Amerika - eine Zivilisation im Zwielicht
Die aktuelle Diskussion darüber, ob hinter dem Marsch und Sturm auf das Washingtoner Capitol ein veritabler Putsch -Plan steckt oder eher die spontane Aktion eines Mobs von Outlaws und aufgeputschten Borderlinern, verliert schnell die gesellschaftliche Tiefenanalyse aus den Augen. Deshalb soll hier an den Mann erinnert werden, der schon in den 80ern den Verfall der amerikanischen Zivilisation analysiert hat. Anders als Neil Postman, der fand, dass wir uns zu Tode amüsieren, erkennt der postmarxistische Soziologe Morris Berman eine umfassende Gesellschaftskrise. Der betäubenden Entertainment-Maschine weist er nur die Rolle eine einzelnen Krisenphänomens zu. Vier Indikatoren beschreibt Berman, der damit Jahrzehnte nach seinen Veröffentlichungen erschreckend aktuell wirkt. Die Beweiskraft seiner Thesen ist in den aktuellen Entwicklungen live und in Farbe zu besichtigen.
1. Die soziale Ungleichheit bei Einkommen und Chancen
2. sinkende Erträge von Investitionen in die kollektive Lösung sozialer Probleme (Renten- oder öffentliches Gesundheitssystem werden vernachlässigt)
3. Absinken der allgemeinen Lese-, Urteils- und kritischen Aufnahmefähigkeit
4. Statt anspruchsvoller Kunst und Kultur dominieren Kitsch und Entertainment mit dem Ergebnis geistiger Erstarrung
Hinzu treten Esoterik und Fundamentalismus, die die Vernunft dominieren. Eine Philosophie des Me, Myself an I ersetzt staatsbürgerliche Tugenden. Andreas Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“ liefert hierzu aktualisierte Befunde.
Überraschenderweise gewinnt Berman in der historischen Rückschau dem Ergebnis des Sezessionskriegs nicht nur Gutes ab. Das Materielle, das Geld (Nordstaaten) habe über die immateriellen Werte des Südens gesiegt (Ehre, Mut, Höflichkeit, Freundschaft). Die Frage der Sklavenbefreiung spielte nur eine untergeordnete Rolle, die befreiten Sklaven wurden zum Humankapital der Industriegesellschaft des siegreichen Nordens.
Und wer kann uns heute noch retten? Bermans Antwort: Es werden mönchische Individuen sein, die selbstlos eine Wende begründen könnten. Nur ein vagabundierendes, nicht dienstbar gemachtes Denken kann kritische, intellektuelle Energie für eine bessere Zukunft bewahren.
Vor 25 Jahren hatte mich mein Freund Siegfried Stiehl, ehemaliger Informatik-Dekan und Vizepräsident der Hamburger Uni, auf den großen Denker Berman aufmerksam gemacht.
Das Buch von Andreas Reckwitz über eine "Gesellschaft der Singularitäten“: Dank an Christian Büchel!
Mein Lesetipp für Morris Berman:
The Reenchantment of the World, 1981
The Twilight of American Culture, 2000