Bringt uns die weltweite Krise ein neues Mobilitätsverständnis zugunsten des Klimawandels?
In China ist die Luftverschmutzung so gering wie schon lange nicht mehr, in Venedigs Kanälen kann man seit Jahrzehnten das erste Mal wieder Fische schwimmen sehen und überall auf der Welt bieten Nachbarn sich gegenseitig Hilfe an, um älteren Mitmenschen wichtige Wege des täglichen Bedarfs abzunehmen: Die aktuelle Entwicklungzeigt einmal mehr, dass jeder Herausforderung auch eine Chance entspringt.
Denn zugegeben, die derzeit erfahrbaren Einschränkungen unseres Alltags sind für viele noch nie dagewesene und bringen gesundheitliche, wirtschaftliche, politische und soziale Problemstellungen mit sich, die es in der nächsten Zeit achtsam und ganzheitlich zu bewältigen gilt.
Gleichzeitig zwingen uns die aktuellen Geschehnisse jedoch auch regelrecht in einen Zustand der Reflexion unserer täglichen Gewohnheiten, von dem wir alle auch über die akute Krise hinaus profitieren können.
Spielen wir diesen Gedankengang einmal am Beispiel der Mobilität durch, wird das Potential einer Krisensituation als reinigendes Moment klarer: Verstehen wir Mobilität als „Erreichbarkeit von Orten“, so entfällt in Zeiten des Social Distancing, der geschlossenen Geschäfte und des flächendeckenden Homeoffices die Notwendigkeit der Erreichung all dieser Orte. Denn Mobilität ist eben kein Selbstzweck. Das Ergebnis: Weniger Verkehr, der als Instrument zur Realisierung der Mobilität, unnötig wird.
Und trotzdem geht das Leben irgendwie weiter – nur eben nun vor allem virtuell über all die Hilfsmittel, die uns die Digitalisierung zur Seite stellt. Es scheint, dass wir schlichtweg in andere, digitale (Kommunikations-)Räume ausweichen.
Damit soll nicht geschmälert werden, dass viele Abläufe des täglichen Lebens momentan nicht stattfinden und viele Menschen ihrem Job derzeit nicht oder nur teilweise nachkommen können und dass der persönliche Austausch nie gänzlich durch virtuelle Kontakte ersetzt werden kann. Im Gegenteil: Die aktuelle Situation zeigt einmal mehr, wie abhängig unsere Gesellschaft von einer gesunden Mobilität ist. Wie wichtig gerade in Zeiten der Not bedarfsgerechte, flexible und individuelle Lösungen zur Fortbewegung sind. Und vor allem: Wie sehr Mobilität öffentliche Aufgabe ist und als solche auch stets gesichert sein sollte.
Doch wagen wir uns gedanklich noch einen Schritt weiter, wohnt auch in dieser Beobachtung ein enormes Potential für unser Verständnis von Mobilität für die Zeit nach der Krise inne. Denn ja, in Zeiten unbegrenzter Mobilität, wie wir sie bis vor wenigen Wochen oder gar Tagen erleben durften, wird Mobilität eben irgendwann doch zum Selbstzweck. Wir reisen für Meetings durchs Land, weil wir es können – auch wenn eine Konferenzschaltung es genauso getan hätte. Wir fliegen für Urlaube rund um die Welt, weil wir es können – auch wenn es vor der eigenen Haustür noch so viel zu entdecken gibt. Wir sind immer unterwegs und ständig woanders, weil wir es können – auch wenn wir zuhause eigentlich am besten zur Ruhe finden.
Doch was haben all diese Beobachtungen und leisen Appelle nun mit der Klimakrise zu tun? Kurzfristig fällt auf: Mit der momentan weltweit ablaufenden Einschränkung des Flugverkehrs und auch des mobilisierten Individualverkehrs sparen wir aktuell mehr CO2 als es jedes Klimapaket leisten könnte. Nun geht es natürlich nicht darum, langfristig den gesamten Verkehr einzuschränken. Was jedoch mehr als überfällig ist und was uns Corona einmal mehr zeigt, ist die Notwendigkeit einer breiten Etablierung klimafreundlicher Alternativen. Diese beschränken sich nicht nur auf die Luftfahrt, sondern sind auch und vor allem in unsere ganz alltäglichen (und nun in der Reflexion befindlichen) Mobilitätsgewohnheiten zu integrieren. So lässt sich nicht nur durch den Verzicht auf eine Flugreise maßgeblich CO2 sparen, sondern zum Beispiel auch durch Nutzung von Alternativen zum eigenen PKW.
Und schließlich: Was können wir von all dem für eine grünere Zukunft lernen? Im Kleinen viel mehr, als in diesen Beitrag passen würde. Das beginnt bei der Reflexion der täglichen Mobilitätsgewohnheiten über die Hebung von Effizienzen durch mehr Solidarität – wenn wir zum Beispiel mit einem kleinen Augenzwinkern die miterledigten Einkäufe für den Nachbarn als neue Form des Poolings verstehen möchten – bis zur Rückbesinnung auf regionale Produkte.
Und im Großen? Im Großen bereitet die Krise einem neuen Verständnis des Klimawandels den Boden. Denn die aktuellen Geschehnisse zeigen uns die Herausforderungen eines globalen Problems genauso wie die Kraft einer gemeinsamen Lösung auf. Sie zeigen, was alles möglich ist, wenn man nur will und eine globale Herausforderung auch ganzheitlich, gemeinsam und konsequent angeht. Beginnen wir also am besten damit, auch den Klimawandel lückenlos als das zu verstehen, was er ist: eine globale Problemstellung.
Denn ja, all die eingangs geschilderten Phänomene der sauberen Luft, der mitten in Venedig schwimmenden Fische und der Solidarität sind großartig, aber dürfen eins nicht bleiben: Momentaufnahmen.
Unternehmer, Geschäftsentwicklung, CEO
4 JahreDie aktuelle Krise sollte uns in unserer Weltordnung und -organisation international prägen. Die Probleme der Welt werden national in einzelnen Lösungen angegangen. Das gilt für Corona, aber auch für die Klimakrise. Es ist einfach Unsinn in Deutschland über ein Dieselfahrverbot zu debattieren, wenn in Neu-Delhi ein veralteter Verbrenner (egal ob Diesel oder Benzin) einmal losfährt und eine schwarze Abgaswolke dort hinterlässt, wo mitten in der Stadt der Smog den Himmel 24/7 grau-braun färbt. Bereits Christian Lindner sprach im Bundestag darüber eine internationale neue Lösung für eben solche Krisen anzustreben und das ist auch meine feste Überzeugung. Global Verantwortung zu übernehmen ist die logische Schlussfolgerung nach der Coronakrise.
somatic psychotherapist | when you stop the projections you can see everything.
4 JahreZweifelnd stimmt mich, ob der Bezug zum Klimawandel gezogen werden wird. Denn das eine ist aktuell sehr direkt spürbar. Das andere eben nicht. Wie schaffen wir also, das Erlebte Gefühl zu transferieren auf diesen Klimawandel um einen ähnlichen Aktionismus auszulösen als Katalysator?
Verkehrskontor FrankfurtRheinMain - Verantwortbarer Verkehr innerhalb planetarer Belastungsgrenzen - Systemisch erfasster Verkehr und Mobilität als interdisziplinäre Aufgabe für die lebenswerte Stadtregion von morgen
4 JahreDie Krise zeigt - wie der Crash 2009 - vor allem eines: Wenn der Staat entschlossen ist, lassen sich über Nacht Berge versetzen. In jedem Fall wird nach der Pandemie die Zahl derer steigen, die die Vorteile des Homeoffice nutzen. Womöglich werden auch mehr Menschen regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit fahren. Aber das sind bestenfalls minimale Richtungsänderungen hin zu einer überfälligen Verkehrswende. Es braucht - und das zeigt das Beispiel Modu2.0 und Gratis-ÖPNV in Luxemburg - ein umfassendes Konzept für den Ausbau des schienengebundenen Personenverkehrs auf regionaler Ebene und eine deutliche Beschleunigung der Genehmigungs- und Ausbauzeiten für solche Infrastrukturen. Das mag trockene Materie sein, spielt aber im Bemühen, den Öffentlichen Verkehr schneller und besser zu entwickeln, eine entscheidende Rolle. Und dann bleiben die wirklich unangenehmen Seiten der Verkehrswende: Internalisieren wir endlich die externen Kosten des Verkehrs und schaffen die knapp 30 Mrd € verdeckte Verkehrssubventionen ab, die im Wesentlichen den Motorisierten Individualverkehr fördern. Und geben wir die Innenstädte dem Langsamverkehr resp Umweltverbund zurück, indem wir entschlossen und spürbar den - öffentlichen! - Parkraum bewirtschaften. Wer all das in eine Strategie packt und mit den Möglichkeiten von Mobility as a Service kombiniert, ist auf einem sehr guten Pfad und leistet auch einen entscheidenden Beitrag zur Klimadebatte. Und dafür brauchte es nur einen Bruchteil der Mittel, der aktuell für die Bewältigung der Pandemie-Krise aufgewendet werden. Wer die Klimadebatte als Dauermoralthema bezeichnet - wie es Sebastian Schulz macht - hat wohl in den vergangenen 30 Jahren nicht ganz aufgepasst und erfolgreich alle Berichte des IPCC, des MetOffice, der NOAA und des PIK ignoriert. Was da an Klimawandel auf uns zukommt und wovor seit den 70er Jahren gewarnt wird, übersteigt bei Weitem die Auswirkungen der aktuellen Pandemie in Ausmaß und Dauer - weil das Problem mit einem Impfstoff nicht zu lösen ist und das Ökosystem Jahrzehnte, manche sagen mehr als 100 Jahre brauchen wird, um auf einen für den Menschen dauerhaft verträglich Zustand weltweit- nicht nur in Europa - zurückzukommen, selbst wenn wir morgen global bei null Emissionen wären. Leider werden das erst unsere Enkel und Urenkel zu spüren bekommen und den Preis dafür zahlen müssen, während wir heute in Deutschland das Thema weitgehend unterschätzen und uns sogar selbstverschuldet den erfolgreich eingeschlagenen Weg bei der Energiewende verbauen (Abstandsregelung Windkraftanlagen und 52 GW-Deckel bei Photovoltaikanlagen). Aus diesen Quellen sollte eigentlich der saubere Strom für die Mobilität von Morgen kommen...
lavvell
4 JahreMeiner Meinung nach greift diese Perspektive etwas zu kurz. Die wirtschaftlichen Kosten der aktuellen Nicht-Mobilität sind doch enorm, als dass sich dies ernsthaft jemand als Dauerzustand wünschen kann. Wir bekommen derzeit aufgezeigt, wie sehr unsere Mobilität mit Wohlstand und Prosperität zusammenhängt. Menschen handeln außerdem meistens umweltbewusst - das zeigt die globale Perspektive - wenn sie es sich leisten können. Zudem wird es nicht wenige Leute geben, die sich in der Nutzung des privaten Pkw bestätigt fühlen, muss man das Fahrzeug schließlich nicht mit Dutzenden fremden Leuten/Ansteckungsrisiken teilen. Hier sollten die ÖPNV-Provider endlich ansetzen: Convenience, Service und Sicherheit in den Vordergrund rücken und das Dauermoralthema Klimaschutz hinten anstellen. Mit dieser Strategie fährt man jedenfalls in Asien deutlich erfolgreicher. Die Wege, die langfristig durch eine Zunahme von Homeoffice oder Videokonferenzen eingespart werden, fallen vermutlich auch nicht ins Gewicht und werden von anderen Wegen (Zunahme Lieferservice, E-Commerce) wieder aufgezehrt.