Zeit ist knapp - wirklich?
Photo by Lukas Blazek on Unsplash

Zeit ist knapp - wirklich?

Vom Chronometer und anderen Zeiten

Weihnacht und die Festtage werden von vielen Menschen gerne wahrgenommen als kurze Auszeit, den strengen Terminkalender loszulassen, die hohe Kadenz der Aktivitäten herunterzufahren. Geruhsame Tage, atmen, ausspannen, loslassen!

Nur: Im Januar geht es wieder los mit dem straffen Rhythmus der Tage, mit Projekten, Aufträgen, Terminen ohne Ende – und alles in hohem Tempo. Muss das sein? 

Wir ticken alle gleich

Die genaue Uhr, der Chronometer, vereinfacht die Abstimmung von Arbeiten in Gruppen und Organisation. Man stelle sich vor, jedes Land, jede Region – oder gar jede Unternehmung, jeder Haushalt würde die Zeit individuell definieren... ein Chaos ohne Ende bzw. hohe Abstimmungskosten wären die Folge. Komplizierte, missverständliche Abstimmung von gemeinsamen Treffen oder Abmachungen, Verzögerungen, Effizienzverluste und Ärger wären an der Tagesordnung. 

Seit der industriellen Revolution ist den Menschen die Bedeutung der Uhr zunehmend in Fleisch und Blut übergegangen. Mit der genauen Messung der Zeit, wird auch der Zeitverlust sichtbar. Wer 15 Minuten verspätet zur Sitzung erscheint, verschleudert Zeit – und zwar für das ganze Team. Wenn der Eingang einer E-Mail auf die Sekunde genau gemessen wird, ist für alle Beteiligten ersichtlich, wann eine Antwort verfasst wird: nach zehn Minuten – oder zehn Stunden! 

Wir Menschen sind sichtlich so fasziniert von dieser Information, dass auch das Privatleben nach gleichen Massstäben getaktet wird. Wir verabreden uns mit Freunden zum Abendessen im Restaurant um 20 Uhr – und meinen auch 20 Uhr, nicht 20.30 Uhr! Wer etwas auf sich hält, erscheint zur verabredeten Zeit! Beobachten Sie einmal Liebespaare am Treffpunkt in einem beliebigen Bahnhof. Er – oder sie – kommt (etwas) verspätet: «Heh – chunsch erscht jetzt? Wo bisch gsi? Ich wart scho en Ewigkeit ...!!!»

Die Dominanz der genauen Zeit – in Massen nützlich – kann zur Geisel werden und zum Treiber für Hektik und Hast. Muss das sein?

«Wir gehen dann, wenn alle bereit sind!»

Vor rund 15 Jahren hatte ich Gelegenheit, in einer kleinen Gruppe von Bergsteigern den Piz Palü (3900 m.ü.M. Kanton Graubünden, Schweiz) zu besteigen. Wir waren alle keine Profis, aber begleitet von einem erfahrenen Bergführer. Am Vorabend im Berggasthaus Diavolezza kam natürlich die Frage auf: Wann gehen wir denn morgen los? Erst auf Drängen äusserte sich unser Führer: «Ich wecke euch um 3 Uhr, dann nehmen wir Frühstück – und wir gehen dann, wenn alle bereit sind.» Ein simpler, bescheidener Satz – er ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben! 

Es waren nicht Angaben wie: Wann kommt die Sonne? Wann müssen wir spätestens die Südflanke erreichen? Wann muss der Abstieg beginnen, damit die Schneedecke noch begehbar ist und man nicht zu stark einsinkt? Nein: Die Zeitplanung war ausgerichtet auf die Vorbereitung und die Fitness der Gruppe. Sie orientierte sich am Ereignis «Besteigung Piz Palü»! Es hätte wenig Sinn gemacht, uns als Laien mit einer fixen Abmarschzeit zu stressen! Trotzdem erreichten wir das Ziel und kamen heil zurück. Klar: Der Bergführer hatte eine nach Stunden gerechnete Zeitplanung im Kopf, aber die war flexibel! Fix und verbindlich war das Vorhaben, so zu sagen das Gesamtprojekt. Ein phänomenales und erfolgreiches Erlebnis – aber für uns als wenig erfahrene Bergsteiger war es anstrengend, aber kein Stress.

Mehr Ereigniszeit – weniger Chronometrie

Die Einhaltung von genauen Uhrzeiten ist nützlich – aber nicht immer. Sie hilft uns in der Koordination von Arbeiten, sie ist aber gleichzeitig ein Stress- und Tempofaktor. Stress ist nicht grundsätzlich schlecht, und Tempo muss oft sein. Im Übermass aber wird daraus Hektik, begleitet von Fehlern und Pannen. 

Wir brauchen in der Arbeit wieder mehr Fokussierung auf die wirklich wichtigen Aktivitäten, auf Ereignisse. Konkret: Es braucht jeden Tag Zeitfenster, die uns erlauben am Stück und ohne Unterbrechung konzentriert Tätigkeiten auszuführen. Das setzt aber voraus, Termine realistisch festzulegen – und sich auch nicht künstlich von der Chronometrie jagen zu lassen. 

Das Sprichwort «Gut Ding will Weile haben!» erscheint uns heute unendlich antiquiert, ist aber sehr wohl bedenkenswert. Interessant sind englische Pendants. Da heisst es etwa sehr sinnig: «haste makes waste» oder: «good things are worth waiting for». Genauso bedenkenswert im Französischen: «on ne fait pas les affaires en courant». 

Uhren sind nicht alles – und gehen manchmal falsch! 


Werner Inderbitzin

Ehemals Rektor der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften


www.wernerinderbitzin.ch

Zum Anzeigen oder Hinzufügen von Kommentaren einloggen

Ebenfalls angesehen

Themen ansehen