Warum von Schnelligkeit in einer komplexen Welt nix zu halten ist
„Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit!“ Kaum einer der lautstarken Kongressgranden für disruptive Veränderung wird müde, diese Kassandrarufe unablässig und in variantenreicher Verpackung ertönen zu lassen. Ohne rote Ohren, aber mit viel Schaum vorm Mund wird die sofortige digitale Transformation der Wirtschaft als propere Sau durchs Dorf getrieben und ein radikaler Paradigmenwechsel in der Wertschöpfung durch alle Lautsprecher der Kongresssäle gebrüllt.
Es wird Zeit, mal den Druck aus dem Geschwindigkeitskessel abzulassen und aufgeregtes Handeln durch ausgewogenes zu ersetzen. Aus dreierlei Gründen kann man nämlich den dogmatischen Ruf nach der Schnelligkeit getrost in die Mottenkiste wegelagernder Businesskasper packen und auf Stumm stellen ohne etwas zu riskieren.
1. Empirische Belege: Mangelware
Trotz gebetsmühlenartiger Appelle: Es gibt keine empirischen Belege für einen signifikanten Zusammenhang zwischen geschwinder Anpassung von Geschäftsmodellen an die technologischen Möglichkeiten und nachhaltigem Erfolg. Im Gegenteil: Gerade in komplexen Situationen ist ein abwägendes und aus mehreren Perspektiven analysierendes Verhalten angemessener als das Vorpreschen und First Mover-Gehabe der Zukunftsauguren. Schnelligkeit verengt nämlich den Blick und verleitet zur Wiederholung früherer Erfolgsrezepte. Verheerende Fehlentscheidungen sind oft die Folge von selbst verordnetem Zeitdruck, der das Prinzip Mehr vom Gleichen erst möglich macht und Entscheider am Ausprobieren und Experimentieren hindert. Zuendedenken wird ersetzt durch Vorpreschen. Die Liste nicht zu Ende gedachter Managemententscheidungen ist lang. Sie reicht vom Weltkonzernziel eines schwäbischen Autobauers bis zur atemberaubenden Kulturtransformation eines staatlichen Verkehrsbetriebs oder zum egogetriebenen Strukturwandel eines ehemals erfolgreichen Einzelhandelskonzerns. Auch die rasante Ökonomisierung des privaten Krankenhaussektors mit Renditerekorden im zweistelligen Bereich zeigt die katastrophalen Auswirkungen eines engen quartalfixierten Targetings auf die Qualität der medizinischen Leistung und das Engagement von Mitarbeitern. Schnelligkeit darf daher nicht das Argument für eine zukunftsfähige Unternehmensentwicklung sein. Multiperspektivität, Vernetzung und Ausprobieren schaffen dafür bessere Voraussetzungen.
2. Technikdominanz führt zur Unwucht
Brauchte man vom mechanischen Webstuhl zum automatisierten noch fast ein Jahrhundert, liegen in der Chip-Technologie oder künstlichen Intelligenz die Entwicklungssprünge heute atemberaubend schnell im Quartalsbereich . Vom ersten Taschenrechner 1971 vergingen noch vier Jahre bis zum ersten Personalcomputer von Commodore. Vom mobilen Handy zum rechnerfähigen schon nur noch ein halbes. Die Radikalität der Geschichte der Technik der letzten Dekade hinterlässt Spuren: Die rein technologischen Fortschritte führten zu einer Scheuklappenbewehrten technischen Optimierung von Prozessen und Produkten. Obwohl man in der Menschheitsgeschichte nachhaltig gelernt hat, dass alles was automatisierbar, digitalisierbar und standardisierbar ist, über kurz oder lang auch so erfolgen wird, spart man sich die Sensibilisierung für deren Neben- und Fernwirkungen. Mit wehenden Fahnen hält die künstliche Intelligenz Einzug in die Robotik und diese in soziale, industrielle und administrative Geschäftslogiken der Wirtschaft. Speichertechnologien und Algorithmen forcieren das Durchdringen der Geschäftswelt – nach Studien der London School of Economics können bis 2025 51 % der Jobs von Automaten übernommen werden – quer durch alle Qualifikationsniveaus. Die technischen Entwicklungen rasen im Galopp durch die Forschungsinstitute und Unternehmensabteilungen. Cloudbasierte CRM-Lösungen und Algorithmen revolutionieren die individuelle Kundenansprache, humanoide Roboter dringen in die chronisch unterbesetzte Altenpflege ein und selbstlernende Industrieroboter optimieren selbstständig Produktions- und Ablaufprozesse. Terabytespeicher lagern das weltweite Erfahrungswissen von Nuklearmedizinern und liefern computergesteuerten Diagnoseprogrammen die Datengrundlage für die Befundung von MRT-Bildern. Das technische System hat sich längst vom Menschen emanzipiert und lässt ihn in seinen Ängsten und Unsicherheiten allein. Zuerst ersetzte es seine Muskel- und jetzt seine Geisteskraft. Die Kenntnis der Auswirkungen auf das Denken, Fühlen und Wahrnehmen von Menschen korreliert jedoch immer noch signifikant negativ mit dem technischen Fortschritt. Aus den systemischen Unwuchten zwischen den unterschiedlichen Geschwindigkeiten von sozialer und technischer Welt droht unausweichlich der systemische Kollaps. Szenarien und Modelle einer sozial- und technikverträglichen Arbeit und Wirtschaft sind daher unabdingbar, wenn man das Auseinanderdriften von langsamer Menschwerdung und hochgeschwinden technischen Entwicklungen miteinander versöhnen möchte.
3. Komplexität verhindert Kausalität
Der Veränderungsdruck ist komplexen Ursprungs. Gleichzeitig treffen Entwicklungen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten aufeinander (s. 2.) Grundbedürfnisse des Verstehens und Erkenntnisgewinn kollidieren mit dem menschlichen Grundbedürfnis nach Kontrolle. Renditeoptimierungen stehen gesunden Arbeitsbedingungen im Weg. Investitionen in Zukunftsbereiche führen zur Verkappung an traditionellen Stellen: Kein Eingriff in die Unternehmensstruktur bleibt ohne Neben- und Fernwirkungen. Kausale Zusammenhänge sind längst nonlinearen und unberechenbaren chaotischen gewichen. In einem solcher Art vernetzten Systemzustand allein auf das Merkmal Geschwindigkeit zu setzen, ist völlig unangemessen und vielleicht nur psychologisch als Ergebnis einer Kontrollillusion zu verstehen.
Der Auftrag an Entscheider zum Umgang mit derlei Abhängigkeiten liegt darin, aus mehreren Perspektiven Fragestellungen und Veränderungsziele zu betrachten, um daraus problemrelevante Aspekte in ihrer Vernetzung und systemischen Auswirkung identifizieren zu können. Schnelles Handeln wird dies kaum möglich machen, genauso wenig aber auch Stillstand. Die Konsequenzen fürs Zukunftshandeln liegen wohl darin, proaktiv zu experimentieren, die Meinung vieler zu integrieren und eindimensionalen Erfolgsrezepten abzuschwören.
...und was nun?
Mögen die schönsten Visionen einer erträumten oder herbeigeredeten Zukunft noch so sehr zur Schnelligkeit antreiben , sie bleiben fragil. Neue Zukünfte skizzieren, ihre Bedingungen erahnen, Ressourcen dafür aufbauen und die Köpfe und Herzen der Menschen etwa durch Partizipation dafür gewinnen, werden tragfähigere Fundamente der Veränderung gießen. Wer nicht atemlos aus der Highspeedkurve fliegen will, sollte dabei Realitätssinn, Perspektivenvielfalt, geteilte Erfahrungen und Querdenken mit systemischen Methoden kombinieren. Daraus wird dann eher ein Stoff, aus dem Zukunft und Transformation entstehen – nicht aus Geschwindigkeit.
Walter Braun bloggt regelmäßig auf www.system-management.com über Verkrustungen, Veränderungen und Dummheiten in der Businesswelt und hilft Unternehmen, Veränderungen systemisch zu meistern.
Home Instead - Zuhause persönlich umsorgt
7 JahreWie wahr ! Ein außergewöhnlich guter Beitrag Absolut lesenswert !