Von Systemgrenzen und… dieser Pünktlichkeit
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Von Systemgrenzen und… dieser Pünktlichkeit

Geht es euch auch so, dass gewisse Themen reflexartig eine Art Beklommenheit auslösen? Mir geht es mittlerweile leider bei der Kombination der Begriffe Pünktlichkeit und Bahn so.

"Pünktlich" heißt bei uns, also bei der Bahn, dass ein Gast bis zu 5:59 Min. nach der ihm versprochenen Ankunftszeit am Bahnsteig steht bzw. sein Zug bis zu dieser zeitlichen Zielmarke in den Bahnhof eingefahren sein muss. Tut er dies nicht, wird die Fahrt von Zug und Fahrgast als unpünktlich gewertet und statistisch als unpünktlich erfasst - rund 25% im Fernverkehr aktuell.

Wer nicht bei der Bahn arbeitet oder regelmäßig die Berichterstattung zu uns verfolgt, wird Schwierigkeiten haben, die Bedeutung dieser Pünktlichkeit mit ihren drei Ziffern für den Alltag und das berufliche Wohlbefinden vieler Kolleg:innen nachzuvollziehen. Ich bin jetzt seit mehr als 13 Jahren bei der Bahn und selbst mir fällt es manchmal schwer.

Ein paar Gedanken begleiten mich allerdings schon seit einer Weile dazu: etwas vereinfacht gezeichnet, blicke ich in meiner subjektiven Wahrnehmung auf 13 Jahre, in denen kluge, engagierte und motivierte Menschen sich an Verspätungsminuten und Pünktlichkeitsstatistiken abarbeiten und darüber auch mal verzweifeln oder resignieren. 13 Jahre, in denen eine Unmenge an Ressourcen in die Jagd nach Prozentpunkten an Pünktlichkeit fließen. Und 13 Jahre, in denen kleine Erfolge nicht zu langfristig stabilen Verbesserungen in Punkto Pünktlichkeit führen. In meiner persönlichen und sehr subjektiven Wahrnehmung reiben wir uns also seit 13 Jahren an diesem Thema auf. 

Das ist bis zu einem gewissen Punkt auch verständlich: Pünktlichkeit ist in unserem Kulturkreis und erst recht bei der Bahn wichtig; losgelöst davon, wie wir sie am Ende definieren. Wir assoziieren mit ihr Verlässlichkeit, Wertschätzung und Qualität. Entsprechend furchtbar fühlt es sich an, wenn wir sie reißen, unpünktlich sind, und damit unsere Gäste enttäuschen. Wer würde da nicht alle Anstrengungen unternehmen, um dies zu durchbrechen und sich gut mit dieser Pünktlichkeit zu stellen?

Wer selbst mal eine Pannenserie hatte und (regelmäßig) unpünktlich war, kann sich da, glaube ich, sehr gut rein fühlen. Da hilft es dann auch nur bis zu einem bestimmten Punkt, sich über die Umstände zu erklären. Unpünktlich bleiben wir, die dadurch entstandene Störung haben andere, völlig gleich der Umstände. Der Schlüssel für eine Veränderung liegt also in uns selbst: ob wir uns anders organisieren, anders planen oder auch daran arbeiten, aus unseren Verhaltensmustern auszubrechen. Was für uns als Individuen gilt, greift ebenfalls für ein Team oder für eine gesamte Organisation.

 Hilft das alles nicht, weil bestimmte Dinge einfach außerhalb unseres Einflusses liegen, dann bleibt uns noch, unser abgegebenes Versprechen, in Referenz zu dem wir entweder pünktlich oder unpünktlich sind, anzupassen.

Das kann die Verabredung sein, zu der wir regelmäßig zu spät kommen, der Sportkurs, den wir regelmäßig mit +5 Minuten betreten, der Termin, der auf uns warten muss. Oder eben die Ankunftszeit, die wir unseren Fahrgästen versprechen und die wir in einem signifikanten Anteil der Fälle nicht halten. Ein Versprechen anzupassen, ist manchmal hart und fühlt sich doof an; es ist in den meisten Fällen anschließend dann aber sehr befreiend und kann heilsam wirken.  

Bei uns, der Bahn, besteht das Versprechen, in Referenz zu dem wir entweder pünktlich oder unpünktlich sind, aus Abfahrts-, Ankunfts- und Umstiegszeiten. Im Ergebnis, ist das dann eine Reisekette, die wir unseren Gästen als Teil unseres Leistungsversprechens verkaufen; ein Versprechen, entlang dessen sich unsere Gäste dann, von uns begleitet, von Start bis Zielbahnhof bewegen. 

Seit also 13 Jahren (und ggf. noch länger, who knows) werden wir diesem Versprechen an Umstiegs-, An- und Abfahrtszeiten in meiner Wahrnehmung nicht stabil gerecht. Ich frage mich daher, ob es so auch nicht an der Zeit ist, diesen Teil unseres Leistungsversprechens konstruktiv kritisch zu hinterfragen: kann es nicht sein, dass wir in unserem Eisenbahnsystem mit seinem immensen Modernisierungsrückstau, seinem erfreulichen Verkehrswachstum (inkl. seiner unerfreulichen "Staubildung" rund um Knoten etc.) an einem Punkt angelangt sind, ab dem wir mit kontinuierlicher Optimierung und Verbesserung auf der Jagd nach Prozentpunkten Pünktlichkeit nur noch bedingt was rausholen können?

Langfristig wird uns hier mit Sicherheit Digitalisierung im Bahnbetrieb helfen. Sie erweitert die Grenzen unseres Eisenbahnsystems durch Modernisierung und macht damit einiges möglich, was heute nicht geht. Wir fiebern ihr entgegen!

Nur was machen wir bis dahin? Laufen wir bis dahin einem Versprechen hinterher, dass wir in den Grenzen des heutigen Eisenbahnsystems vielleicht einfach nicht stabil abliefern können? Und das, egal wie sehr wir uns anstrengen? Halten wir an unserem Versprechen an Reiseketten aus Umstiegs-, An- und Abfahrtszeiten fest und leben wir mit weiteren 13 Jahren, in denen wir sie mit Verlässlichkeit nicht einhalten können? So einen Bahnbetrieb zu digitalisieren dauert lang...

Bei mir wirken diese Fragen nach und sie machen mich sehr nachdenklich: accept what you can't change and change what you can't accept.

Ich freue mich so auch über Anmerkungen und Impulse! 

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