Warum Ambivalenz total super für dich und dein Team ist – einerseits…

Freue ich mich mit dem Kind, weil es die Schule/die Ausbildung geschafft hat – oder/und bin ich total melancholisch über den Abschied?

Sehe ich im China-Geschäft die Chancen dieses riesigen Absatzmarktes – oder/und fokussiere ich auf die Gefahren von wirtschaftlich-politischer Abhängigkeit, Überwachung etc.?

Steht unser Land direkt vor dem Abgrund, wenn nicht schnellstmöglich neu gewählt wird – oder wäre es nicht gut, vorher noch ein paar grundlegende Entscheidungen mit demokratischer Zweidrittelmehrheit zu treffen, so lange wir sie noch haben?

Ob im Kleinen oder im Großen, im Privaten, im Business oder in der Politik: Bist du auch immer wieder hin- und hergerissen zwischen A und B?

Was so unangenehm ist am Paradox

Und das fühlt sich häufig unangenehm an. Spannung zwischen unterschiedlichen Konzepten/Glaubenssätzen erleben wir tendenziell als unangenehm und wollen sie auflösen. Kohärenz fühlt sich meist besser an als (vermeintliche) Inkonsistenz. Das Konzept der kognitiven Dissonanz beschreibt, wie wir einander widerstrebende Gedanken, Ziele, Wünsche tendenziell auf Linie bringen, indem wir Informationen für uns zurechtbiegen oder ignorieren oder gar leugnen (Festinger, L., Riecken, H. W., & Schachter, S. (2009). When prophecy fails. London: Pinter & Martin).

Es ist natürlich auch nicht immer wahnsinnig funktional, sich permanent in Frage zu stellen. Und wir scheinen Führungskräfte oft dann als stark wahrzunehmen, wenn sie widerspruchsfrei, entschieden und entschlossen sprechen und handeln. Gerade in der Politik hat Zweifeln und Abwägen nach meiner Beobachtung gar keinen guten Ruf, da wünschen sich viele klare Linie, Eindeutigkeit und "Führungsstärke" – gerade in Zeiten von Umbruch und Ungewissheit.

Und gleichzeitig...

kann es einen großen Wert haben, für mich selbst und für meine Umgebung, Ambivalenz und Spannung gut managen zu können. NobelpreisträgerInnen und andere Spitzenkräfte in der wissenschaftlichen Forschung sind, so der Schluss einer Studie, besonders gut darin, mit Widersprüchen klarzukommen (Rothenberg, A. (2011). The Janusian process in scientific creativity. Creativity Research Journal, 9(2–3), 207–231.)

Wie hat Amazon-Gründer Jeff Bezos mal so schön formuliert?

People who are right a lot of the time are people who often changed their minds

Gemischte Gefühle erhöhen offenbar unsere Aufmerksamkeit, schützen uns davor, impulsive und dann falsche Entscheidungen zu treffen. Und offenbar gehen wir dann – das legen Experimente nahe, in denen man Menschen bewusst in Ambivalenzzustände versetzt und ihnen dann komplexe Aufgaben vorgelegt hat – mit schwierigen Situationen günstiger um, verarbeiten Information gründlicher (Fong, C. T. (2006). The effects of emotional ambivalence on creativity. Academy of Management Journal, 49(5), 1016-1030 und Rothman, N. B., Pratt, M. G., Rees, L., & Vogus, T. J. (2017). Understanding the dual nature of ambivalence: Why and when ambivalence leads to good and bad outcomes. Academy of Management Annals, 11(1), 33-72.)

Wer ein so genanntes paradoxes Mindset im Job lebt, kann offenbar zu besonders kreativen Ergebnissen beitragen. Das legt eine Untersuchung an 369 Beschäftigten in 90 Teams nahe, und dafür scheint besonders das Führungsverhalten eine große Rolle zu spielen (Liu, Y., Xu, S., & Zhang, B. (2020). Thriving at work: how a paradox mindset influences innovative work behavior. The Journal of Applied Behavioral Science, 56(3), 347-366.).

In vielen Organisationen gibt es ja ganz viele tatsächliche und vermeintliche Spannungsverhältnisse – manche sind ganz offensichtlich, Qualität vs. Absatz, Mitarbeiterzufriedenheit vs. Kundenzufriedenheit, manche sind subtiler. Führungskräfte, die in Haltung wie in Verhalten diese Widersprüche vorleben, scheinen einen starken Einfluss auf Mitarbeitende und Teams zu haben (Boemelburg, R., Zimmermann, A., & Palmié, M. (2023). How paradoxical leaders guide their followers to embrace paradox: Cognitive and behavioral mechanisms of paradox mindset development. Long Range Planning, 56(4), 102319.)

Aber wie ambivalenter führen?

Klaus Eidenschink sagt in einem sehr hörenswerten aktuellen Interview im sehr hörenswerten Podcast "Good Work" von Jule Jankowski : "Wenn ich weiß, wie heute richtig führen geht und da sicher bin, dann drohe ich, für die Ausnahmen in dieser Regel nicht mehr aufmerksam zu sein. Das heißt nicht zwangsläufig, dass deshalb bestimmte Ideen, was jetzt gutes Führen ausmacht, an denen ich mich bislang orientiert habe, vollkommen falsch sein müssten. Und wenn ich alles nur situativ mache und jeden Moment das warme Wasser neu erfinde, dann drohe ich in die Überlast zu kommen. Dann wird das Leben zu komplex, zu ressourcenträchtig." Tools und Frameworks haben also natürlich ihren Sinn, sowohl für Führungskräfte als auch für jene, die sie begleiten und beraten – solange wir sie nicht verabsolutieren.

Ein demokratischeres Führen, das mehr auf Teilhabe setzt und die Beschäftigten nach ihrer Einschätzung und ihren Meinungen fragt, auch und gerade wenn die im Konflikt zueinander und zu den eigenen Positionen stehen – könnte sicher hilfreich sein, um die Grau- und Zwischentöne sichtbarer zu machen.

Und vielleicht geht es auch und immer wieder darum, der verlockenden Einladung zur Eindeutigkeit zu widerstehen. Und mir selbst und anderen klarzumachen, welchen Wert Doppel- und Mehrdeutigkeiten haben können – so anstrengend sie auch sein mögen.

❓Wie gehst Du mit Ambi- und Multivalenz um? Was findest Du anstrengend daran – was hilfreich?

Was ich ohne jeden Zweifel sagen kann: Danke fürs Lesen, Kommentieren, Teilen!

Dir und euch eine gute Woche mit produktiven Widersprüchen!

PS: Du machst, ihr macht, Sie machen das gut!