Vademekum der Verkehrspolitik 6
Die Verkehrspolitik in Deutschland ist im internationalen Vergleich ungewöhnlich stark emotional aufgeladen. Dies zeigt die jahrzehntelange Debatte um ein Tempolimit exemplarisch. Dieser kleine Ratgeber will sich in aufklärerischer Absicht an den verkehrspolitischen Debatten in Deutschland beteiligen. In diesem Sinne werde ich hier zukünftig anlassbezogen aktuelle Themen aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive kritisch beleuchten.
Heute widme ich mich der Frage:
Was sind die Gründe für den Erfolg rechter (Verkehrs)Politik?
Zur besten Sendezeit, in den Achtuhrnachrichten, äußert sich der deutsche Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel erfreut über die vielen Demonstrierenden gegen Rechtsextremismus, nur um dieselben Menschen gleich im nächsten Satz zu diskreditieren. Die öffentlichen Proteste würden doch zeigen, dass wir nicht in der Weimarer Republik leben und deshalb solle man aufhören, ständig diesen Vergleich zu ziehen. Da gehen also Menschen auf die Straße, um Weimarer Verhältnisse zu verhindern und der Politikwissenschaftler klärt auf; alles gar nicht so schlimm. Gleichzeitig diagnostizieren seine Kollegen, empirisch fundiert eine seit vielen Jahren zu beobachtende „demokratische Regression“, wonach der politische Anspruch und die soziale Realität immer weiter auseinanderklaffen und die Bürger:innen sich im Ergebnis immer weniger mit demokratischen Verhältnissen identifizieren. Wie geht das zusammen?
Das deutsche Mantra „nie wieder!“ ist nur die eine Seite derselben Münze, auf der anderen steht die „Singularität des Holocaust“. Mit dieser billigen Münze haben sich die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg freigekauft, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit sich der Faschismus nicht wiederholt. Die Überhöhung des Judenmords zu einem einzigartigen Phänomen, dass aufgrund seiner Monstrosität kaum begreiflich sei, hatte immer die Tendenz, so der ehemalige Bundespräsident, Joachim Gauck, sich der Analyse von Ursachen zu entziehen. Für die Deutschen hatte das eine große Entlastungsfunktion, wie der Journalist Jens Jessen mit Blick auf das Werk des Historikers Götz Aly feststellt, der Zeit seines Lebens den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit erforschte: „Was außerhalb aller menschlichen Vorstellungskraft geschehen ist, unvergleichbar, unwiederholbar, einzigartig, muss und kann von niemandem auf sich bezogen werden. Tatenlose Reue ist alles, was bleibt.“
Das verbindende Element zwischen dem Geschichtsbewusstsein der engagierten Menschen, die heute auf die Straße gehen und der Theoriearmut der deutschen Politikwissenschaft, ist der Kapitalismus. Oder wie es der deutsche Sozialphilosoph und Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialwissenschaften, Max Horkheimer, 1939 aus dem amerikanischen Exil mit Blick auf den anhebenden Faschismus in seinem Aufsatz „Die Juden und Europa“ formulierte: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Horkheimer erklärte den Faschismus seinerzeit als Reaktion der Wirtschaftsvertreter auf die Anfänge des Weimarer Sozialstaats, der seinerseits zu einem sozialen Ausgleich beitragen sollte: „Solche Umkehrung der Verhältnisse lassen die Unternehmer auf die Dauer in keinem Weltreich zu. In den Parlamenten und dem ganzen öffentlichen Leben sabotieren sie die spätliberalistische Wohlfahrtspolitik. Selbst wenn sie der Konjunktur zu Gute käme, blieben sie unversöhnt: Konjunkturen sind ihnen nicht mehr genug. Die Produktionsverhältnisse setzen sich gegen die humanitären Regierungen durch“.
Die daraufhin aufbrechenden sozialen Konflikte werden dann nicht mehr vom Sozialstaat moderiert sondern von dem faschistischen Regime zusammengezwungen: „Wie alte Leute zuweilen so böse werden, wie sie im Grunde immer waren, nimmt die Klassenherrschaft am Ende der Epoche die Form der Volksgemeinschaft an. Den Mythos der Interessenharmonie hat die Theorie zerstört; sie hat den liberalistischen Wirtschaftsprozess als Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen vermittels freier Verträge dargestellt, die durch die Ungleichheit des Eigentums erzwungen werden. Die Vermittlung wird jetzt abgeschafft. Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft, die von der Theorie von Anfang an getroffen war. Er fixiert die extremen Unterschiede, die das Wertgesetz am Ende produziert“.
Diese wichtige Erkenntnis, dass Kapitalismus und Faschismus irgendwie zusammenhängen, ist heute weitgehend verloren gegangen und dient allenfalls noch Salonsozialisten als geschätztes Bonmot. Deshalb ist zu befürchten, dass über den Erfolg auf der Straße die tieferliegenden Ursachen der aktuellen demokratischen Krise aus dem Blick geraten und der Protest einiger Hunderttausend beim Rest der deutschen Bevölkerung verhallt. Jedenfalls fixieren sich aktuell alle auf die AfD und fordern von der amtierenden Bundesregierung dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Diese oberflächliche Betrachtungsweise verfehlt jedoch zwei wesentliche Einsicht. Zum einen, dass nicht die AfD das Problem darstellt sondern ihre Wähler:innen, die womöglich gute Gründe haben diese Partei zu wählen, ohne dass sie diese immer kennen. Zum anderen, dass die guten Gründe der AfD-Wähler, das Ergebnis einer jahrzehntelangen, einseitig an Wirtschatsinteressen orientierten Politik ist, womit die von den Protestierenden angerufene Bundesregierung, wie auch ihre Vorgängerinnen, nicht als Teil der Lösung sondern des Problems erscheinen.
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Spätestens seit vor zehn Jahren die Untersuchung „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty erschien, wissen wir, dass die soziale Ungleichheit in den kapitalistischen Ländern seit den 1970er Jahren kontinuierlich zunimmt und mittlerweile wieder die Dimension von Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht hat. Gerade hat Oxfam eine weitere Studie veröffentlicht, der zufolge die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen seit 2020 mehr als verdoppeln konnten, währen zugleich fast fünf Milliarden Menschen, die ärmsten 60 Prozent der Menschheit, zusammen 20 Milliarden US-Dollar Vermögen verloren haben. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat in den letzten Jahren immer wieder entsprechende Entwicklungen sozialer Spaltung in Deutschaland dokumentiert. Eine wesentliche Ursache ist der Niedriglohnsektor, in dem mittlerweile knapp 9 Millionen Menschen arbeiten, fast 20 Prozent der Erwerbstätigen.
Diese wachsende gesellschaftliche Ungerechtigkeit bekommen immer größere Teile der Bevölkerung hautnah zu spüren. Angefangen mit der jungen Generation, die sich im Angesicht des Klimawandels und den in einer aktuellen Studie prognostizierten gesellschaftlichen Kosten, um ihre Zukunft betrogen sieht. Von den Studierenden unter ihnen erhalten nur noch knapp 12 Prozent eine staatliche finanzielle Unterstützung (BaföG), ein Drittel ist armutsgefährdet und zwei Drittel muss das ganze Jahr über arbeiten, um über die Runden zu kommen. Spiegelbildlich zeichnet sich bei der älteren Generation eine neue Altersarmut ab, schon heute leben 7,5 Millionen Rentner:innen von weniger als 1250 Euro. Dazwischen werden Familien mit Kindern zerrieben, die auch nach zwanzig Jahren ihren Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz aufgrund fehlender Einrichtungen nicht einlösen können. Stattdessen hat die Kinderarmut in einem der reichsten Länder der Welt mit 20 Prozent einen Höchststand erreicht. Aber erst die Bauern, die seit Jahrzehnten unter dem Druck der Agrarmärkte aus dem letzten Loch pfeifen, verschaffen sich Gehör.
Wie reagiert die aktuelle Bundesregierung auf die sozialen Folgen des neoliberalen Backlash der letzten Jahrzehnte. Zunächst sei daran erinnert, dass die SPD 2009 ohne Not, sprich aus Überzeugung, im Deutschen Bundestag eine Zweidrittelmehrheit für die Verankerung jener Schuldenbremse im Grundgesetz eingeworben hat, die ihr heute auf die Füße fällt. Dabei handelte es sich faktisch, so Peter Brandt und Detlef Lehnert in ihrer kurzen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, um die ‚Selbstentmächtigung‘ demokratisch gewählter Regierungen und Parlamente. Grundsätzlich schließt die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entwickelt ‚Wesentlichkeitstheorie‘ aus, dass wesentliche Entscheidungen am Parlament vorbei von der Exekutive getroffen werden. Vielmehr müssen wichtige gesellschaftliche Fragen wie die, ob der Staat sich verschulden soll oder nicht, grundsätzlich im Parlament entschieden werden. Um für eine solche zentrale finanzpolitische Regelung eine Ausnahme zu formulieren, war es daher notwendig, eine neue verfassungsrechtliche Grundlage zu schaffen. Indem sich die Politik auf Drängen der Wirtschaft auf diese Weise ein wichtiges finanzpolitisches Instrument selbst aus der Hand geschlagen hat, wurde sie im Ergebnis von der Ökonomie kastriert.
Während es üblich geworden ist, den Neoliberalismus abzutun als substanzlosen politischen Kampfbegriff, markiert die ökonomisch motivierte Verfassungsänderung zur Einhaltung der Schuldenbremse auf Kosten der politischen Handlungsfähigkeit anschaulich den Höhepunkt der neoliberalen Hegemonie in Deutschland, angeführt von der SPD. Mit dem Abbau von Sozialleistungen im Rahmen der Hartz-IV-Regelungen hatte diese Partei zuvor schon Millionen Wähler:innen verprellt, wovon sie sich bis heute nicht wieder erholt hat. Jetzt besinnt sich dieselbe Partei nicht etwa auf die Soziale Frage, vielmehr benennt sie ihren sozialen Kahlschlag einfach um zum „Bürgergeld“ und verschärft hinter dem Etikettenschwindel die Sanktionen für die ‚Arbeitsverweigerer‘ unter den Leistungsbeziehenden.
Auf Seiten des grünen Koalitionspartners, warf der Wirtschaftsminister und Vizekanzler, vor dem Hintergrund wachsender Kinderarmut, seiner Parteikollegin Lisa Paust, dem Finanzminister zum Fraß vor, als sie sich tapfer für eine Kindergrundsicherung einsetzte, die den Namen verdient (wohlgemerkt vor dem Bundesverfassungsgerichtsurteil und der prekären Haushaltslage). Wen wundert es da noch, dass Christian Lindner sich jetzt im Furor seiner neoliberalen Kürzungsorgie ermutigt sieht, den Kinderfreibetrag für Besserverdienende auf Kosten des Kindergelds für Geringverdienende zu erhöhen. Mit seinen offenen Ressentiments gegen arbeitslose Müßiggänger, schlägt er vorsorglich schon einmal die Brücke zu den Oppositionsparteien. Der Realpolitiker präpariert sich für den Fall, dass er den Regierungs-Karren vor die Wand fährt und neue Bündnisse eingehen muss. Immerhin einen, alle Parteien übergreifenden politischen Konsens, gibt es, wenn es darum geht, gemeinsam die Phalanx gegen Flüchtlinge zu bilden. Max Horkheimer würde wohl sagen, die wehrlosen Flüchtlinge sind der Ersatz für die wehrlosen Juden.
Und die Verkehrspolitik? Die amtierende Bundesregierung kürzt ausgerechnet bei den nachhaltigen Verkehrsmitteln Schienen- und Radverkehr, während die Straßenbauprojekte unangetastet bleiben. Nachdem die Bahn jahrzehntelang auf Kosten der Beschäftigten und der Kunden kaputtgespart wurde, melden sich jetzt mit der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GdL) jene Betroffenen mit der größten Vetomacht zu Wort. Auch im Transportgewerbe, dass sich an die Bauernproteste hing, werden auf der Ebene der Europäischen Union seit Jahrzehnten die unhaltbaren sozialen Zustände der Beschäftigten diskutiert (Lenkzeiten etc.). Wie die Bauern, fordern auch die Spediteure ihre Privilegien zurück, was dem einen seine Dieselsubvention ist dem anderen sein Mautrabatt, beide verfehlen damit freilich gleichermaßen die strukturellen Fehlentwicklungen ihrer marktgetriebenen Branche. Es wäre folgerichtig und zu wünschen, dass sich als nächstes das Bündnis „Wir fahren zusammen“ von Fridays for Future und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di) ebenso lautstark bemerkbar macht, das sich für einen besser ausgestatteten Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) einsetzt, um die angespannte Arbeitssituation der Beschäftigen zu verbessern und eine nachhaltige Verkehrsentwicklung zu unterstützen. Aber die Arbeitgeber reagieren weitgehend hilflos, kritisiert Christine Behle vom ver.di-Bundesvorstand. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) habe immer wieder „in die Mottenkiste gegriffen“, um Löcher zu stopfen: Arbeitszeitverlängerung, Lebensarbeitszeitverlängerung, Einsetzen von Rentnerinnen und Rentnern als Fahrer_innen oder die Senkung von Kosten für den Busführerschein. Kampagnenfähig zeigt sich der VDV bisher nur wenn er sich gegen seine ärmsten Fahrgäste wendet und die Gefängnisstrafe für Schwarzfahrende verteidigt, die nicht in der Lage sind, das Bußgeld zu zahlen (siehe mein Vademekum der Verkehrspolitik 4).
Die hier skizzierte oberflächliche politische Analyse zeigt, dass in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl sozialer Spaltungslinien entstanden ist, die kurzfristig kaum politisch zu korrigieren sind. Davon profitieren, wie in Weimar, die rechtsradikalen Parteien, indem sie einfache Lösungen versprechen. Max Horkheimer sah seine Aufgabe darin, die theoretische Einsicht in die Ursachen des Faschismus jenen politischen Kräften zu vermitteln, die es einmal richten können. Die nüchterne Betrachtung der amtierenden Regierung erlaubt, bei aller Ambivalenz, zumindest ein klares Urteil: Mit der rechtsliberalen FDP kann die soziale Frage nicht gestaltet werden. Das bedeutet, diese Regierung hat fertig! In dem Fall stellt sich die Frage, wer sonst kann die sozialen Fehlentwicklungen korrigieren, die vielbeschworene Zivilgesellschaft? Wie schwierig es selbst für eine starke Zivilgesellschaft ist, sich gegen autoritäre Regime zu behaupten, zeigt sich aktuell sowohl in Polen wie in Israel. In den USA wiederum sind die Würfel gefallen, dort wird mit Donald Trump ein faschistischer Präsidentschaftskandidat antreten, dem keine geringen Wahlchancen prophezeit werden. Sowohl das historische Beispiel der Weimarer Republik wie auch die aktuellen Beispiele zeigen, dass es keine demokratische Verfassung gibt, die vor einer faschistischen Machtübernahme schützt. Denn ein Wesensmerkmal liberaler Demokratien ist ja gerade die oftmals als Zumutung empfundene Freiheit, die Unfreiheit wählen zu dürfen. Anders als die theoriearme deutsche Politikwissenschaft meint, ist es daher nicht unrealistisch, dass auch in Deutschland früher oder später die sozialen Konflikte ein weiteres Mal durch ein faschistisches Regime zusammengezwungen werden. Deshalb gilt der Wahlspruch von Hilmar Klute: „Wer vernünftig ist, rechnet mit dem Schlimmsten – und kämpft für die Demokratie“.
Weitere Themen für das Vademekum der Verkehrspolitik: Was ist ein politischer Konflikt? Was ist legitime Gewalt?
Transport planner in parking management at Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt (SenMVKU)
11 MonateWichtige Punkte, dennoch ist der Rechtsruck nicht nur wirtschaftlich begründbar. Es geht auch um Verlustängste von über Jahrzehnte hinweg errungenen Werten, wie Gleichberechtigung, religiöse & sexuelle Toleranz, Meinungsfreiheit, Diskussionsfreiheit und Pressefreiheit. Vieles wird beim Thema Migration unter den Teppich gekehrt, statt offen zu diskutieren. Hier darf Kritik nicht verboten & mit Ausländerfeindlichkeit verwechselt werden. Als Frau bspw. staune ich darüber, dass gerade aus Ländern, in denen Frauen stark unterdrückt werden, fast nur Männer flüchten. Der Melting pott ist oft zu einseitig ausgerichtet, und auch Minderheiten fühlen sich bedroht.
Geschäftsführer ÖPNV VDV e.V. - Geschäftsführer VDV-Akademie GmbH | Rechtsanwalt | ex-Roland Berger | Aufsichtsrat
11 MonateIch finde es total super, dass Sie die jenigen besonders kritisch begleiten, die sich jeden Tag für die öffentliche Mobilität einsetzen, wie wir beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Ob Ihre Darstellung unserer Arbeit der Wirklichkeit entspricht, kann jeder selber nachvollziehen. Danke, dass Sie Ihren Beitrag dafür leisten, dass das Thema Mobilität hier so einen großen Widerhall findet.