Agiles Arbeiten ist Teamarbeit oder auch: neue Personalkonzepte für den Regionalverkehr!
Eine der schönsten Aspekte am agilen Arbeiten ist für mich der klare Fokus auf Teamwork. In jedes Prinzip, jeden Ablauf und in jede Guideline ist das Zusammen-Arbeiten klar verankert. Dies macht Sinn: je komplexer eine Situation, Frage- oder Aufgabenstellung, desto unwahrscheinlicher ist es, dass eine Person sie allein meistern kann.
Warum ist das so?
Komplexe Situationen, Frage- oder Aufgabenstellungen haben gemeinsam, dass sie ein großes Maß an unbekannten Variablen mitbringen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person nicht alle Kompetenzen mitbringen wird, die es für ihre Lösung braucht. Schließlich wissen wir zu Beginn nicht vollumfänglich, was uns erwarten wird. Es lohnt also, sich kompetenzseitig für verschiedene Szenarien aufzustellen.
Mit zunehmender Komplexität steigt auch die Notwendigkeit, sich mit mehr als einer Person robust oder auch flexibel zu machen angesichts vorab unplanbarer Phasen höherer Last. Denn diese wird es geben. Was auf den ersten Blick vermeintlich gegen Produktivität läuft, ist also bei näherer Betrachtung eine Investition in ein nachhaltig stabiles System; insbesondere dann, wenn Schwachlastzeiten zusätzlich noch für Qualifizierung, die Übernahme anderer Aufgaben oder für Erholung genutzt werden können.
Bei komplexen Situationen kann zudem insgesamt das Risiko für Stress zunehmen, denn wir Menschen gehen sehr unterschiedlich mit Situationen um, die mit Unsicherheit behaftet sind. Eine hohe Anzahl unbekannter Variablen, vor allem in Kombination mit negativen Erfahrungswerten, erhöht bei vielen die Wahrscheinlichkeit, physischer oder auch psychischer Belastungserscheinungen. Das Arbeiten im Team kann hier präventiv wirken. Unsicherheit hält sich einfach insgesamt besser gemeinsam aus bzw. reduziert sich durch die Kombination verschiedener Perspektiven.
Das typische Lehrbuch-Beispiel für komplexe Situationen ist das Segeln; ein Beispiel aus dem echten Leben ist der volle Regionalzug. Der Versuch eines Perspektivwechsels.
Für mich ist der volle Regionalzug ein gutes Beispiel für eine komplexe Situation; vor allem dann, wenn ich ihn mir aus der Perspektive einer Kollegin oder eines Kollegen an Bord ansehe:
Bei Dienstantritt kennst du zwar deine Züge und du hast Erfahrungswerte, die dir Rückschlüsse darauf zulassen was dich während deiner Schicht erwartet. Wie deine Arbeitsrealität dann allerdings in echt aussieht, weißt du erst, wenn du vor Ort in deiner Schicht drin steckst. Erst dann weißt du, in welchem Zustand dein Zug ist und ob deine Fahrten pünktlich sein werden. Oder wie die Fahrgäste so drauf sind. Deine Schicht ist also für dich eine mit vielen unbekannten Variablen behaftete und damit komplexe Situation.
Wie du mit diesen unbekannten Variablen umgehst, wird davon beeinflusst sein, auf welche vergangenen Erfahrungen du zu Beginn deiner Schicht zurückblickst. Positive Erfahrungen werden bei dir vielleicht Antizipation auf deine Schicht auslösen. Negative Erfahrungen können (schleichend) zu einem mulmigen Gefühl bei dir führen.
Empfohlen von LinkedIn
Sofern du nicht zwischendurch für einen kollegialen Wortwechsel vorne zum Zugführer gehst, wirst du in der Regel deine Arbeit allein verrichten und niemanden haben, mit dem du dich während deiner Schicht austauschen kannst. Das gilt für einfache und auch für anspruchsvolle Schichten. Liebe Fahrgäste, pünktliche Züge? Vielleicht kein Thema. Schwierige Situationen, überdurchschnittlich volle Züge, betrieblich angespannte Lage? Niemand da, mit dem du dich austauschen oder bei dem du dir Unterstützung holen kannst? Wahrscheinlich schon ein Thema.
Jetzt stelle dir vor, du bist nicht mehr allein an Bord, sondern hast eine Kollegin oder einen Kollege mit bei dir. Ihr könnt euch in schwierigen Situationen gegenseitig unterstützen oder zwischendurch auch einfach mal ein paar Worte wechseln.
Verändert sich etwas für dich?
Du bist jetzt in der Arbeitsrealität von Kolleginnen und Kollegen angekommen, die vergleichbare Situationen an größeren Bahnhöfen oder auch, in Teilen, an Bord von Fernverkehrszügen bestreiten. Egal was die Schicht so mit sich bringt, es ist bei Bedarf immer jemand da. Bist du ein bisschen wehmütig oder vielleicht sogar neidisch, wenn du das liest und mit deiner eigenen Arbeitsrealität vergleichst? Ich schon. :)
Wozu diese Zuspitzung: das 9-Euro Ticket verdeutlicht, dass wir neben zusätzlichem Angebot und mehr Kapazität auch andere Personalkonzepte für den Regionalverkehr brauchen.
Regionalverkehrsverträge werden mit viel Vorlauf an Verkehrsunternehmen im Rahmen von Ausschreibungen vergeben. Personalkonzepte für die Kolleg:innen an Bord sind in der Regel dort beschrieben; wenn nicht, entscheiden sie sich über den Angebotspreis (je niedriger der Preis für die im Vertrag beschriebene Leistung, desto wahrscheinlicher ist der Vertragsabschluss).
Wenn wir also glauben, dass Teamarbeit die Regel an Bord von, zumindest stark nachgefragten, Regionalzügen sein sollte, dann braucht dies eine Verankerung in den Verkehrsverträgen und eine Berücksichtigung in den Regionalisierungsmitteln. Andere Hebel für Veränderung gibt es praktisch nicht.
Das 9-Euro Ticket kann eine Chance sein, den Regionalzug als komplexes System für die dort arbeitenden Mitarbeitenden zu begreifen. Dies kann der Auftakt dafür sein, über neue Personalkonzepte für den Regionalverkehr nachzudenken. Auch zu Zeiten des Fachkräftemangels kann Teamarbeit ein positiven Beitrag dazu leisten, Stellen im Regionalverkehr für die nächsten Generationen an Eisenbahner:innen attraktiv zu gestalten.