Wie man „Heilige Kühe“ und „Elefanten im Raum“ vertreibt

Wie man „Heilige Kühe“ und „Elefanten im Raum“ vertreibt

Unternehmen, in denen man vor unliebsamen Themen die Augen verschließt, gibt es reichlich. Spricht man sie auf ihre veralteten Technologien an, kontern sie mit dem Verlust von Arbeitsplätzen. Dass sie wegen überholter Geschäftsmodelle, Strukturen und Prozesse alles verlieren und komplett vom Markt verschwinden können, wird tabuisiert. Wo Klartext unerwünscht ist und es vor Ja-Sagern nur so wimmelt, lebt das Topmanagement in einer gefährlichen Filterblase – „Executive Isolation“ genannt.

Regelmäßig treffe ich bei meinen Vortragsreisen auf Verantwortliche, die mir Vorgaben machen wollen, was ich alles nicht ansprechen soll, „weil der CEO das nicht hören will.“ Ein Vertriebsleiter erzählte mir, er sei um ein Haar gefeuert worden, weil er vor globalen Lieferengpässen warnte und deshalb die Umsatzzielzahlen revidieren wollte. Seitdem ist er wie erstarrt und macht Dienst nach Vorschrift. Sein Schweigen ist purer Selbstschutz.

Ein anderer wollte mich anheuern, um die Verkäufer zu Höchstleistungen anzuspornen. Das veraltete Produkt hingegen, das sie verkaufen sollten, das aber am Markt längst nicht mehr ankam, wurde nicht auf den Prüfstand gestellt, „weil der Chef es noch immer für gut befand“. Kritik an seiner Denke betrachtete man dort als Sakrileg. Betrat er den Raum, entstand eisige Stille. Niemand traute sich, innovative Ideen zu äußern.

Tabuthemen, die nicht angepackt werden

In nahezu jeder Firma gibt es Probleme, die unübersehbar existieren. Doch man spricht darüber nur hinter vorgehaltener Hand: veraltete Geschäftsmodelle, Regeln und Rituale, die keiner mehr braucht, unzeitgemäße Entscheidungsverfahren, antiquierte Führungsmethoden, eine falsche Fehlerkultur, überbordende hausgemachte Bürokratie, ächzende Meetings, verfehlte Bonifizierungsstrategien und vieles mehr.

Je größer eine Organisation, desto mehr geht es rein um das Bedienen des Apparats. In Hauptverwaltungen wird eben, wie das Wort so schön sagt, hauptsächlich verwaltet. Ausufernde Vorschriftenberge untermauern die Wichtigkeit einer Abteilung und dienen so der Bedeutungserhöhung. Durch eine aufgeblähte Steuerungsbürokratie sorgen einzelne Bereiche überhaupt erst für ihre Daseinsberechtigung.

Produkte von gestern werden am Leben erhalten und Projekte künstlich aufgebauscht, um Ansehen und Einfluss zu stärken. Wer etwas aufgebaut hat, verteidigt dies eisern, um die eigene Stellung zu wahren. Privilegien, Status, Einfluss, dafür haben amtierende Führungskräfte lange gekämpft. Dies freiwillig herzugeben, ist verdammt schwer. Wer morsche Äste absägen will, sollte also nicht diejenigen fragen die darauf sitzen.

Heilige Kühe, die niemand anrühren will

Zum Beispiel heißt es seit Jahren, dass Silo-Strukturen aus der Zeit gefallen sind und nicht mehr funktionieren. Doch (fast) niemand reißt die eigenen Silos konsequent ein. Man dreht zwar an kleinen Schräubchen, nicht aber am großen Rad. Eine Menge bleibt im „Eigentlich müsste man … “ stecken und wird auf „irgendwann später“ vertagt. Verbale Aufgeschlossenheit bei anhaltender Verhaltensstarre nenne ich das.

Die erste Erkenntnis klassischer Manager müsste oft folgende sein: Die wahren Verhinderer, das sind wir selbst. Es bringt zum Beispiel rein gar nichts, wenn ein selbstorganisiertes Team im Schnellsprint ein Kundenprojekt bis zur Umsetzungsreife entwickelt, dieses Projekt dann aber wochenlang in einem klassischen Toplevel-Gremium hängenbleibt, weil dort die mit der „Entscheidungsgewalt“ sitzen.

Da, wo es keinen grundlegenden Erneuerungswillen gibt, kommen die meisten Ideen über das Stadium des Zettelchenklebens nicht hinaus, weil niemand sich traut, sich für sie ins Zeug zu legen. Jedem Neuankömmling wird bereits beim Onboarding eingetrichtert, was man in diesem Unternehmen besser nicht anspricht, weil man sich damit den Mund verbrennt. Die Chance auf einen Blickwinkelwechsel ist somit verpasst.

Wie man die „Elefanten im Raum“ vertreibt

Fortschrittliche Unternehmen schaffen eine Unternehmenskultur, mithilfe derer sie sich adaptiv und dynamisch auf die Turbulenzen unserer Hochgeschwindigkeitszukunft einstellen können. Dies verlangt von einem traditionellen Management, alle derzeitigen Strategien und die damit verbundenen Vorgehensweisen endlich auf den Prüfstand zu stellen – und dabei insbesondere auch die „heiligen Kühe“ zu thematisieren.

„Elephant in the Room“ ist eine gute Methode, solche Themen tabufrei in Angriff zu nehmen. Warum Elefant? Weil es um etwas wirklich Großes geht: ein offensichtliches Problem, das dick und breit im Raum steht und den Zugang zu einer besseren Zukunft versperrt. Es ist unübersehbar, doch alle tun so, als wäre es gar nicht da. Um das zu thematisieren, ist ein Diskussionsworkshop sehr gut geeignet.

Im Mittelpunkt eines solchen Workshops steht folgende Frage:

Wenn es um unsere unternehmerische Zukunft geht, was sind die wahren Hemmnisse und Blockaden, über die zwar offiziell niemand spricht, worüber wir aber unbedingt reden sollten?

Initiiert wird dieser Prozess von jemandem aus dem Top-Management. Arbeitet in diesem Workshop unbedingt mit einer qualifizierten Moderation. 

Am Anfang steht eine Sicherheitsfrage

Psychologische Sicherheit und restlose Offenheit sind in einem solchen Workshop entscheidend. Am besten startet ihr also mit einer Sicherheitsfrage. Zeichnet dazu eine Elfer-Skala auf eine Pinnwand und fragt die Anwesenden so: Auf dieser Skala von null bis zehn: Wie frei denkst du/denken Sie, in dieser Runde reden zu können?

Im Allgemeinen favorisiere ich eine verdeckte Bewertung. Die Gruppenzwänge sind gerade in Unternehmen mit Tabuthemen oft sehr hoch. Niemand will sich mit seiner Meinung isolieren. Die Gefahr, dass erwünschtes Verhalten gezeigt wird und genehme Antworten kommen, ist damit groß. Die Pinnwand mit der Skala wird also am besten umgedreht, so dass die Teilnehmer:innen ihre Bewertung anonym geben können.

Um unbeeinflusst zu sein, schreibt jede Person ihre Zahl auf einen Klebepunkt, bevor es hinter die Pinnwand geht. Liegen Punkte unter sieben, wird das zunächst diskutiert. Meine Erfahrung dabei: Führungskräfte geben in aller Regel eine zu gute Wertung, weil sie sich über- und die organisationale Not unterschätzen. Bei einem interhierarchischen Workshop sollten Führende deshalb ihre Punkte einkreisen, damit das sichtbar wird.

Ein eleganter Start in die Diskussion

Wenn die Unternehmens- und Kommunikationskultur bereits offen und vertrauensvoll ist, könnt ihr eine sehr wirkungsvolle Variante wählen: Holt die Elfer-Skala physisch in den Raum, indem ihr sie auf den Fußboden malt. Die Teilnehmenden sollen sich zu der jeweiligen Nummer begeben. Dann stellt der Moderierende ihnen folgende Fragen:

„Möchtest du den anderen etwas zu deinem Standpunkt sagen?“ Oder:
„Möchtest du jemanden im Raum etwas zu dessen Standpunkt fragen?“

Ein Etappenziel des Workshops ist dann erreicht, wenn sich am Ende alle trauen, Dinge, die sie für eine „heilige Kuh“ halten, offen anzusprechen. Und das sollte stets positiv aufgenommen werden, in diesem Kontext vor allem von den „Haltern der Kühe“.

Und Achtung dabei: Nicht jeder „Elephant“ sieht für jeden gleich groß aus. Für manche ist er riesig, für andere klein wie eine Maus. Maximalziel ist, dass es am Ende keine Tabuthemen mehr gibt und somit Blockaden fortan erst gar nicht entstehen. Und das Minimalziel? Es ist dann erreicht, wenn die Gruppe zumindest sagen kann: Schön, dass wir uns entschieden haben, das endlich einmal glasklar zu thematisieren.

Einsatzgebiete für einen solchen Workshop

Ganze Industrien haben ein Interesse daran, den Fortschritt zu hemmen, um den Wert des Kapitals zu schützen, das in ihren veralteten Technologien gebunden ist. Sie hüten ausgebrannte Feuerstellen, statt mit erhobener Fackel neues Terrain zu erkunden. Viele Chancen lassen sie ganz einfach deshalb verstreichen, weil das Risiko des Scheiterns besteht. Wer scheitert, setzt in tradierten Organisationen seine Karriere aufs Spiel.

Auch das höre ich leider allzu oft: „Unser Umsatz brummt. Wir sind voll ausgelastet. Das Geschäftsmodell stimmt. Die Produkte passen. Es geht uns prächtig. Wieso was ändern, wenn‘s läuft?“ Aufwachen, bitte! Genau jetzt wäre es an der Zeit, beherzt den Sprung in die Zukunft zu wagen. Wenn es einem Unternehmen mal nicht mehr so gut geht, hat es dafür keine Zeit - und gewiss auch nicht den Mut, neue Wege zu gehen.

Kein Unternehmen erzielt Wettbewerbsvorsprünge dadurch, dass die Belegschaft das Übliche tut und sich an Etabliertes hält. Vorsprünge erzielt man im Neuland, durch außergewöhnliche Vorgehensweisen, durch kühnes Handeln und einfallsreiche Ideen. Nicht Konformismus, sondern Mut muss man also in den Unternehmen belohnen:

  • den Mut, anders zu denken,
  • den Mut, anders zu handeln,
  • den Mut, Neues zu wagen.

Nach der Sicherheitsfrage und einer kleinen Wirkungspause werden derartige „heilige Kühe“ nun – vielleicht vorsichtshalber immer noch anonymisiert - abgefragt, priorisiert, diskutiert und idealerweise danach gleich angegangen. Dabei hilft folgende Frage:

Wie wollen wir fortan zusammenarbeiten, um fit für die Zukunft zu sein?

Um gute Antworten auf diese Frage zu finden, kann mein neues Buch „Zukunft meistern“ ein wertvoller Ratgeber sein. Vorträge und Workshops zum Thema mache ich natürlich auch.

Daniel M.

Account Director Government Ostdeutschland bei ALE Deutschland GmbH | Business Development, Sales

3 Monate

Liebe Anne, ganz herzlichen Dank für diesen gelungenen Beitrag bzw. der Darstellung "Der heiligen Kühe". Ich möchte an dieser Stelle gern noch einen Schritt weitergehen. Das Aufrechterhalten des Status Quo, so wie Du es in Deinem Beitrag beschrieben hast, liegt aus meiner Sicht in dem linearen Denken von Führungskräften begründet. Führungskräfte haben oftmals eine System-Intelligenz in einem linearen System entwickelt und folgen in erster Linie dem Rationalem und der Logik, basierend auf Ihrem Wissen. Mit diesem linear bzw. konvergent denkenden Ansatz fällt es Ihnen schwer sich außerhalb Ihrer Komfortzone zu bewegen. Dies ist aber notwendig in die Wachstumszone zu gelangen. Von daher bin ich ein Befürworter und Missionar für eine Kultur, in der das divergente als auch das konvergente Denken gleichermaßen gelebt wird. Wenn Führungskräfte mit einem ausgeprägten konvergenten Denken das divergente Denken anerkennen und es als Bereicherung verstehen, dann verschwinden die heiligen Kühe fast von selbst. Liebe Grüße Daniel

Gernot Höretzeder

Strategy & Operations Experte | Digitalisierung | Advisory | Operational Excellence | Business Software Projekte End-to-End | #simplifyyourprojects

4 Monate

Ich würde die Methode Anne M. Schüller als „Beobachter“ sehen um zu lernen, weil ich glaube, dies könnte einiges aufbrechen. Offenheit, Klarheit, auch mitunter Speed, den es oft brauchen würde durch die vorher genannten Punkte, es geht oft um nicht weniger „als das Business Modell“. Der Impuls in Moderation kann nur von außen im Sinne der Moderation kommen, und ich bin auch der Ansicht: „Elephant in the Room“ als Workshop ist der Startpunkt, nicht mehr - aber wie viele starten? Das ist genau der wichtigste Punkt: TUN! Nicht reden oder negieren…..

Dirk Losch

Scrum Musketeer | Leadership | Agile Mindset

4 Monate

Wunderbar auf den Punkt! Und es wundern sich Unternehmen immer noch, warum ca. 66% der Changes bzw. Transformationen fehlschlagen…

Dr.-Ing. Meike Wiarda

„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ (Franz Kafka)

4 Monate

Diese bildhafte Beschreibung von Ihnen, Anne M. Schüller , können die meisten nachvollziehen. Und überall gibt es - fast schon erstaunlich - engagierte Menschen in allen Altersklassen, die gegen das informelle Gebot des Bürokratenmikados (wer sich bewegt, verliert) verstoßen. Es ist dann oft wie mit der heißen Herdplatte, 2 mal wollen sich die wenigsten die Finger verbrennen, wenn sie doch eigentlich vernünftig und sachlich versuchen, Probleme anzupacken. Beratende haben hier etwas mehr Spielraum, aber auch weniger Freischüsse. Und dann gibt es doch Bewegung: - ein alter Hase w/m/d kurz vor der Rente, der "nichts mehr zu verlieren hat". - ein Technikprojekt mit Startup-Charakter, das mit einer eigenen Struktur und Kultur Erfolg hat. - ein Top-Manager mit einem sehr persönlichen Erlebnis. - ein Unternehmerwechsel. .... Tolle Menschen zu unterstützen, die Elefanten in dünne Scheiben schneiden "Elefantencarpaccio", einfach mal zuzuhören und Ideen zu finden: auf neudeutsch: Purpose.

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