Warum Dringlichkeit 2023 zur Managementaufgabe wird

Warum Dringlichkeit 2023 zur Managementaufgabe wird

Die größte Herausforderung unserer Zeit wird die Klimakrise bleiben. Kein Problem ist drängender, oder hat fatalere Folgen. Aber noch agieren die meisten Marken und Unternehmen halbherzig. Wie viele Warnungen braucht es noch? Warum wir im nächsten Jahr statt eines Purpose eher einen Sense of Urgency brauchen.

Wer hätte gedacht, dass Markensuppen im Kampf um die Zerstörung des Planeten noch eine so relevante Rolle zukommen würde. Sei es die Campbell-Soup, dessen Dose der US-amerikanische Andy Warhol einst portraitierte, oder auch die Tomatensuppe von Heinz-Ketchup. Seit kurzem werden sie – wie übrigens auch Kartoffelbrei – in diversen Aktionen von „Just Stop Oil“ in England oder der „Letzten Generation“ in Deutschland zweckentfremdet.

Die Wut der Klimaaktivist:innen ist inzwischen so groß, dass sie die Antlitze Alter Meister mit Suppen bekleckern, um auf die bevorstehenden Katastrophen aufmerksam zu machen. Die Massage: Ohne Natur ist auch Kultur nichts. Es sei dahingestellt, ob man das gut findet oder sich fragt, wie verhältnismäßig die Aktionen am Ende seien.

Eines lässt sich nicht von der Hand weisen: Wir haben nur noch wenige Jahre, um eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten zu ermöglichen. Das Zeitfenster schließt sich, getan hat sich bisher wenig. So bringt es UN-Generalsekretär António Guterres eindringlich auf den Punkt: „Wir haben die Wahl. Entweder handeln wir zusammen oder wir begehen kollektiven Suizid.“

Überall Scheinriesen der Nachhaltigkeit

Wie agieren Markenunternehmen in dieser Situation? Da gibt es (wieder einmal) den Gründer der Outdoormarke Patagonia, Yvon Chouinard, der das Unternehmen an gemeinnützige Stiftungen übertragen hat – sei persönlicher Einsatz beim Kampf gegen die Klimakrise. Dieser Schritt geht in einem höchst glaubwürdigen Brandaktivismus auf, der bereits über Jahrzehnte andauert.

Auf der anderen (leider stark überwiegenden) Seite stehen die Unternehmen, die sich tatsächlich nur auf ein Minimalziel einigen können, nämlich den Ausstoß der CO2-Emissionen oder den Energieverbrauch zu reduzieren. Ein Report von McKinsey legt nahe, dass 83 Prozent der 500 global größten Unternehmen sich auf ein Klimaziel einigen können.

Allerdings ist der Ausstoß an CO2-Emissionen als einzige Kennziffer nicht ausreichend: Lediglich 100 Konzerne stoßen 70 Prozent aller CO2-Emissionen weltweit aus. Alle Groß-Emittenten stammen aus der Erdöl-, Gas-, Bergbau- oder Kohleindustrie – und sehen aufgrund der derzeitigen Nachfrage nach ihren umweltschädlichen Produkten keine Notwendigkeit, einen echten Wandel herbeizuführen. Der Erdölkonzern Shell lässt sogar Studien verfassen, die uns alle dazu raten, saisonaler zu essen und mehr zu recyclen. Wer so anmaßend agiert, wälzt Verantwortung ab.

Noch einsamer wird es, wenn man nach Unternehmen Ausschau hält, die tatsächlich aktiv für mehr Umweltverträglichkeit eintreten oder ihren Umgang mit Ressourcen radikal ändern. Wie steht es um die Vermeidung von Plastik, den Schutz von Trinkwasser oder den Artenerhalt? Fehlanzeige! So erkennen zwar 51 Prozent der Unternehmen den Verlust der Biodiversität in irgendeiner Form an, aber nur 5 Prozent haben auch quantifizierbare Ziele zu ihrem Schutz festgelegt, so bei McKinsey nachzulesen.

Die Rede von Nachhaltigkeit bedarf mehr Kontur. Kein Begriff wird mittlerweile so inflationär und dadurch ungenau verwendet – meint er doch häufig einfach alles und nichts. Auch der Purpose als höherer Markenzweck wird meist nur bemüht, um kurzfristig noch kommunikativ Kasse zu machen. Unternehmen fantasieren sich einen Daseinszweck herbei, an der tatsächlichen Art des Wirtschaftens ändern sie nichts.

So kann sich Unilever weiter Gedanken über den sinnstiftenden Beitrag einer Mayonnaise machen oder Henkel ein Umweltlabel verwenden, dass man sich selbst ausgedacht hat, Coca-Cola mottogetreu „die Welt erfrischen“ und gleichzeitig als größter Plastikproduzent die Meere vermüllen.

Machen wir uns nichts vor: Alle Marken, die wir kennen, sind nur Scheinriesen der Nachhaltigkeit, solange sie nicht neben ihrem USP auch ihren Unique Damage Point und damit den einzigartigen Schaden kenntlich machen, den sie verursachen. Und – daraus konsequent abgeleitet – eine andere Form der Dringlichkeit in die Marken- und Unternehmensführung aufnehmen.

„Die größte Nachhaltigkeitsfalle“, erklärt der Kulturtheoretiker Kersten Reich im Deutschlandfunk, „entsteht aus der gedanklichen Vorstellung, es gäbe letztendlich immer einen Weg, durch den wir uns nicht wirklich schnell und umfassend ändern müssten.“

Das müssen wir allerdings. Schon jetzt belaufen sich die Kosten zur Umstellung der Weltwirtschaft auf Null-Emissionen bis 2050 auf jährlich 9,2 Billionen Dollar, so hat es McKinsey in einer vielbeachteten Studie berechnet. Das sind 3,5 Billionen Dollar mehr, als heute investiert werden.

Zum Vergleich: Dieser Anstieg entspricht der Hälfte der weltweiten Unternehmensgewinne und einem Viertel der gesamten Steuereinnahmen im Jahr 2020. Weiteres Hinhalten, Ausweichen, Verzögern schadet. Ein Großteil der Menschen weiß es. Unternehmen wissen es. Doch wie kann die Kluft zwischen Wissen und Handeln geschlossen werden?

Strategien für mehr Dringlichkeit

Der US-amerikanische Führungs- und Changeexperte John Kotter stellte in seinem Buch „A Sense Of Urgency“ fest, dass das größte Problem für Unternehmen bei der Umsetzung von Veränderungen darin bestünde, ein Gefühl der Dringlichkeit zu vermitteln. Ein wahrer Sinn für Dringlichkeit sei selten, vor allem, weil „er nicht der natürliche Zustand ist“. Er müsse entweder neu geschaffen oder wiederhergestellt werden.

Zunächst gilt es, Dringlichkeit von Alarmismus abzugrenzen. Dieser beruht in seiner Natur lediglich auf Wut und Angst. Und diese sind, wir wissen es, schlechte Ratgeber. Echte Dringlichkeit aber ist anders geartet: Sie wird vom Kopf her rational entwickelt und gleichzeitig mit Herz und Emotion vorangetrieben.

Sie richtet sich vor allem nach außen, auf ein konkretes Ziel, wobei sie stets auf veränderte Bedingungen achtet und überflüssige Aktivitäten ausschließt. Darüber hinaus wird Dringlichkeit nicht als Druckmittel eingesetzt und rechtfertigt auch nicht, mit weniger mehr erreichen zu wollen. Auch darf sie nicht als Basis für eine Art Drohkulisse fungieren: „Die Sache ist ernst, wir müssen alle sparen und den Gürtel enger schnallen. Mal.“

Ganz im Gegenteil: Dringlichkeit basiert auf einem ruhigen und tiefen Verständnis der Situation, das auch durch Außenstehende geprägt wird, und dem Willen zur Veränderung. Dringlichkeit bedeutet, mit einer konkreten Haltung und Handlung zu einem konkreten Zeitpunkt etwas Konkretes zu bewirken.

Ein solcher Sense of Urgency würde für Ikea beispielsweise beinhalten: Wir wissen, dass im Jahr 2019 für unsere Produkte 21 Millionen Kubikmeter Holz verwendet wurden. Laut der gemeinnützigen Organisation earthsight wurde etwa 1 Baum pro Sekunde gefällt. Das sind mehr Bäume als nachhaltig aufgeforstet werden können. Deshalb haben wir unser „Fast-Furniture-Modell“ überdacht und werden ein Abomodell für Möbel einführen, auf eine weitere Internationalisierung verzichten und eine Nichtregierungsorganisation für die Aufforstung ganzer Wälder einsetzen.

Jeder Dreiklang für einen Sense Of Urgency ist so aufgebaut: Eigenes Wirtschaften schonungslos reflektieren, Schlüsse ziehen, eine Reihe von Maßnahmen umsetzen. Nach Innen sollte das jedes Markenunternehmen bereits tun, neu wäre es, diesen Sense of Urgency auch nach Außen zu kommunizieren, um die eigenen Ziele transparent zu machen und die Öffentlichkeit quasi als Korrektiv einzusetzen.

Konsument:innen sind zunehmend daran interessiert zu wissen, an welchem Punkt der Nachhaltigskeitsreise ein Unternehmen oder eine Marke steht und was für Entwicklungsschritte es bereits unternommen hat. Darauf deuten aktuelle Studien wie zum Beispiel die Hubert Burdia Media Insights hin.

69 % der Befragten honorieren demnach Unternehmen, die versuchen, auch dann umweltfreundlich zu wirtschaften, obwohl das ultimative Ziel der Klimaneutralität noch nicht vollständig erreicht ist. Nachhaltige Wege einschlagen und darüber reden, für den Großteil der Befragten ist diese Haltung wichtiger als Profitstreben.

Darüber hinaus verlangt schon allein unser heutiges Medienumfeld mehr Aufrichtigkeit in der Darstellung. Der Aufwand, den Markenunternehmen betreiben, um die Kehrseiten des Konsums und die klimafeindliche Produktion zu verschleiern, wird immer größer werden. Warum also nicht jetzt schon gegensteuern? Warum die Schadbilanz nicht offener kommunizieren und sie als Argument für neue Strategien, neue Handlungsdevisen nehmen?

Marketingprofis werfen natürlich an dieser Stelle berechtigterweise ein, dass positive Emotionen der heilige Gral sind und jegliche negative Vibes den gesamten Prozess stören. So mag es auch bisher gewesen sein. Bevor wir die Grenzen des Wachstums überschritten hatten – und dieser Sommer der kälteste Sommer für den Rest unseres Lebens gewesen sein wird. Bevor das größte Artensterben seit 66 Millionen Jahren eingetreten ist. Bevor mehr als siebeneinhalb Milliarden Menschen auf einem sterbenden Planeten beginnen den Preis dafür zu bezahlen, dass Unternehmen weiter Rekordgewinne einfahren. Ein Purpose allein reicht nicht aus, um der Dringlichkeit zu begegnen. Die Art und Weise des Wirtschaftens muss sich ändern. Dafür braucht es einen neuen Sense of Urgency.

Mit großer Macht kommt große Verantwortung. Tragt sie. 

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