Vom Nutzen der “Militärischen Nacht”
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Vom Nutzen der “Militärischen Nacht”

Unlängst habe ich mich mal wieder ein wenig durch Twitter gescrollt. Und mich dann gewundert: Das Netzwerk, in dem ich schon seit fast 15 Jahren angemeldet bin und das ich früher wirklich gerne genutzt habe – ich bin dort fast überhaupt nicht mehr aktiv.

Muss ich eigentlich in sozialen Netzwerken dabei sein? Die Frage hätte ich mir noch vor wenigen Jahren nicht gestellt, weil die Antwort ohnehin klar gewesen wäre: Journalist, Medien, Kommunikation, c’mon, soll das ein Witz sein? Natürlich musst du dabei sein. Der Platz für Kommunikation schlechthin und ausgerechnet dem will man sich verweigern; wer mir sowas damals erzählt hätte, den hätte ich als ewiggestrigen Bedenkenträger gesehen.

Mittlerweile sehe ich das…nunja, mindestens ambivalent. Dass man in diesen digitalen Zeiten noch weniger nicht nicht kommunizieren kann, als das schon der selige Paul Watzlawick beschrieben hatte, schon klar. Auf der anderen Seite: Man muss kein Kommunikationswissenschaftler sein und kein gewesener Internet-Pionier und auch kein Psychologe, um zu ahnen: Was da inzwischen passiert, das kann dauerhaft nicht gut sein. Zumindest dann nicht, wenn man es im Übermaß konsumiert oder sich womöglich in irgendwelche der manchmal sinnlosen und fast immer viel zu lauten, grellen Debatten reinziehen lässt. Kommunikationswissenschaftler, gewesene Internet-Pioniere und Psychologen haben inzwischen ganze Schrankwände voll Bücher zu diesen Themen geschrieben. Aber es reicht der kurze Blick in den alltäglichen Irrsinn, um leise Zweifel auch am eigenen Tun zu bekommen.

Der Bundesgesundheitsminister, der lustigerweise seinen Job zumindest teilweise seiner Social-Media-Präsenz insbesondere bei Twitter zu verdanken hat, bat vergangene Woche zur Pressekonferenz. Es ging mal wieder um Corona und das Impfen und wer die letzten beiden Jahre nicht auf einem anderen Planeten verbracht hat, der hat eine Ahnung, was da inhaltlich besprochen wurde. Eine neue Kampagne fürs Impfen und natürlich die Lauterbach-Mahnungen vor den nächsten Wellen. Das wäre eigentlich kaum der Rede wert gewesen, überraschend wäre es bestenfalls, würde Lauterbach plötzlich vom Impfen abraten und die Pandemie für beendet erklären (in den USA hat Joe Biden das immerhin gemacht).

Man könnte also meinen: Im Jahr 3 der Pandemie ist das Routine. Kein großes Ding mehr.

Und tatsächlich: Was den gängigen Nachrichtenseiten noch vor Jahresfrist eine Eilmeldung wert und tickerverdächtig gewesen wäre, landete jetzt irgendwo im grauen Mittelfeld. Und auch Radio, TV und die Zeitungen berichteten in einer Mischung aus pflichtschuldig und ein bisschen lustlos. So weit, so gut also.

Was im echten Leben harmlos ist, hat im Netz immer noch das Potential für einen Shitstorm

Nicht aber im Netz, in diesem sehr speziellen Fall Twitter. Karl Lauterbach hatte sich nämlich für die Impfkampagne jemanden eingeladen, den man neudeutsch "Testimonial'' nennt. Die Werbeträgerin bei dieser PK, so viel muss man zugestehen, ist eine umstrittene Person: die Autorin Margarete Stokowski, die von der SZ mal als die “lauteste Stimme des Feminismus” bezeichnet wurde. Man tut ihr nicht unrecht, wenn man sie als einigermaßen krawallig bezeichnet. Tweets von Frau Stokowski enthalten gerne mal Beschimpfungen und Kraftausdrücke und man tut ihr ebenfalls nicht unrecht, wenn man festhält, dass Frau Stokowskis Weltbild weitgehend daraus besteht, dass am allermeisten Übel der Welt der Mann als solcher in der einen oder anderen Form schuld ist.

Sie ahnen es: Ich bin kein allzu großer Fan von ihr und dass ich mit ihr mal einer Meinung bin, kommt so gut wie nie vor.

Das macht aber nichts, weil unsere Gesellschaft nunmal vom Gegensatz lebt und man unterschiedliche Meinungen einfach mal aushalten muss.

Nicht aber, wenn man bei Twitter (und anderen) unterwegs ist. Dort bekommen Lauterbach und Stokowski gerade einen veritablen Shitstorm ab. Man könnte über die Gründe dafür sinnieren, man kommt aber auf keinen wirklich sinnvollen. Außer den, dass die Namen Lauterbach (einiges) und Stokowski (sehr viel) triggern, wie man heute so schön sagt. Der Name Stokowski insbesondere löst bei nicht ganz wenigen Menschen anscheinend so viel aus, dass die ohnehin kurze Zündschnur noch kürzer wird. Wie sehr übrigens die Twitterfronten inzwischen verhärtet sind, zeigen die Namen, die sich die Fronten selbst geben: Die einen schimpfen über “Linkstwitter”, während die Linkstwitteria mit “Sifftwitter” kontert.

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Zwischendrin, als Mensch, der sich bis vor kurzem noch als halbwegs normal wähnte, fühlt man sich unwohl. Weil man weder für die einen noch für die anderen übermäßig viel Sympathie empfindet. Ich mag es einfach nicht, wenn Menschen brüllen, selbst dann nicht, wenn sie möglicherweise recht haben könnten. Im Geschrei geht selbst das bedenkenswerteste Argument unter.

Wer schreit, gewinnt!

Gut, Twitter, das ist ein Spezialfall. Bei Twitter wird schneller und lauter gebrüllt als anderswo, bei Twitter ist der Begriff “friedliche Koexistenz” aus der Gebrauchsanweisung gestrichen worden. Das heißt aber nicht, dass es anderswo wesentlich kuscheliger oder angenehmer ist. Was Facebook alles angerichtet hat (und immer noch anrichtet), weiß auch eine breitere Öffentlichkeit spätestens seit den letzten und vorletzten Wahlen in den USA. Dass man nach ausgiebigem TikTok-Konsum möglicherweise eine leicht matschige Birne hat, dass die Scheinwelt von Insta selbst Gemütsmenschen aufregen kann, all das weiß man.

Kurz: Man kann sich schon fragen, ob man das alles wirklich haben muss? Die Frage ist mit Bedacht formuliert, zumindest für mich. Ich frage mich zunehmend weniger, ob ich das eigentlich will, diese Frage ist für mich weitgehend geklärt (mit “nein”). Aber: Muss ich das?

Man dürfe das Netz nicht denen überlassen, die am lautesten krakeelen, lautet ein gerne gebrauchtes Argument. Kann schon sein, aber was macht es besser, wenn man in einen Krakeel-Wettbewerb einsteigt? Der aktuelle Stokowski-Shitstorm zeigt mir, dass das ein sinnloses Unterfangen ist. Die wenigen, die es im halbwegs ruhigen Ton versuchen, gehen unter, ansonsten gilt: Wer schreit, gewinnt (was eigentlich genau?). 

Und: Muss ich mich mit meiner Kommunikation überhaupt in einem Umfeld aufhalten, das zunehmend skeptischer gesehen und negativ konnotiert wird? Natürlich kommt man, wenn man im klassischen Sinne etwas verkaufen will, am Social Selling nicht mehr vorbei. Aber halbwegs ernste Botschaften, Kommunikation im konservativen Sinne dessen, dass man sich gegenseitig zuhört und sogar in Erwägung zieht, dass der andere Recht haben könnte? Eher nicht. 

Sogar meine persönlichen Lerneffekte halten sich inzwischen in Grenzen. Es gab Zeiten, in denen ich regelmäßig in sozialen Netzwerken etwas entdeckt habe, was ich nicht wusste. Was ich spannend fand, inspirierend. Inzwischen ist es immer öfter so, dass ich ziemlich genau weiß, wer was postet und was nach einem Post passiert. Man könnte Bullshit-Bingo spielen und manchmal erlaube ich mir den Spaß, nur anhand des Absenders in etwa zu erraten, um was es gehen könnte und wie der Absender die Welt sieht. Meistens liege ich richtig. Das ist zwar lustig, aber letztendlich doch nur Zeitverschwendung.

Das alles ist, ich weiß, schon etliche Mal beklagt worden. Man kommt halt nicht so leicht daran vorbei, wie man sich das in der Theorie und unter Zuhilfenahme vieler guter Vorsätze so vorstellt. Die schiere Größe der Netzwerke macht den Exit nahezu unmöglich, das ist das Perfide an der Sache.

Was man machen kann: Mit Bedacht wählen, mit wem man überhaupt kommunizieren will.  Sehr genau überlegen, was man selbst so äußert. Lieber eine Nacht drüber schlafen und wenn das nicht gehen sollte, dann wenigstens eine Stunde. Bei der Bundeswehr gibt es das Prinzip der “Militärischen Nacht”: Jeder darf sich über alles und jeden beschweren, es muss nur mindestens eine Nacht zwischen dem Vorfall und der Beschwerde liegen. Keine schlechte Idee; das gute, alte “Drüberschlafen”, bevor man lospoltert.

Fast wie im richtigen Leben eben.

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