus dem das informale hervorging.

Welche Rahmenbedingungen stärken neues Verhalten?

Folgt man der systemtheoretischen Definition von Kultur, kann Kultur nicht direkt angegangen, sondern nur indirekt, über Bande, angespielt werden (Grubendorfer 2016). Arbeit an der Kultur besteht dann weniger in Verhaltensappellen (die sich ohnehin meistens an "die anderen" richten), sondern in konkreten Massnahmen am offiziellen System. Die Frage lautet: Welche konkreten Rahmenbedingungen fördern und erleichtern ein neues, erwünschtes Verhalten? Und ebenso wichtig: Welche behindern es?

Kultur "über Bande" anspielen.

Ein eindrückliches Beispiel für einen Kulturwandel, der am Konkreten (das heisst am Entscheidbaren) ansetzt, schildert Herwig Kummer, stellvertretender Personalleiter beim Österreichischen Automobilclub ÖAMTC, in einem Podcast-Gespräch mit Leonid Lezner. Der ÖAMTC hatte sich zum Ziel gesetzt, eine offenere Kommunikationskultur, mehr Transparenz und abteilungsübergreifendes Arbeiten zu leben. Statt die bestehende Kultur zu analysieren und ein Kultur-Zielbild mit entsprechenden Werten zu erarbeiten, verzahnten die Organisationsentwickler den Veränderungsprozess eng mit dem Bauprozess für ein neues Bürohaus für alle Mitarbeitenden. Im neuen Gebäude gab es nur noch offene Büroflächen und keine Einzelbüros mehr. Während die Philosophie der Offenheit in der Architektur ihren physischen Ausdruck fand, erteilten die Organisationsentwickler abteilungsübergreifende Aufträge: So erarbeiteten zum Beispiel 60 Mitarbeitende aus allen Abteilungen innerhalb weniger Monate ein Flächenprogramm, das die Zustimmung des Entscheidungsgremiums fand. Entscheidend war, so Herwig Kummer, dass das Management mit wehenden Fahnen vornewegging: Ausnahmslos alle erhielten dieselben Tische und dasselbe Flächenkontingent. So setzten Management und Organisationsentwicklung einen faktischen Rahmen. Dass der kulturelle Wandel damit gelang, liess sich jedoch nicht vorhersagen. Im Gespräch betont Herwig Kummer: „Kultur ist nicht etwas, was man gestalten kann, nach Gutdünken oder nach eigenen Vorstellungen. Ich glaube schon, dass es eine Vision braucht, in welche Richtung es gehen soll. Aber wie es dann wirklich kommt, das passiert in der Interaktion zwischen den Akteuren im Feld. … Man muss den Mut haben, Kultur sich entwickeln zu lassen.“

Paradox: Kulturarbeit, die nicht an der Kultur ansetzt

Das Paradox lautet also, Kultur zu beeinflussen, ohne an der „Kultur“ anzusetzen, sondern an den hard facts, den offiziellen Strukturen, Programmen und Prozessen. Dieses Vorgehen ist meistens konfliktreicher als Wertekampagnen oder Appelle, zeigt aber auch, wie ernsthaft die Veränderungsbemühungen sind, vor allem wenn die Führung sie als erstes von sich selbst einfordert. Wer formales System und Kultur als zwei Seiten derselben Medaille versteht, wird Veränderungen am System mit mehr Kulturbewusstsein vornehmen. Vielleicht auch mit mehr Demut.


Auslöser für diesen Beitrag war der WOL-Implementer Deep Dive am 29.08.2019 in Basel, an dem Sabine Kluge von der Forschung rund um Working out loud durch Judtih Muster berichtete und die Frage im Raum stand: Wie kann Working out loud (WOL) Kultur verändern? Am Regionaltreffen der Corporate Learning Community-am 26.09.2019 in St. Gallen tauchte das Kulturthema wieder auf, dieses Mal im Zusammenhang mit neuen Lernformaten in Organisationen. Und wieder lautete die Frage: Was verändert Kultur? Was löst es aus, wenn ein Unternehmen allen Mitarbeitenden eine Stunde selbstorganisiertes Lernen pro Woche zur Verfügung stellt?

Zum Vertiefen:

„Kulturveränderung im Unternehmen gestalten“ - „Firmenfunk“-Podcast, Leonid Lezner im Gespräch mit Herwig Kummer vom ÖAMTC,

https://wohnzimmer.fm/firmenfunk/ff077-kulturveraenderung-im-unternehmen-gestalten/

Grubendorfer, C. (2016): Einführung in systemische Konzepte der Unternehmenskultur. Carl Auer Systeme Verlag.

Kühl, S. (2018): Organisationskulturen beeinflussen. Springer Fachmedien

Schein, Edgar H. (2017): Organizational Culture and Leadership - 5th edition, Wiley.

Wüthrich, Hans. A., Schaller, Philipp, D. (2018): Kultur ist das Ergebnis. zfo, Zeitschrift für Führung + Organisation, 2/2018, p. 76-84.


Vanesa A. Colicchia, MBA

Project Leader | Efficiency Management | ZF Global Ambassador 🌍 | Networker | Transformation projects are my passion

3 Jahre

Ich beschäftige mich zurzeit sehr mit dem Thema Unternehmenskultur aber auch mit der Kultur einer Abteilung, welche sich innerhalb des Unternehmens komplett von anderen Abteilungskulturen unterscheiden kann. Das ist ein faszinierendes Thema, vor allem wenn man es selbst erlebt hat..

🟢 Maria Grüner

Culture & Organizational Change | Brücken bauen | Haltung, Handwerk, Digitales | be the change | mom of two | Scanner by 💚

4 Jahre

Systemtheorie hat so viele kluge Antworten auf die Fragen unserer Zeit, dass ich mich immer wieder freue, wenn jemand mit der gleichen Brille auf Organisation blickt wie ich. Danke Dorothée Braun für diese klug differenzierende Sicht auf Unternehmenskultur und das Greifbarmachen des Begriffs!

Thomas Schneider

Self Employed Senior Consultant, Coach and Trainer at Thomas Schneider Consulting, Coaching, Training

4 Jahre

Vielen Dank! Super hilfreich und auf den Punkt.

Jeanette Schmid

Durch klare Prozesse und nachhaltige Organisations- & Personalentwicklung zu selbstverantwortlichen Mitarbeitern mit Drive für tolle Kundenerlebnisse | Change, Prozessmanagement, Führung, Projektleitung

4 Jahre

Ursula Maurer davo heimers gha

Wilhelm Möllemann

Die eine Welt für Alle lebenswert gestalten--

4 Jahre

Digitalisierung ist eine Weiterenteicklung und Ergänzung des analogen Datenflusses (inkl. Verarbeitung). Wie Menschen lernen mussten, mit Dampf und Elektrizität umzugehen, so müssen sie heute lernen, mit der Digitalisierung umzugehen. Digitalisierung ist ebe kein Bruch mit Altem, sondern schlichtweg eine Weiterentwicklung. Menschen müssen sich, wie schon immer, mit dieser Entwicklung auseinandersetten Wieso sich Unternehmenskulturen nun disruptiv ändern müssen anstatt sich weiter zu entwickeln, ist mir schleierhaft. Wer lernt, mit Neuem gut umzugehen, kommt weiter, wernicht, wird dahinten bleiben. Das war schon immer so.

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