Von Schwellen, Rennen und Pacing, Teil II: Pacing und Normalized Power
In meinem letzten Artikel habe ich versucht, das Prinzip der Funktionellen Schwelle zu erläutern. Zumindest eine Definition davon, da es auch hier nicht nur eine Theorie gibt, wo sie gesetzt und wie sie am besten ermittelt werden sollte. Vielleicht sollte ich hier ergänzend noch erwähnen dass es auch bei der Arbeit mit dieser Methode der Trainings- und Rennsteuerung vor allem darauf ankommt, bei einer Methode zu bleiben und diese konsequent anzuwenden, damit eine Konstanz in der Datenanalyse gewährleistet ist.
Heute möchte ich nun auf ein Thema eingehen, welches vielen Athletinnen und Athleten oft gehörige Probleme bereitet, einschliesslich mir selbst: dem Pacing.
Zunächst einmal: Was IST Pacing eigentlich?
Ebenfalls so kurz wie möglich erklärt bedeutet Pacing in Training und Wettkampf das Takten, also Steuern der Intensität während der Zeit der Belastung. «Kräfte einteilen» wäre eine andere Bezeichnung dafür. Nur: Wieso einteilen? Man hat doch trainiert, es ist Wettkampf (oder eine wichtige Einheit), da sollte man doch so fahren respektive laufen, so schnell es geht?
In der Tat sieht man auch bei langen Rennen immer wieder Athletinnen und Athleten, die bereits die ersten Meter der Radstrecke selbst eines Ironman mit der Zielstrebigkeit einer Kreissäge angehen. Raus aus der Wechselzone, mit einem Stunt aufs Fahrrad, der Tom Cruise vor Neid erbblassen und die eigene Karriere überdenken lässt und dann Kraft auf die Pedale, dass die Kette um Gnade ächzt und die Kurbeln beginnen, sich zu verbiegen.
Je besser man trainiert ist, desto länger kann man die Show durchziehen. Das Finale kommt jedoch immer unverhofft und eher, als man es gerne hätte: Auf einmal fehlt die Energie, dann kommt der Katzenjammer und der abschliessende Lauf, auch wenn er «nur» fünf Kilometer lang ist, wird zur Tortur.
Bitte nicht falsch verstehen. Wie schon erwähnt sind dies Probleme, die auch mir selbst aus zahlreichen Rennen nur allzu gut bekannt sind und meine eigene Lernkurve war alles andere als konstant. Je erfahrener ich wurde, desto mehr traute ich mir zu und nachdem auch meine Trainingseinheiten immer länger und intensiver zu werden begannen, unterlief auch mir mehr als einmal der Fehler, in einem kurzen Trainingsrennen völlig zu überziehen. Da ich nach wie vor jedoch der Meinung bin, dass Triathlon mehrheitlich auch Spass machen sollte und ich dieses frenetische Lospreschen sehr gerne mag, wird sich das auch in Zukunft nicht ändern. Inklusive Stunt vor der Wechselzone.
Sprechen wir jedoch von einem Ironman, gewinnen jedoch eben diese ersten Meter und wie man sie angeht mehr und mehr an Bedeutung. Dies, weil der Tag, egal, wie gut man trainiert ist, so oder so einfach sehr lange werden wird. 180 Kilometer fahren sich nicht am Limit und möchte man anschliessend den Marathon ebenfalls noch in einer guten Zeit laufen, braucht es das Pacing.
Noch vor zehn Jahren hiess das: hör’ auf deinen Körper und fahre stets so, dass du immer noch mehr geben könntest. Viel präziser wurde es selten, da ein Leistungsmesser noch etwas war, das entweder den Profis vorenthalten war oder aber Athletinnen und Athleten, die es sich leisten konnten, das gefühlte Bruttoinlandprodukt eines Kleinstaates für eine Kurbelgarnitur auszugeben. Und selbst dann noch war man darauf angewiesen, im Vorfeld genügend Daten zur Hand zu haben und diese auch noch zu verstehen.
Heute sieht es ein wenig anders aus. Selbst der simpelste Radcomputer von Garmin kann uns in Echtzeit Zahlen anzeigen, die man dazu anwenden kann, seine Kräfte nicht nur gut einzuteilen, sondern sie auch so zu sparen, dass man mehr oder weniger erholt vom Rad steigt. Mehr oder weniger. Einmal mehr: 180 Radkilometer gehen nie spurlos an einem vorbei, auch nicht 90, nicht 40 und, wenn ambitioniert angegangen, auch nicht 20.
Wenn wir also davon ausgehen, dass ein gutes Pacing bedeutet, die Leistung auf dem Rad so einzuteilen, dass anschliessend noch gelaufen werden kann, dann würde das voraussetzen, dass man über eine Art Fixpunkt verfügt, an dem man sich orientieren kann.
Diesen gibt es auch, oder besser: deren vier, angeführt von eben jener Funktionellen Schwelle. Mit von der Partie sind die Metriken der Normalized Power (kurz NP), des Intensitätsfaktors (IF) und des Variabilitätsindex’ (VI).
Hört man diese Begriffe zum ersten Mal mag es vorkommen, dass sich das Gefühl breit macht, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen. Ich möchte nun versuchen, sie so einfach wie möglich zu erklären. Vorweg muss ich hier noch abschliessend erwähnen, dass diese Zahlen stets so gemessen werden, dass dabei die vorhandene, Funktionelle Schwelle als absoluter Wert von 100% gesetzt wird. Die Funktionelle Schwelle, wohlgemerkt, nicht etwa eine Anaerobe Schwelle, eine Kritische Schwelle oder sonst etwas. Also: Das individuelle Leistungsmaximum ohne signifikanten Einbruch über 60 Minuten wird als Wert von 100% gesetzt.
Nun zum ersten Begriff: die Normalized Power. Eine für mich nicht ganz einfach zu verstehende Erklärung für die NP lautet: «Normalized Power definiert die Leistung, die erbracht worden wäre, wenn die gefahrene Strecke völlig gleichmässig absolviert worden wäre».
Das sind mir definitiv zu viele «Wenns» und «Wärens», weshalb ich es gerne hiermit versuchen möchte: Die NP zeigt den effektiven Einfluss der erbrachten Leistung auf den Körper an. Ein kleines Beispiel: Fährt man eine Strecke mit einer Durchschnittsleistung von beispielsweise 180 Watt, jedoch 200 Watt NP, so ist der Körper eben so ermüdet, als hätte er die entsprechende Strecke mit 200 Watt absolviert.
Wie kann das sein?
Hier hilft ein weiteres, kleines Gedankenexperiment. Nehmen wir einmal an, die Funktionelle Schwelle einer Athletin oder eines Athleten befindet sich bei 200 Watt. Rein rechnerisch. Wird nun also eine volle Stunde ganz konstant bei 75% dieses Wertes, also 150 Watt gefahren, so wird er oder sie anschliessend kaum ermüdet sein und sich unter Umständen sogar besser erholt fühlen, als vor der Einheit. In diesem Falle würde sowohl die Durchschnittsleistung als auch die NP bei eben jenen 150 Watt liegen.
Fährt man jedoch alles anderes als konstant, sprich, sprintet den einen oder anderen Hügel hinauf, beschleunigt nach einer Ampel mit maximaler Kapazität und lässt sich auf ein paar Geplänkel mit einem Elektro-Rad ein, so wird nach einer Stunde die Durchschnittsleistung sehr wahrscheinlich UNTER den 150 Watt liegen. Dies erklärt sich daraus, dass man vermutlich nach jedem Peak erst einmal die Beine locker lässt. Wie sieht es aber mit der NP aus?
Diese wird, je nach Intensität und Häufigkeit der Tempovariationen, sehr wahrscheinlich ÜBER den 150 Watt liegen, und zwar zwischen zehn und beliebig viel darüber. Bringt man nach so einer Fahrt also einen Durchschnittswert von vielleicht 145 Watt nach Hause, hat jedoch eine NP von 185 erreicht (was ein Extremfall ist, doch geht es hier, wie gesagt, um das Beispiel), so wird sich zumindest der Trainer nicht darüber wundern, dass seine Athletin oder sein Athlet anschliessend deutlich ausgelaugter ist, als es eigentlich der Fall sein sollte. Grund dafür ist, einmal mehr, der Stoffwechsel: bei einer gleichmässigen Leistung hat der Körper die Möglichkeit, seine Energie ebenso gleichmässig und zuverlässig zu beziehen und braucht nicht auf Reserven zuzugreifen, die irgendwo noch vorhanden sind.
Wird dagegen hektisch und explosiv, kurz, unregelmässig gefahren, sieht das ganz anders aus: Hat der Körper bei der gleichmässigen (und verhältnismässig tiefen) Belastung die Energie mehrheitlich aus Körperfetten gezogen, so wird er in Peaks und Sprints mit Gewalt aus diesem Modus herausgerissen. Jeder Sprint zieht somit nötige Energie aus den Muskeln, bis irgendwann schlicht nichts mehr da ist und ein Zustand der Erschöpfung eintritt, der auch nach einer relativ kurzen Einheit noch ziemlich lange anhält.
Aus diesem Grund ist die Durchschnittsleistung zwar eine sehr wertvolle Metrik, für das Pacing in einem Triathlon jedoch immer auch eine Quelle der Gefahr. Weit wertvoller ist in diesem Zusammenhang die NP, welche weitaus objektiver darüber Auskunft gibt, wie erschöpft oder eben nicht erschöpft man vom Rad steigt.
«Schön und gut», wird sich mancher sagen. «Nur: was mache ich mit diesem Wissen? Ich habe ja keine Ahnung, wo sich meine NP befindet wenn ich im Rennen bin…»
Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Doch. Man hat heute genau diese Möglichkeit, da die meisten Fahrradcomputer und auch Sportuhren wie gesagt in der Lage sind, genau diese Daten in Echtzeit anzuzeigen. Selbst auf meiner unterdessen mehrfach überholten Garmin Forerunner 920 kann ich ein Datenfeld programmieren, welches mir nicht nur die Durchschnittsleistung, sondern auch die aktuelle Leistung sowie die NP in Echtzeit anzeigen. Es ist mir also möglich, eins zu eins mitzuverfolgen, ob ich zu intensiv unterwegs bin oder nicht.
An dieser Stelle bin es nun aber ich selbst, der sagt: «Schön und gut». Denn: All’ das ist nach wie vor für die Katz’, wenn man sich nicht selbst unter Kontrolle hat. All’ das nützt einem redlich wenig, wenn man diese Zahlen als Absolute nimmt und es kann böse enden, wenn man sich zu sehr darauf versteift. Es braucht nur während einer Einheit oder gar eines Wettkampfes dumm zu laufen und der Leistungsmesser den Dienst versagen. Was dann?
Es ist also unerlässlich, sich auch bei noch so vielen Daten nicht einfach Blind auf die Zahlen zu verlassen, sondern immer auch noch dem eigenen Körper Gehör zu schenken. Denn während man mit all diesen Zahlen zwar sehr objektiv arbeiten kann, ist es am Ende immer noch der Körper, der entscheidet. Und der ist nunmal keine Maschine.
Nur schon ein Wetterwechsel während eines Rennens kann dazu führen, dass man buchstäblich einfriert und einfach nichts mehr geht. Setzt man dann die Brechstange an und versucht, die gewünschten Zahlen mit Gewalt auf den Schirm zu bekommen, wird man sein blaues Wunder erleben, wenn es ans Laufen geht.
Auch sollte man nicht dem Irrtum unterliegen, dass mit einer blosser Überwachung der NP von heute auf Morgen der DaVinci-Code des Ironman geknackt wäre. Auch hier braucht es Übung und Erfahrung, um diese Zahlen richtig im jeweiligen Moment zu interpretieren und anzuwenden, was sich nicht in der einen Woche vor dem grossen Tag lernen lässt.
Die Normalized Power ist jedoch nicht der einzige Weg, das Pacing mit Hilfe von Zahlen zu gestalten. Die beiden Werte des Intensitätsfaktors und des Variabilitätsindex’ sind ebenso eine grosse Hilfe. Um sie wird es in meinem nächsten Artikel gehen.
In diesem Sinne: weiterhin gutes Training!
Herzlich,
Fabian
Anmerkung: Es ist mir bewusst, dass ich in diesem Artikel ausschliesslich von der Möglichkeit des Pacings nach Watt gesprochen und die Arbeit nach Herzfrequenz ganz aussen vor gelassen habe. Da dies jedoch ein völlig anderes Kapitel ist, werde ich es in einem anderen Beitrag behandeln.