Corona und die Zwiebel der Wahrheit
Um Wissen von Halbweisheiten und völligem Irrsinn zu trennen, muss man sich schon ein wenig konzentrieren. So, wie in jedem guten Gerücht ein Körnchen Wahrheit steckt, enthält auch der größte Schwachsinn im Netz, immer Spurenelemente gesicherter Fakten. Viel spannender jedoch, als die pure Existenz von Unsinn, ist die Lust daran, ihn zu verbreiten und die Kreativität, mit der aus zusammengeschusterten Informationen und Erregung, vermeintliche Wahrheit wird.
Besonders beliebt in diesem Zusammenhang, ist das Zitieren von medizinischem, technischem oder universitärem Fachpersonal. Kommt ein Arzt in der Geschichte vor, steigt deren Plausibilität. Eine weitere, hilfreiche Methode zur Untermauerung von Schwachsinn, ist das Referenzierten auf Expertenstudien, Erfahrungen aus dem nicht namentlich genannten, aber verbrieften Freundes- und Familienkreis und natürlich, der Verweis auf große historischen Ereignissen, zu denen sich schon aus Gründen unterschiedlicher gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Rahmenbedingungen in der Regel kein plausibler Bezug herstellen lässt. Egal. Je größer, mysteriöser oder tödlicher das Drama, umso nährstoffhaltiger die Relevanz für die Community.
Die Feststellung: "..., denn Zahlen lügen nicht ..." gilt eingefleischten Netzexperten als das Schweizer Taschenmesser unter den sich selbstbewahrheitenden Argumenten, vergleichbar mit:"... von führenden Optikern empfohlen ...", ein Satz, der es in der Werbung zu generationenüberdauernder Berühmtheit für den ungetrübten Blick aufs Wesentliche gebracht hat.
Wenn alle Stricke reissen, wenn weder kreative Laienprofessoren noch versierte Stammtischauguren, oder unabhängige Finanzexperten mit selbstgeschnitztem Krisenkomplementärprodukt weiter wissen, dann kann man sich immer noch auf die Propheten verlassen, jene hellsichtigen Figuren, die Weltuntergänge, Seuchen, Kriege und manchmal auch so unbedeutende Dinge, wie ein Furunkel am Hintern, treffsicher voraussagen und ihre Bedeutung im Wandel der Zeit interpretieren.
Viel wurde und wird seit Menschengedenken vorausgesagt, Viel ist seit Menschengedenken passiert. So gesehen ist Seher ein krisensicheres Geschäft, denn irgendwas ist immer und wird immer sein. Es soll auch Menschen geben, die im Casino auf Rot UND Schwarz gleichzeitig setzen, bei einer Trefferwahrscheinlichkeit von 50% gewinnt man auf diese Weise immer.
Bevor wir uns aber Corona und der Zwiebel der Wahrheit widmen, möchte ich noch auf ein nicht zur Diskussion stehendes Faktum hinweisen, das mittlerweile selbst von hochseriösen Fachleuten anerkannt wird und als erwiesen gilt, nämlich die Existenz des „Perpetuum Mobile“, jener sagenhaften Konstruktion, die, einmal in Gang gesetzt, bis ans Ende aller Tage weiterläuft, ohne dass Energie zugeführt werden muss. Den Beweis für seine Existenz tritt Social Media unentwegt aufs Neue an.
Jemand postet Schwachsinn, ein andere antwortet darauf, eine andere antwortet darauf, jemand antwortet darauf, du antwortest darauf, ich antworte darauf, ersiees antwortet darauf…..
Die einzige Methode, diesen der Kernschmelze ähnlichen Vorgang zu unterbrechen, wäre, wie Dieter Nuhr es in einem seiner großartigen Programme so treffend vorgeschlagen hat, Porto für jeden Post zu verlangen. Und man müsste zusätzlich, jeden weltbewegenden Erguss physisch zum Briefkasten tragen müssen. Dann wäre vermutlich bald Schluss mit dem unfassbaren Blödsinn, der anlassbezogen im Besonderen und ohne Anlass auch, ständig ins Netz drängt.
Oder jemand zieht den Stecker und es gibt kein Internet mehr….
Puh, ja, mir wird gerade selbst bewußt, was das bedeutet. Ganz heiß wird mir plötzlich, Schweiß tritt auf die Stirn, ich unterdrücke das Bedürfnis zu Husten, mein Hals schmerzt, der Blick wird trübe. Bin ich krank? Wo soll ich nachschauen, was ich habe, wenn es kein Internet mehr gibt? Zum Arzt gehen bringt ja nichts, die sind doch alle von der Pharmalobby gekauft und stecken mit der Chemtrailmafia unter einer Decke. Nein, lieber schnell diesen Schwachsinn fertig geschrieben und online gestellt, sonst macht womöglich jemand zwischenzeitlich ernst und ich.....also:
„Corona und die Zwiebel der Wahrheit“
Anfang März sorgte die Millionärsgatin und SocialMediaExpertin Carmen Geiss bei ihren über 600tsd Follower auf Instagram für einige Verwirrung, als sie von der wundersamen Wirkung der Zwiebel gegen das Coronavirus phantasierte. So präzise sie bei der Quellenangabe dieses, seit dem finsteren Mittelalter gut gehüteten Familiengeheimnis war, so sehr ließ sie ihre Gemeinde darüber im Unklaren, welche Zwiebelsorte man verwenden soll. Nicht jede Art der aus der Unterfamilie der Lauchgewächse stammenden Knolle wirkt gleichermassen gegen den unsichtbaren Feind. Schalotten weniger als Frühlingszwiebel, rote nicht annähernd so gut wie Gemüsezwiebel. Jedenfalls war die Aufregung groß und schaffte es spielend, Einiges an Seriösem in den Medien zu übertönen.
Der denkwürdige Text beginnt so:
"Im Jahr 1919 starben 40 Millionen Menschen an der Grippe. Ein Arzt besuchte die vielen Bauern, um zu sehen, ob er ihnen bei der Bekämpfung der Grippe helfen konnte. Viele der Bauern und ihre Familien hatten sich mit der Grippe angesteckt und viele starben. Der Arzt stieß jedoch auf einen Landwirt, dessen Familie vollkommen gesund war, niemand im Haus war an der Grippe erkrankt. Der Arzt fragte den Landwirt, was er mache, das sich von den anderen unterscheiden würde. Die Bäuerin antwortete, dass sie lediglich eine geschälte Zwiebel in eine Schale getan und sie in allen Räumen des Hauses platziert habe
Auffallend in der Überlieferung des wohlformulierten Textes ist auch, wie egalitär Anfang des 20. Jahrhundert in ländlichen Familien kommuniziert wurde. Der Arzt (der Arzt!) fragt den Landwirt und es antwortet die Bäuerin. Es muss sich also um eine sehr aufgeklärte Bauersfamilie gehandelt haben, wofür auch die scharfsinnige Idee mit den Zwiebeln spricht, wäre das Wundermittel naheliegend gewesen, nicht auszudenken wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können. So aber sind 40 Millionen gestorben und eine Bauersfamilie nicht.
"Der Arzt dachte, das könnte eventuell das Heilmittel gewesen sein. Also fragte er nach, ob er eine dieser Zwiebeln haben könnte. Als er sie unter das Mikroskop legte, fand er den Grippevirus in der Zwiebel. Die Zwiebeln absorbierten offensichtlich alle Bakterien und hielten so die Familie gesund"
Unter dem Mikroskop offenbarte sich ein medizinisches Wunder. Das Virus war in der Zwiebel gefangen, ergo absorbieren Zwiebel Bakterien (offensichtlich) und wirken gegen die Grippe. Ein Arzt der Viren und Bakterien in eine Zwiebel wirft gibt zurecht Rätsel auf. Entweder stimmt mit der Überlieferung der Geschichte etwas nicht und beim vermeintlichen Arzt handelte es sich in Wirklichkeit um einen Scharlatan, oder aber der Arzt wollte sein Wissen für sich behalten und die Kollegen in die Irre führen. Vielleicht auch Beides.
Der Text springt in die "ich-Form":
"Nun habe ich diese Geschichte an einen Freund in Oregon geschickt, der mir regelmäßig Material zu Gesundheitsfragen zur Verfügung stellt. Er antwortete mit dieser höchst interessanten Erfahrung über Zwiebeln: "Danke für die Erinnerung. Ich kenne die Geschichte des Landwirts nicht, aber ich weiß, dass ich selbst eine Lungenentzündung bekam und sehr krank wurde. Aufgrund meiner früheren Kenntnisse über Zwiebeln schnitt ich beide Enden einer Zwiebel ab, legte sie in ein leeres Glas und stellte das Glas über Nacht neben mich. Am Morgen begann ich mich besser zu fühlen, während die Zwiebel schwarz wurde"
Wer kennt ihn nicht, den Freund in Oregon? Diesen namenlosen, vertrauten Gefährten, der eine kleine, aber feine Manufaktur für die Herstellung von "Material zu Gesundheitsfragen" betreibt und diese Produkte gerade in Krisenzeiten gerne und unentgeltlich zur Verfügung stellt. Weder an seiner Existenz, noch an seinem Geisteszustand ist zu zweifeln, jemand der weiß, dass er selbst eine Lungenentzündung bekam, scheint zumindest mental kerngesund. Oftmals erkennt man nämlich an solchen Details, ob die Story stimmt. Nicht auszudenken, wenn der Freund aus Oregon sich nicht mehr daran erinnert hätte, eine Lungenentzündung gehabt zu haben. Wie hätte er sich dann die schwarze Zwiebel neben seinem Bett erklären sollen?
Meine Frau und ich nutzen die Zeit der Quarantäne nun um verschiedenste Experimente mit Zwiebeln durchzuführen. Dafür haben wir streng wissenschaftliche Kriterien festgelegt und stehen in permanenten Kontakt mit einer Universität. Zusätzlich lassen wir unsere Ergebnisse von einem Arzt in Dschibutti gegenkontrollierten. Warum Dschibuti? Warum nicht?
Ausgehend von der Theorie, dass Zwiebel, Viren und Bakterien wie ein Magnet anziehen, haben wir 2853 Gemüsezwiebel im Abstand von jeweils einem Meter auf der Wiese vor unserem Haus ausgelegt. Ist tatsächlich Magnetismus im Spiel, dann müsste eigentlich der Amboss wieder auftauchen, den meine Frau vor ein paar Jahren beim Spazierengehen verloren hat. Und es sollten sich auch Abweichungen im Erdmagnetfeld zeigen, was, so unsere Erwartung, dazu führen müsste, Zugvögel zum Absturz zu bringen, Sie gelten ja mit Fledermäusen als Hauptüberträger von Paranoia.
Neben dem Mitgefühl für alle Betroffenen, liegt eine große Hoffnung in Zusammenhang mit der Coronakrise tatsächlich darin, dass sich eine unglaubliche Chance bietet, neu anzufangen. Nicht um alles, was wir als Menschen erreicht haben zu hinterfragen, sondern um da und dort ein Einsehen miteinander zu haben. Schwachsinn bringt uns nicht um, wenn es genügend Leute gibt die ihn relativeren. Schwachsinn wird erst dann wirklich bedrohlich, wenn er sich an die Spitze der Nahrungskette stellt, seltsame Frisuren trägt, Parlamente mit Notverordnungen außer Kraft setzt, Geld ausgibt, das er nicht hat und für dessen Finanzierung Neues druckt und sich gegen Coronaviren Blumenzwiebel neben das Bett legt. Schwachsinn wird immer Anlass für köstliche Satire sein, er wird für Versöhnlichkeit sorgen, weil man ihm nicht böse sein kann und er wird uns zumindest miteinander im Gespräch halten. Schwachsinn darf nur nicht die Kontrolle übernehmen. Auch nicht in einem Netz ohne doppelten Boden.
Deshalb ist die Geschichte mit der Zwiebel doch ganz heilsam, weil sie zeigt, dass es sich immer lohnt, Schale um Schale abzutragen, bis man zum eigentlich Kern der Wahrheit vordringt.
Was dann damit zu tun ist, das ist eine ganz andere Geschichte.
Founder (MSc)/CEO play | Building an awarded AI Assistant Editor & Director | Digital Humanist | YC Startupschool 2022 | IECT Summer School 2024 (Austria-Cambridge Deep Tech Accelerator) | FFG AWS
4 JahreDanke Christian. Das Gute an einer Zwiebel ist doch, dass durch ihre olfaktorische Weisheit "zum Himmel stinkende" Wahrheiten einfacher detektierbar wird. Sollte man meinen. Wie du schon schreibst, man muss seine Nase schon weiter in die Materie stecken und in Eigenregie recherchieren. Ich selbst stoße da an Grenzen, sobald ich versuche trennscharf zwischen Wahrheit und Realität zu unterscheiden. Realität ist für mich die interpretierte (also mit persönlichen Wertungen und tw. auch Annahmen) Wahrheit. Anders gesagt: Ich vermisse pure, reine, undotierte Information – unverfälscht, unbehandelt, unmissverständlich. Information mit absoluten Reinheitsgrad ist die Basis für rationale Entscheidungen. Eben nach dieser Reinheit zu suchen ist meines Erachtens aus zweierlei Gründen schwierig: 1. es ist langwierig 2. es gibt diese Purheit zu wenig Da ist der "üppig-geschmackige" Zwiebelring einfach leichter zu konsumieren. Erschwerend zur unreinen Information kommt noch die rasante Ausbreitungsgeschwindigkeit in Licht(wellenleiter)geschwindigkeit. Früher war Blödsinn nicht so effektvoll, weil sich niemand die Mühe machte einen Brief oder eine Brieftaube loszuschicken. Mundpropaganda war aufs eigene Umfeld beschränkt. Heute ist das Dilemma perfekt: Blödsinnsdichte (Rho (unsinn)) mal Verbreitungsgeschwindigkeit (v (blödsinn)) = Summe (schwachsinn). Da wundert mich unsere Luftverschmutzung nicht mehr, so wie das alles zum Himmel stinkt. Und die Polkappen schmelzen von der auf Nicht-Fakten basierten produzierten warmen Luft noch schneller. Ps.: Die Mär von den "Zahlen die nicht lügen": Wenn Lügner Zahlen zeigen, können auch Zahlen lügen.
Head of Partner & Business Development | IT for innovators.
4 JahreLesenswert und bringt einen zum Nachdenken 🤔