Wer ist besser, die Schweiz oder Deutschland?
Was konnte man nicht alles lesen und hören nach dem Olympiaout der Schweiz gegen Deutschland: Debakel, Schmach, Schock, Katastrophe, unser Coachingstaff besteht aus Eseln usw. Ich staune immer, wie so ein mehr oder weniger zufälliges Overtimetor die nachträgliche Berichterstattung derart krass verzerren kann.
Zeit, für eine nüchterne Betrachtung des Sachverhalts denn diese emotionalen Statements sind zwar förderlich für die “Klickrates” der Artikel, haben aber mit der Realität wenig bis gar nichts zu tun. Die nüchterne Betrachtungsweise bringt folgendes zu Tage: Die knappe Niederlage in der Verlängerung gegen Deutschland ist eine Niederlage gegen ein völlig gleichwertiges Team in einem Spiel bei dem die sachliche Vorhersage eine 50%ige Gewinnchance für beide Teams angezeigt hat. Das tatsächliche Spiel hat diese Vorhersage gestützt, es war ein typisches 50/50-Spiel mit leichten Vorteilen für die Schweiz in den ersten zwei Dritteln und mit Vorteilen für Deutschland im dritten Drittel. Die logische Konsequenz: Verlängerung… und in Verlängerungen hat man nichts im Griff, da entscheidet meistens eine Zufälligkeit. Wenn irgendein Coach auf dieser Welt behauptet, dass er den Spielausgang bei einer Sudden-Death-Verlängerung kontrollieren kann dann lügt er. Höchstens beten hilft, was ich persönlich allerdings ebenfalls bezweifle denn falls es Gott gibt, dann ist er nur dann tatsächlich Gott wenn er, um bei diesem Beispiel zu bleiben, die Deutschen und die Schweizer gleich lieb hat…
Die Analyse:
Schweiz gegen Deutschland ist seit gefühlt ca. 20 Jahren immer – d.h. fast ohne Ausnahme – ein Duell auf Augenhöhe mit wenigen Toren und allermeistens mit geringen Tordifferenzen. Sehr enge Spiele, mal gewinnen die Deutschen knapp und mal gewinnt die Schweiz knapp. Genau so war auch dieses Spiel.
In den Leadmedien wird mal wieder krachend über den Coach diskutiert, die Mehrheit findet ihn kaum mehr tragbar, eine Minderheit verteidigt ihn (noch), aber er ist fast überall der Themenmittelpunkt der Diskussionen und exakt dies führt auf die völlig falsche Spur. Ich will in Erinnerung rufen, dass die Schweiz in den letzten 20 Jahren mit Coaches wie Krüger, Simpson, Fischer, Hinz oder Kunz - spielt alles gar keine Rolle - in den Duellen gegen Deutschland immer etwa gleich „performt“ hat: Enge Spiele, fast keine Tore und mehr oder weniger zufällige und wechselnde Sieger. Hinzu kommt, dass bei diesem Olympiaturnier die Schweiz zum ersten Mal in der Eishockeygeschichte sehr ernsthaft unter der Absenz der NHL-Spieler gelitten hat. Die Schweiz musste auf den Weltklasseverteidiger Roman Josi, sowie die gut bis sehr guten NHL-Stürmer Niederreiter, Fiala, die recht guten NHL-Stürmer Sven Bärtschi, Timo Meier und Denis Malgin verzichten. Hinzu kommt das Prunkstück des Schweizer Hockeytafelsilbers: Nico Hischier. Bei den Deutschen fehlte lediglich ein “High-End-Spieler”, Leon Draisaitl, plus mit Tobias Rieder ein zusätzlicher Spieler, der eine spürbare Verstärkung gewesen wäre. Noch einmal: Die seit gefühlt Jahrzehnten immer sehr engen Spiele gegen Deutschland plus die markanten Absenzen der Schweizer… und trotzdem konnte man im Vorfeld - und teils auch noch danach - fett und laut lesen, dass die Schweizer klar zu favorisieren seien gegen Deutschland, „talentmässig sind die Schweizer Spieler den Deutschen haushoch überlegen“ usw.: Dies war und ist kontraproduktiv und vor allem völlig realitätsfremd. Leider hat auch unser Coachingstaff zu dieser unpässlichen und gegenüber dem Deutschen Eishockey respektlosen Rhetorik beigetragen: Es wurde von einer Medaille fabuliert bevor auch nur schon die Teams auf Augenhöhe besiegt werden konnten. Wenn man die beiden am olympischen Turnier beteiligten Teamrosters analysiert dann ist es völlig klar, dass beide Teams ungefähr gleich stark besetzt waren; auch diesbezüglich ein sehr klares Indiz für ein extrem enges Spiel… und noch einmal: Es war ein extrem enges Spiel. Deutschland hat nicht dominiert und 4:1 oder 5:1 gewonnen. Diese Overtimeniederlage als Debakel oder Schmach zu titulieren ist eine kaum nachzuvollziehende Beleidigung der Deutschen.
Den jetzt etwas euphorisierten Deutschen will ich aber auch in Erinnerung rufen, dass dieser Olympiaerfolg über die grundsätzliche Substanz im Deutschen Eishockey hinwegtäuscht. Denn ja, die Schweiz ist aktuell besser im Eishockey als Deutschland, aber nur wenn alle NHLer mit dabei sind. Mit allen NHL-Spielern würde ich die Schweiz mit 60 zu 40 favorisieren, die Schweiz würde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit 6 von 10 Spielen gewinnen. Zudem behaupten sich die Schweizer Juniorenauswahlen seit Jahren in den Topdivisionen, ganz im Gegensatz zu den Deutschen. All diese Schweizer Vorteile gelten aber nicht für die Kader des aktuellen Olympiaturniers und somit ist auch die Coachdiskussion meiner Meinung nach völlig fehl am Platz denn – noch einmal – die Performance war absolut vergleichbar mit den jeweiligen Darbietungen unter Krüger, Simpson, Hinz und Kunz. Einmal mehr lassen sich (zu) viele von uns vom Endresultat in der Beurteilung des Sachverhalts viel zu stark beeinflussen.
Vermutlich besteht aber auch bei den Deutschen die Gefahr, dass sie – ähnlich wie bei den Schweizern nach dem Gewinn der WM-Silbermedaille – diese Olympiamedaille überbewerten und längst fällige Verbesserungen in der Nachwuchsförderung auf die lange Bank schieben. Wir dürfen nicht vergessen: Wenn hier an Olympia die „Kleinen“ gegen die „Grossen“ spielten war das kein übliches Aufeinandertreffen zwischen David und Goliath sondern wegen des Fehlens der NHL-Spieler eher David gegen David, mit Ausnahme der Spiele gegen Russland die ich als David gegen Mini-Goliath betiteln würde. Als Schweizer war ich ein wenig enttäuscht und traurig nach dieser Niederlage denn in einem 50/50-Spiel darf man immer realistisch Hoffnungen auf den Sieg hegen. Wut, Empörung, ja schon fast Hass auf die Verbands- und Coachingverantwortlichen und das Köpferollenfordern ist aber völlig fehl am Platz und vor allem unberechtigt. Auch andere gelesene Ursachenforschungen zielen am Wesentlichen vorbei. Die Berner Spieler wurden in letzter Zeit zu wenig gefordert… aha… wären sie gefordert worden dann würde es heissen, sie waren müde und ausgelaugt. Die Schweiz hatte zu wenig Vorbereitungszeit. Zeige mir andere Teams die deutlich mehr Vorbereitungszeit zur Verfügung hatten, sicher nicht die Deutschen… Unser Coach ist nicht qualifiziert genug denn er hat nie ein Clubteam über längere Zeit geführt und zu wenig Erfahrung als Headcoach. Schon mal was von Marco Sturm und seinem Werdegang gehört? ;-) Die Schweizer Spieler haben in unserer Liga zu wenig Eiszeit und Verantwortung im Powerplay… Hmmm… was glaubt ihr, wie das in der DEL ausschaut?
Die einzig wahre Begründung wieso die Schweizer die Deutschen nicht dominieren liegt in der Spielerqualität. Alles andere sind Nebenschauplätze, Nebelpetarden und maximal kleine, verhältnismässig wenig bedeutende Details. In der technischen und läuferischen Ausbildung der Spieler müssen wir den Hebel ansetzen. Die Qualität der Schweizer Spieler in diesen Olympiakadern ist “nur” auf Augenhöhe mit den Deutschen, liegt aber leider nicht darüber, alles andere ist eine naive und gefährliche Selbstüberschätzung. Wenn unsere Liga so gut ist wie sie hierzulande geschrieben wird: Wieso dominieren dann Teams wie der SCB, der HCD und die ZSC Lions nicht die Championshockeyleague? Gegen Gegner aus völlig ausgedünnten Ligen mit Billigausländern? Wieso gibt es für unsere Ligakrösusse SCB und HCD Niederlagen gegen Teams aus…. äh… stimmt tatsächlich: Wales und England? Dies sind die wahren Schweizer Debakel in der laufenden Saison. Interessanterweise habe ich darüber kaum gross kritische Kommentare gelesen. Dies vermutlich weil bei diesen Clubs mediale Säulenheilige an der Bande stehen. Was hätte sich wohl Hans Wallson anhören müssen wenn der ZSC z.B. gegen Cardiff verloren hätte? Zurück zu den Fragen: Gibt es irgendeinen Schweizer Spieler in unserer Liga der in der DEL dominieren würde? Wohl kaum.
Nicht nur negatives Denken ist leistungshemmend, übersteigert positives Denken ist genauso schädlich. Nur erzielte Erfolge aufgrund von überlegener Performance bilden ein stabiles, gesundes Selbstvertrauen. In Teilen unserer Medien wird seit Jahren unser Hockeyniveau im Stile von “Coiffeurheftli-Psychologie” gutgeredet, vermutlich als gedachtes “Gegengift” zur früher üblich vorauseilenden Unterwürfigkeit gegen vor allem Deutschen Athleten. Jetzt orte ich das Gegenteil, eine in der Rhetorik genauso schädliche, ja sogar lächerliche Uebersteigerung unseres Niveaus. Dies führt vermutlich in Deutschland hier und da zur vermeintlichen Bestätigung, dass wir halt doch ein leicht schrullig, verschrobenes Bergbauernvolk sind, dem man zwar auch schon mal augenzwinkernd und gutmeinend auf die Schultern klopft, das man aber am Ende des Tages nicht wirklich ernst nehmen muss... was uns Schweizern nicht zu selten auch zum Vorteil bekommt ;-)
Die Spielerqualität muss angehoben werden und dies gilt für die Schweiz und Deutschland. Ein langer, steiniger Weg der nur über eine markante Qualitätssteigerung bei der Basisausbildung unserer Hockeykids führt und dies gelingt vor allem dann wenn wir es schaffen, unsere Jugendcoaches noch besser zu machen. Wenn wir nachhaltige Fortschritte erzielen wollen dann muss in diesem Bereich Geld investiert und müssen smarte Entscheidungen getroffen werden. Alle anderen Diskussion – vor allem auch die über den Headcoach der Nationalauswahl – sind Details, die zwar auch nicht gänzlich unwichtig sind, bei uns aber in der vermeintlichen Wirkung völlig übersteigert und viel zu unsachlich diskutiert werden.
Obwohl auch dritte schwedische Auswahlen auf einem guten Niveau spielen so muss sich Eishockey-Deutschland doch bewusst sein, dass sie “nur” eine dritte schwedische und vierte kanadische Auswahl besiegt haben und nicht deren Olympiasieger- und Weltmeisterteams. Dieses Olympiaturnier hat nur wenig mit dem wahren Stärkeverhältnis zu tun hat. Deutschland soll sich auch in Erinnerung rufen, dass sie bis ins Halbfinale am Olympiaturnier kein einziges der 6 Spiele nach normaler Spielzeit gewonnen und zwei davon in normaler Spielzeit verloren hat. Der seltsame Modus liess aber trotzdem zu, dass man mit einer solchen Bilanz ins Halbfinale kommt und jetzt von einer ähnlichen Momentum-Dynamik profitiert wie seinerzeit die Schweiz 2013 beim Gewinn der Silbermedaille. Eishockey-Deutschland darf sich dadurch nicht täuschen lassen. Gleichzeitig soll und darf dieser Erfolg kräftig zelebriert werden und vor allem, er soll dazu dienen, die grossartige Sportart in Deutschland in der Oeffentlichkeit positiver darzustellen, so dass künftig mehr Jungs in Deutschland lizenziertes Eishockey spielen. Dies gepaart mit einer qualitativ besseren Grundausbildung der Kids in den Bereichen Puckskills und Schlittschuhlaufen führt zu einer nachhaltigen Verbesserung im Eishockey, in Deutschland wie auch in der Schweiz. Uebersteigerte Diskussionen über Verbandsstrukturen, Ausländerkontingente, Coaches sind unnötige Ablenkungsmanöver von den wahren Problemen und haben kaum eine grosse Hebelwirkung.
Zum Schluss noch ein wenig Aktualität die bei uns in den Schweizer Medien grossmehrheitlich totgeschwiegen wird. In diesen Tagen gab es in der NHL einen ziemlich beachteten Trade des Deutschen Tobias Rieder von Arizona nach Los Angeles. In der Nacht auf Freitag entzückte mich der Deutsche NHL-Star Leon Draisaitl mit einem sensationellen Game-Winning OT-Assist (empfehlenswert, u.a. auf NHL.com zu finden) und wenn ich in die Zukunft blicke, dann stellt Deutschland mit Dominik Bokk für den kommenden Draft einen late First- oder early 2nd-Rounder. Für 2019 präsentieren die Deutschen mit Moritz Seider ein erstklassiges Verteidiger- wie auch mit Yannik Valenti ein Top-Stürmertalent. Zusätzliches Futter zum Respekt- und Kompetenzaufbau betr. unsere Eishockeynachbarn: Am 22. Februar wurde Michael Grabner, mit 25 Toren der Topskorer der New York Rangers, zu den New Jersey Devils getradet, er wird spätestens im Sommer einen Vertrag in der Region von $ 5 Mio p.a. unterzeichnen. Betreffend Nachwuchs in der Schweizer Liga ist der erst 16-jährige Marco Rossi das meist versprechende Talent und der Name Rossi steht bereits in den NHL-Scouts-Notizbüchern und zwar gross und fett. Grabner und Rossi sind Oesterreicher…
Ich wünsche allen Schweizer Hockeyfans trotz oder gerade wegen ihren enttäuschten Gemütern ein fröhliches Wochenende und den Deutschen eine rauschende Party und danach die demütig mentale Vorbereitung auf die Realität die auch Deutschland bereits an der WM in Kopenhagen/Herning wieder einholen wird. Dies, obwohl Deutschland an dieser WM darauf hoffen kann mit ihrem allerbesten „Roster“ auflaufen zu können, d.h. inkl. Draisaitl und Rieder. Bei den Schweizern schaut’s leider nicht danach aus, trotzdem… und dies sei ein Trost für alle Schweizer Hockeyfans: Falls es zu einem erneuten Aufeinandertreffen mit Deutschland kommen sollte: Die Chancen stehen erneut bei 50:50, Olympiamedaille für Deutschland plus Draisaitl hin oder her.
An dieser Stelle entschuldige ich mich bei den Deutschen Lesern die schon bald im Kampf um Olympiagold mitfiebern. Meine Mahnung zu Demut und Realitätssinn soll aber nicht zur Spassbremse werden; Feste sollen gefeiert werden und zwar ausgelassen! Meine Worte dienen lediglich als mentale Vorbereitung auf die Zukunft, denn ich kenne die aufkommende Erwartungshaltung aus der Schweiz nach deren Silbermedaillengewinn...
Horgen, 24. Februar 2018 / Thomas Roost