Vademekum der Verkehrspolitik 1

Vademekum der Verkehrspolitik 1

Die Verkehrspolitik in Deutschland ist im internationalen Vergleich ungewöhnlich stark emotional aufgeladen. Dies zeigt die jahrzehntelange Debatte um ein Tempolimit exemplarisch. Dieser kleine Ratgeber will sich in aufklärerischer Absicht an den verkehrspolitischen Debatten in Deutschland beteiligen. In diesem Sinne werde ich hier zukünftig anlassbezogen aktuelle Themen aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive kritisch beleuchten.

Heute starte ich mit der Frage:

Was ist eine ideologische Verkehrspolitik?

Die neue Berliner Verkehrssenatorin, Manja Schreiner, hat am 22.05.2023 im Tagesspiegel mit Blick auf das Mobilitätsgesetz, in dem der Umweltverbund auf Kosten des MIV gefördert werden soll, die Verkehrspolitik ihrer Vorgängerin als ideologisch bezeichnet. Das allein wäre nicht der Rede wert, würde sie sich damit nicht einreihen in eine Vielzahl gleichlautender Kommentare von Seiten der Politikerinnenzunft. Grund genug also, eine Novizin der Verkehrspolitik zum Anlass einer kritischen Betrachtung ideologischer Verkehrspolitik zu machen. Dabei werde ich mich bemühen, einem Ratgeber für breite Schichten der Bevölkerung zu entsprechen und den wissenschaftlichen Jargon zu vermeiden.

Die Antwort, auf die Eingangs gestellte Frage „Was ist eine ideologische Verkehrspolitik“, erscheint auf den ersten Blick ganz einfach, ist bei genauerer Betrachtung aber doch verzwickt. Einfach erscheint die Antwort, weil wir alle verstehen, was die Person mit dem Ideologievorwurf zum Ausdruck bringen möchte: ‚Du bist verblendet, erkennst die Realität nicht und kannst deshalb keine gute Politik machen!‘ So weit, so gut, wichtig ist es festzuhalten, dass es sich hierbei um eine ungeprüfte Behauptung handelt, die als politisches Totschlagargument genutzt wird, wir uns also auf dem Stammtischniveau befinden. Das ist nicht weiter überraschend, denn wer, wie der Autor, eine Politikerkarriere beim Juso-Ortsverein angestrebt hatte, bevor er sich eines Besseren besann, weiß, die Berufspolitikerinnen werden am Stammtisch sozialisiert. Deshalb kann auch nicht vorausgesetzt werden, dass Politikerinnen wissen, was Ideologie und was Verkehrspolitik ist.

Aus Politikwissenschaftlicher Sicht erscheint der von Politikerinnen mit Inbrunst vorgetragene Ideologievorwurf amüsant, gelten die Berufspolitikerinnen doch als die professionellen Repräsentanten politischer Ideologien. Sei es, dass sie den Liberalismus (individuelle Freiheit) vertreten, an den Sozialismus (soziale Gerechtigkeit) glauben, dem Konservatismus (Traditionen) anhängen, oder, wieder zunehmend populär, dem Autoritarismus (Führerprinzip) folgen. Auch wenn sich alle Parteien in der viel beschworenen Mitte treffen, um dort um die Gunst des Wahlvolks zu buhlen und sich dabei aller politischen Traditionen mehr oder weniger stark bedienen, es bleibt ein Pottpourri politischer Ideologien.  

Was sagen uns vor diesem Hintergrund Politikerinnen, die die Keule des Ideologievorwurfs schwingen, abgesehen davon, dass sie lächerlich erscheinen. Sie bringen zum Ausdruck, dass sie sich abseits vom Stammtisch noch nie mit Ideologie befasst haben. Andernfalls wüssten sie, dass das Wesen der Politik im Kampf um Deutungsmacht besteht; es geht darum, den eigenen Überzeugungen und Ideen im Widerstreit mit den politischen Gegnerinnen Geltung zu verschaffen. Damit kommen wir zu der Frage, was ist Politik bzw. Verkehrspolitik.

Auch mit Blick auf das vorherrschende Politikverständnis lohnt es sich die neue Verkehrssenatorin zu zitieren, die den jahrzehntelang gelebten Mainstream deutscher Verkehrspolitik repräsentiert: „Ich will, dass wir dieses Gegeneinander überwinden und für jeden Verkehrsteilnehmer ein Angebot schaffen.“ Diese Haltung bezeichnet die Politikwissenschaft als Nicht-Politik bzw. Konsenspolitik, weil hier keine originäre politische Entscheidung getroffen wird, sondern die bestehenden Verhältnisse verwaltet werden. Ein konkretes Beispiel der jüngeren Zeit ist die Einführung des 9 EUR-Ticket verbunden mit der Einführung des Tankrabatt, wenn der eine etwas bekommt, soll auch der andere etwas erhalten, ein Nullsummenspiel, das nicht-nachhaltige Verkehrssystem bleibt erhalten; Verkehrsminister Wissing würde sagen ‚mission accomplished‘. Diese Finanzierungsarchitektur der sogenannten ‚Parallelfinanzierung‘ wurde bezeichnenderweise Ende der 1960er Jahre von der damaligen großen Koalition etabliert und zielte schon seinerzeit darauf, die Vertreterinnen aller Verkehrsträger glücklich zu machen. Dieser Deal galt so lange als Erfolgsmodell, wie das bestehende Verkehrssystem nicht problematisiert wurde. Im Ergebnis führte es jedoch zu einer Entpolitisierung der Verkehrspolitik.

Demgegenüber zeichnet sich eine politische Entscheidung per Definition dadurch aus, dass sie sich in einer Konfliktsituation für die Interessen der einen und gleichzeitig gegen die Interessen der anderen wendet. Die Politik wurde erfunden, um diese Interessensgegensätze nicht mehr gewaltsam auszutragen, sondern politisch im Sinne des Gemeinwohls zu entscheiden. Der systemrelevante Verkehrssektor ist eines der wenigen Beispiele, wo sich die Politik von einer politischen Entscheidung bis heute freigekauft hat. Andernfalls hätte die Politik sich für das 9-EUR-Ticket entschieden und gleichzeitig gegen einen Tankrabatt, um die selbstgesteckten Klimaziele im Verkehr zu erreichen.

Kommen wir zur Beantwortung der Frage „Was ist ideologische Verkehrspolitik?“ Es handelt sich um einen politischen Kampfbegriff, den Politiker geprägt haben, um ‚die Lufthoheit über den Stammtischen zu erobern‘, wie es der ehemalige Generalsekretär der CSU, Erwin Huber, so unnachahmlich ausgedrückt hat. Ich erinnere mich, wie ich nächtelang mit den Genossinnen am Juso-Stammtisch Kampfbegriffe für den politischen Gegner – ach lassen wir das. Es handelt sich jedenfalls nicht um einen seriösen Beitrag zu einer verkehrspolitischen Debatte, vielmehr fällt er auf die PolitikerInnen selbst zurück, die offensichtlich kein Verständnis davon haben, dass sie die Aufgabe von Berufsideologen erfüllen. 

Um gegen die Nutzung des privaten Pkw zu sein, muss man nicht ideologisch verblendet sein, vielmehr gibt es unabhängig von der politischen Couleur keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um das am wenigsten nachhaltige Verkehrsmittel handelt. Völlig offen ist dann die sich anschließende Frage, welche politische Entscheidung aus dieser wissenschaftlichen Einsicht folgt, die notwendigerweise ideologisch gefärbt sein wird. Mit welcher Ideologie wir die politisch gewünschten Nachhaltigkeitsziele erreichen, bleibt umstritten bzw. politisch umkämpft. Unstrittig hingegen ist, dass wir echte verkehrspolitische Entscheidungen benötigen, die einen Unterschied machen.

Indem die Vertreterinnen des Ideologievorwurfs stattdessen den Eindruck vermitteln, es gäbe eine wertfreie Sachpolitik, vertreten sie einen technokratischen Ansatz, der besonders pointiert von der FDP mit dem substanzlosen Schlachtruf der ‚Technologieoffenheit‘ ins Feld geführt wird. Damit verweigern sie sich einer dezidiert politischen Entscheidung und verlassen sich stattdessen darauf, dass sich die bessere Technik am Markt durchsetzen wird. Das Ergebnis ist die politische Bankrotterklärung eines Bundesverkehrsministers, der sich hilflos in die Aufhebung der eigenen Sektorenziele retten will. Den Verkehr als systemrelevanten Sektor aus der Nachhaltigkeitsbilanz zu nehmen, wäre allerdings auch eine originär politische Entscheidung – zugunsten des Verkehrs und gleichzeitig auf Kosten der anderen Sektoren.

 

Weitere Themen für das Vademekum der Verkehrspolitik: Was ist politische Justiz? Was ist legitime Gewalt?

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