Frankfurter Rundschau sprach 2019 mit Taleb A. – das Interview im Wortlaut
Taleb A. ist Tatverdächtiger beim Weihnachtsmarkt-Anschlag in Magdeburg. 2019 trat er als Aktivist auf, der Frauen bei Fluchtmöglichkeiten aus Saudi-Arabien unterstützen wollte. Die FR führte damals ein Interview mit ihm, das Sie hier im Wortlaut lesen.
Transparenzhinweis (21.12.2024): Im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt wird Taleb A. als Verdächtiger in den Medien genannt. Deshalb haben wir den Nachnamen abgekürzt. Dieses Interview wurde im Jahr 2019 geführt.
Herr A., es fällt auf, dass die meisten Asylsuchenden aus Saudi-Arabien in Deutschland Frauen sind, im Gegensatz zu anderen Herkunftsländern, wo die Mehrheit Männer sind. Woran liegt das?
Neun von zehn Menschen, die mich aus Saudi-Arabien über das Asylsystem ausfragen, sind Frauen. Von ähnlichen Zahlen berichten auch andere Asylaktivisten. Es liegt vielleicht daran, dass für saudi-arabische Frauen Asyl der einzige Weg zur Gerechtigkeit ist. Selbst wenn eine Frau nicht unterdrückt wird, hängt ihr Schicksal von ihrem männlichen Vormund ab. Es gibt Frauen, die sagen, dass sie gute Ehemänner hätten, die sie nicht unterdrücken, aber sie fragen sich, was passiert, wenn der Mann sterben sollte. Wenn der neue Mann sie schlägt, bekommt sie keine Hilfe. Schutz hat eine Frau nur, wenn sie in ihrer Familie mächtige Männer hat.
Menschenrechtler fordern die Konzerne Apple und Google auf, die App Absher aus den angebotenen Anwendungen zu entfernen. Mit der App können Männer in Saudi-Arabien die Bewegung von Frauen kontrollieren. Andererseits konnten mehrere Frauen mit dieser App auch aus Saudi-Arabien fliehen. Hilft oder schadet das Programm den Frauen?
Wenn es Absher als App nicht gibt, werden die Chancen für die Frauen, aus Saudi-Arabien zu fliehen nicht kleiner. Wenn man die App entfernt, wäre das ein starkes Signal, dass dieses Programm einer modernen Sklaverei dient. Es wäre sogar ein Vorteil, weil die Regierung in Riad so auch verstehen würde, dass die ganze Welt auf sie guckt.
Seit dem Fall von Rahaf Mohammed, die Anfang des Jahres aus Saudi-Arabien floh und von Thailand aus einen digitalen Sturm via Twitter auslöste, steigt die Aufmerksamkeit für saudi-arabische Frauen. Wie hängt das mit dem Fall der 18-Jährigen zusammen?
Es gab schon in der Vergangenheit solche Fälle und die gibt es auch aktuell, die Aufmerksamkeit ist eigentlich noch zu niedrig. Es gibt zwei saudi-arabische Schwestern, die in der Türkei verschwunden sind, es gibt einen Jugendlichen, der erst nach Kuwait und dann nach Thailand geflohen ist und dort auf Twitter von Gewalt und Morddrohungen in der Familie berichtete. Aber in seinem Fall weiß ich inzwischen, dass er durch die saudi-arabische Botschaft in Thailand wieder zurück nach Hause gebracht wurde.
Wieder versuchte also jemand über Twitter Hilfe zu bekommen, welche Rolle spielt das Medium für junge Saudi-Araber?
Twitter war eine Zeit lang das wichtigste Werkzeug für Aktivisten. Wer etwas öffentlich machen wollte, benutzte Twitter. Das Medium funktionierte gut, um öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen. Wenn zum Beispiel eine junge Frau vom Missbrauch durch ihren Vater berichtete, veröffentliche sie auf Twitter ein Video. Aber aktuell tun sie es nicht.
Warum, was ist passiert?
Frauen, die die Übergriffe der Männer anprangerten, landeten in gefängnisähnlichen Einrichtungen. Sie heißen Dar al-Reaya, das sind Heime, und die Regierung behauptet, sie schütze die Frauen. Doch mir versicherten mehrere Frauen, dass diese Heime tatsächlich schrecklicher sind als Gefängnisse. In Dar al-Reaya werden die Inhaftierten erniedrigt, ihnen wird das Leben erschwert. Der Zweck ist, dass die Frauen künftig nicht aus ihren Familien oder von den Männern weglaufen sollen. Die Frauen, ganz egal ob sie gut gebildet und in höheren Positionen arbeiten, wissen dann, dass sie nur die Wahl haben, in Dar al-Reaya zu landen oder bei den Männern zu bleiben, die sie unterdrücken.
Sie haben vor etwas mehr als zwei Jahren die Internetseite wearesaudis.net aufgesetzt, informieren dort über Fluchtmöglichkeiten und Aufenthaltsrecht für saudi-arabische Bürger im Ausland. Wie groß ist das Interesse an Ihrer Seite, an dem Thema?
Ich habe damals die Seite aufgesetzt, weil ich mit Twitter oder einzelnen Antworten nicht mehr hinterherkam. Auf der Seite ist es einfacher, da können auch andere helfen. Bisher haben sich etwa 100 Frauen an mich gewandt, die direkt Schutz suchen, weil sie durch ihren männlichen Vormund vergewaltigt wurden oder immer noch werden. Zu Hause, in ihrer Heimat, finden sie diesen Schutz nicht. Die Behörden unternehmen nichts gegen die Väter oder Ehemänner. Im Gegenteil, die Frauen riskieren, dass sie angeklagt und zu Peitschenhieben verurteilt werden. Das ist die Realität.
Wie hilft den Frauen dann Ihre Internetseite?
Es geht darum, überhaupt erstmal über das Asylsystem zu informieren. Viele wissen nichts darüber. Deswegen ist es auch gut, dass der Fall von Rahaf Mohammed so weit bekannt wurde. Je mehr die Medien darüber berichten, desto mehr Frauen erfahren vom Asylsystem. Es ist ein Weg, auf dem sie in die Freiheit kommen können.
Interview: Viktor Funk
Zur Person und zur Sache
Taleb A. lebt seit 2006 in Deutschland. Er kam als Gastarzt in der Facharztausbildung zum Psychotherapeuten nach Deutschland und beantragte hier später Asyl, weil er für seine Abkehr vom Islam mit dem Tod bedroht worden war. Der 44-Jährige ist als politischer Flüchtling anerkannt.
Die meisten saudi-arabischen Flüchtlinge leben in Ostdeutschland, weil die für sie zuständige Stelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sich in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) befindet. Die meisten Geflüchteten aus Saudi-Arabien sind Frauen.
Seit 2016 haben 161 Menschen aus Saudi-Arabien in Deutschland Asyl beantragt – 89 davon Frauen. Ihre Anerkennungsquote ist hoch, sie liegt bei rund 71 Prozent. (vf)
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