Beobachtungen zu meiner Branche: Und was, wenn wir uns gerade unsere eigene Abwärtsspirale basteln?
Ich habe länger überlegt, ob ich diesen Beitrag schreibe. Ob es mir zusteht, über „meine“ Branche zu schreiben. Ob es nicht anmaßend ist, über das hier zu schreiben in Zeiten, in denen keine/r weiß, was richtig oder falsch ist. Aber Beobachtungen nicht zu teilen, und nicht darüber zu sprechen, kann auch kein Weg sein. Auch, wenn ich „nur“ ein kleiner Player in meinem Markt bin.
Es geht mir um den Markt rund um Organisationsentwicklung, Beratung, Coaching.
Und ich meine ganz bewusst nicht die Unternehmensberater, die ihre Kunden zur Optimierung von KPIs, Lieferketten oder sonstiges beraten. Sondern diejenigen, die um den Menschen beraten, rund um Arbeitsumfelder, Strukturen, Führung, Agilität,und so weiter. Da gibt es die Kleinen, ein paar große Namen und ganz viel irgendwo dazwischen, wo ich mich nach fast 10 Jahren Selbständigkeit zu zählen würde.
Ich vermute, dass es keinen in dieser Branche gibt, der nicht von Corona und den Auswirkungen drum herum betroffen ist. Manche sehr stark, manche noch nicht so intensiv, weil vielleicht ein paar Kunden nicht so betroffen sind, oder weil manche Beratungsaufträge über einen längeren Zeitraum laufen. Aber gar nicht betroffen? Utopisch.
Wir sind für den Moment nicht systemrelevant. Und das ist auch okay.
Was mich irritiert, ist die Menge an Kostenlos-Angeboten, die ich in meiner Branche wahrnehme. Und damit meine ich nicht die Angebote im Rahmen von Hilfsinitiativen für stark gebeutelte Unternehmen, die begrüße ich sehr. Denn was wir inhaltlich tun, kann genau in solchen Krisensituationen einen extremen Mehrwert leisten. Weil wir von außen drauf schauen. Weil wir nüchtern betrachten können. Weil wir Erfahrung, Wissen und vor allem Können haben, dass helfen kann.
Mir geht es um die Schwemme an kostenlosen Webinaren und Beratungsangeboten, die sich an die breite Masse richten. Ich werde seit Tagen auf Twitter von einer Anzeige verfolgt von einem eher größeren Player, der den ersten 50, die sich melden, kostenlose Beratung anbietet. Und ich habe schon längst den Überblick verloren, wann, wo zu welchem Thema das genau jetzt angeblich absolut notwendige Online-Seminar stattfindet.
Ich denke, ich verstehe die Motivlage dahinter. Wahrscheinlich eine Mischung aus „Wir können helfen“, „Wir wollen sichtbar bleiben“, „Wir wollen einen Fuß in die Tür kriegen“ und einfach nur plumpem Marketing auf der Corona-Welle.
Tja, und warum irritiert mich das, wenn ich doch die Motive verstehe? Weil hinter dem, was meine Branche leisten kann, ein echter, reeller und spürbarer Mehrwert steckt. Wir (also, die meisten von uns) sind wirksam mit dem, was wir machen. Es hat einen guten Grund, dass dem eine der Wirkung entsprechende Gegenleistung gegenüber steht. Nicht jeder Tagessatz ist gerechtfertigt, klar. Und nicht jeder spiegelt den wahren Wert der Leistung wieder. Aber: wir sind wirksam. Und das sind wir nicht einfach so, sondern weil wir Erfahrung, Wissen und Können so zusammengetragen, reflektiert und immer wieder neu gedacht haben, dass wir in der Lage sind, Kundenprobleme zu lösen. Gemeinsam mit den Kunden.
Ein Kostenlos-Angebot, vor allem in der Menge, wie ich es im Moment wahrnehme, empfinde ich als ein fatales Signal.
Denn ich schmälere den Wert meiner Leistung. Ich sende das Signal, dass das, was normalerweise einen Gegenwert hat, den jetzt plötzlich nicht mehr braucht. Was war das also vorher? Wie soll ich das als Kunde interpretieren, wenn ein vierstelliger Tagessatz plötzlich nicht mehr notwendig ist, um meine Leistung in Anspruch zu nehmen? Und gibt es wirklich eine nachvollziehbare Argumentation, die danach wieder den „normalen“ Gegenwert ermöglicht? Was, wenn wir unsere Branche dadurch gerade in eine Abwärtsspirale bewegen, aus der wir nach Corona nicht mehr heraus kommen? Weil keiner uns mehr ernsthaft abnehmen kann, dass die Wirkung unserer Arbeit einen Wert hat?
Versteht mich nicht falsch, auch ich finde im Moment kreative Lösungen mit meinen Kunden. Weil ich weiß, dass meine Beratung, mein Coaching und meine Projekte rund um Organisationsentwicklung für meine Kunden gerade genau den Mehrwert bringen, den sie in dieser Krisensituation brauchen. Und weil ich mir der Situation meiner Kunden und deren Herausforderungen bewusst bin. Ich kenne deren Themen, ich bin nicht umsonst aus absoluter Begeisterung Beraterin. Aber keine dieser Lösungen beinhaltet kostenlose Leistungen. Und keiner meiner Kunden würde das von mir erwarten. Darüber bin ich sehr dankbar, und genau das werde ich aufrecht erhalten. Für mich. Für meine Kundenbeziehungen auf Augenhöhe. Und dafür, dass meine Branche nicht in eine selbstgemachte Abwärtsspirale gerät.
Wie sehr Ihr das? 🤔
Agile Transformation & Digital Strategy Expert | P&L Leader | Driving Growth through Innovation & Organizational Change | C-Level Advisor
4 JahreVielen Dank für deinen Beitrag, den ich nachvollziehen kann. Ich schließe mich der Betrachtung von Kai an und will noch auf einen anderen Aspekt hinaus - auch als Ergänzung für einen möglichen Diskurs. Grundsätzlich bin ich ein Mensch, der versucht, Vorteile zu sehen und sie für die Zukunft nutzbar zu machen. Was sehe ich spontan aus dem Bauch für Vorteile? - Menschen lernen - die Gesellschaft wird schlauer - neue Ideen finden einen Raum - Kreativität wächst - Neue Netzwerke entstehen - Bereitschaft zu geben wächst Beispiel: Plötzlich sind in einem Beta Codex MeetUp, bei dem sonst 20 Leute zusammen kamen, 100 Menschen weltweit vertreten. Darin stecken viel größere Chancen als Risiken. Die Kunst ist es, sich ändernde Rahmenbedingungen zu antizipieren und sich darauf (auch wirtschaftlich) einzustellen. Den Status Quo künstlich zu retten, halte ich für nicht zukunftsorientiert. Und gerade die „agilen Organisationsberater“ sollten die sein, die sich am Besten auf die aktuelle Unsicherheit einstellen können müssten. (1/2)
Psychology Counsellor MBACP accredited
4 JahreVielen Dank Jo Kristof für den anregenden Artikel. Er hat mich darüber nachdenken lassen, wie ich mich selbst und meinen gewählten Beruf vertrete, finde ich gut 😉👍 Ich habe mich Mitte März 🤣🤣 als Coach selbstständig gemacht und befinde mich in einer etwas anderen Anfangsphase 🙄 Ich habe wie viele andere auch andere Strategien entwickelt, z.B. mich online zugänglicher zu machen. Ich finde es auch erschütternd, dass Beraterfirmen mit kostenlosen Trainings und online Coaching werben und damit den Eindruck erwecken, “wertlos” zu sein. Welche Bedürfnisse sollen nochmal gedacht werden? 🤔 Vor Corona hätte ich das eindeutig damit beantwortet, dass ich als Einzelkämpferin eine sehr persönliche, professionelle, aufrichtige und authentische Begegnung anbiete, in der Potentiale entdeckt und Möglichkeiten geschaffen werden. In Corona? Na genau das Gleiche und danach sicher auch genau das Gleiche. Ich setze meine Existenz darauf, dass es Menschen gibt, die dies schätzen und dementsprechend auch bezahlen wollen. Wenn es nicht klappt, muss ich damit auch irgendwie umgehen. Ich vertraue, dass der Markt sich wieder sortieren wird. Vielleicht werden die kleinen individuellen Coaches mit Herz und Leidenschaft mehr gefragt werden 😁
Geschäftsführerin/ Inhaberin Doppel[t]spitze - Teil deine Story
4 JahreSo richtig, liebe Jo Kristof ! Beratungsdumping hat schon vor Corona begonnen und inzwischen sehr skurrile Züge angenommen. Wie so vieles in dieser Zeit... Die Motive sind sicher sehr unterschiedlich und darum die Bewertung solcher Aktionen bestimmt auch nicht absolut fair. Aber meist wirkt es nicht nach Verzweiflung, Überlebenskampf und Rettungsschirm, sondern nach einem unguten Ausnutzen der Sotuation. Sich selbst ein bisschen Kurzarbeit zu verordnen ist vielleicht gar nicht so verkehrt. Auch außerhalb produzierender Unternehmen und Anordnung von oben,. Wenn nötig auch Hilfe annehmen. Und wenn man aktiv sein möchte Hilfe anbieten. Das geht beides auch leise. Wir hoffen wie so oft um Vertrauen auf eine gesunde Wirtschaft und den in ihr agierenden Menschen, dass sich das an der richtigen Stelle bezahlt macht. Auch für Dich! Hab schöne Ostertage mit Deiner Familie!
Organisationsentwickler bei Seibert Group
4 JahreIch kann deinen Gedanken folgen, und möchte gerne eine gegensätzliche Position vertreten. Wenn aus keinem anderen Grund, dann um die Diskussion etwas in Bewegung zu bringen ;-) und weil ich weiß, dass du sie als *eine* mögliche Sicht lesen wirst. Mein Eindruck ist, dass sich in den letzten Jahren eine Blase im Bereich Agile Coaching/Organisationsberatung gebildet hat. Damit meine ich ein kräftiges Überangebot, teilweise von bescheidener Qualität, aufrechterhalten nur durch gute Konjunktur und teilweise selbst erzeugten Hype. Diese Blase ist jetzt geplatzt, wie alle Blasen es früher oder später tun. Wenn es nicht Corona gewesen wäre, wäre etwas anderes der Auslöser gewesen. Der Ablauf bei platzenden Blasen ist aber jedes Mal derselbe - plötzlicher Einbruch der Nachfrage, gegenseitiges Unterbieten bis hin zum Preiskampf, Ruf nach Staatshilfe und Solidaritätsprogrammen, am Ende verlässt ein Teil der Anbieter den Markt. Klar, ich hab aus meiner Festanstellung heraus gut reden. Für alle, die in der Blase drin stecken, ist das natürlich ein schmerzhafter Prozess, und ich will auch keinen Selbstständigen jetzt in die Privatinsolvenz schicken. Aber es gibt umgekehrt auch keinen Anspruch darauf, dass "die Gesellschaft" das eigene wackelige Geschäftsmodell stützt. Sorry, das ist einfach unternehmerisches Risiko, und gehört zur Selbstständigkeit dazu. Früher oder später kommt halt mal eine Krise, oder jemand anders schafft es, die eigene Dienstleistung billiger oder sogar umsonst anzubieten, aus welchen Gründen auch immer. Ich bin mir sicher, als Google Maps kostenlos veröffentlicht wurde, waren die Hersteller von Straßenkarten auch unglücklich - genützt hat es ihnen nichts. Zu fordern, andere mögen doch bitte ebenfalls teure Preisschilder an ihre Ware hängen, weil man die Entwicklung nicht mitgehen kann, ist für mich ein seltsames Verständnis von Wirtschaft. Wenn jemand etwas kostenlos anbieten kann und will, ist das sein oder ihr gutes Recht. Anderswo gibt es genug Branchen die gerade händeringend nach Mitarbeitern suchen, wenn jetzt jemand zu wenig zu tun hat. Oder Unternehmen, die gerne Berater nehmen, aber eben in Festanstellung. Wenn jemand das nicht möchte, okay - aber warum jetzt der Rest helfen muss, weil (überspitzt gesagt) man sich gerne weiterhin für einen vierstelligen Tagessatz selbst verwirklichen will, erschließt sich mir nicht. Freie Berufswahl bedeutet für mich eben auch, dass man selbst die Verantwortung für seine Entscheidung übernimmt, und wer etwas machen möchte das (jetzt gerade) nicht gebraucht wird, ist auch selbst gefordert, einen Weg um die fehlende Nachfrage herum zu finden. Und bevor jetzt jemandem die Hutschnur platzt :-) natürlich ist meine Meinung nicht so einseitig und neoliberal wie ich sie jetzt hier dargestellt habe, sondern ich sehe das differenzierter. Ob Appelle, gemeinsam den Preis hochzuhalten (ist das nicht eigentlich Kartellbildung?), aber eine Antwort auf die gerade wirkenden Kräfte sind, daran habe ich so meine Zweifel.