Damit es anders wird
"Die Schwierigkeit ist nicht, neue Ideen zu finden, sondern den alten zu entkommen", befand einst der britische Ökonom John Maynard Keynes. Nach Keynes solle der Staat antizyklisch in die Wirtschaft eingreifen, um das vorherrschende Muster zu brechen und so den Laden am Laufen zu halten. Auch der deutsche Physiker und Naturforscher Georg Christoph Lichtenberg hielt uns dazu an, nicht zu lange im Bekannten zu verharren, sondern das Gewohnte aufzubrechen: "Ich weiss nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll."
Wir könnten "besser", würden wir vieles anders machen, ist auch die Erkenntnis eines gerade erschienenen Buches, das für mich heute schon einer der wichtigsten Sachtitel in diesem Jahr ist: "Musterwechsel - Wie wir unsere Wirtschaft retten" von Markus Väth, Psychologe und einer der Vordenker der New-Work-Bewegung in Deutschland. Wenn es um das Retten unserer Wirtschaft geht, da dürfte es ausnahmsweise mal einen breiten Konsens geben, dann ist es allerhöchste Eisenbahn. Was Väth veranlasst, all die Felder aufzugreifen, wo wir schnellstens Hand anlegen müssen: Digitalisierung, Bildung, Management, an der Sache mit dem Purpose und den Bullshit-Jobs, ganz grundsätzlich beim Sinn der Arbeit, oder an unserer Unfähigkeit zur Innovation und einer von Mißtrauen dominierten Kultur und Wirtschaft - und deshalb auch an unserer Haltung zum Kapitalismus.
Nun sind Bücher, die sich mit solch umwälzenden Notwendigkeiten zur Veränderung befassen, nicht gerade Mangelware. Doch während viele mit scheinbar einfachen Gelingformeln daherkommen - "10 absolute Erfolgsrezepte für eine bessere Welt" -, setzt sich Väth wohltuend differenziert mit den Themen auseinander, berücksichtigt deren Ambiguität und Komplexität, sucht das Gemeinsame dort, wo wir sonst oft nur auf das Trennende schauen. Es sind nicht die klassischen Schwarz-Weiß-Stereotypen, die er uns vorsetzt: eine Wirtschaft, getrennt in gut und böse. Das hilft bei der vorurteilsfreien gemeinsamen Suche nach neuen Lösungen.
Und Lösungen werden dringend gebraucht. Zum Beispiel bei der verschlafenen Digitalisierung, wo es um nichts Geringeres als unser ökonomisches Überleben geht, wenn wir weiter den Anschluss verlieren. Hier sind unsere Baustellen übergroß, wie Väth darlegt. Auch wenn wir in den vergangenen zwei Jahren kleine Geländegewinne gemacht haben, sind wir noch lange nicht aus dem Gröbsten raus. Und welche Lücken wir hier haben, dürfte noch für den Letzten spätestens seit der Corona-Pandemie und unserem jämmerlichem Umgang damit sichtbar geworden sein. Väth führt aus, an welchen Stellen wir längst im Hintertreffen sind, weshalb wir uns dabei stets selbst im Weg stehen und verlangt nichts weniger als eine Art digitaler Kulturrevolution oder eine Revolution der digitalen Kultur.
"Wie erzeugen wir eine solche Kultur des Digitalen? Eine Kultur, die uns Mut macht und die Fähigkeiten verleiht, in der Arbeitswelt der Zukunft (aber auch in der ganzen Gesellschaft) zu bestehen? Meiner Meinung nach sollten wir an drei unterschiedlichen Säulen bauen, die ich im Folgenden mit konkreten Ideen skizzieren werde: Politik, Infrastruktur und Arbeitsverständnis. Werden wir diese Ideen schnell umsetzen? Nein. Wird es leicht werden? Ebenfalls nein. Aber wir haben gar keine andere Wahl. Deutschland lebt in vielen Bereichen bereits von der Substanz: bei der Energieversorgung, bei der Rentenpolitik, bei den Fachkräften und nicht zuletzt bei den politischen Ideen."
Das gilt auch und insbesondere für unsere Verwaltung. Wer beobachtet, wie Behörden landauf, landab beim Pandemiemanagement versagen, um dann schlußendlich ganz aufzugeben (vermutlich, weil kein Faxpapier mehr da ist...), bekommt eine Idee vom Umfang des Problems: Wenn man einmal überlegt, wie tief unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft mit unserer Verwaltung verstrickt sind, wie das Handeln der Akteure seitens der Verwaltung beeinflusst wird (und sei es nur durch Kontrolle und das Durchsetzen der Gesetze), wie sehr wir also alle auf eine moderne und funktionierende Verwaltung angewiesen sind, dann ist es höchst alarmierend, welche lebensbedrohliche Situation wir hier seit Jahrzehnten hinnehmen: "Von außen wirkt der politische Apparat daher oft zu Recht lernunfähig, monolithisch, bürgerfern. Wir brauchen eine kulturelle Revolution in unseren Amtsstuben; die Verwaltung sollte der digitalen Wirklichkeit nicht hinterherhinken, sondern sie im Gegenteil von vorne denken und lenken." Väth wundert sich nachvollziehbarerweise, warum es kein eigenes Digitalministerium mit weitreichenden Kompetenzen gibt und fordert auch eine "Update-Kultur" ein, ein "Recht auf Updates", das Arbeitnehmer einfordern können. Überfällig, wenn man bedenkt, wieviel Uralt-Software in vielen Unternehmen und fast überall in der Verwaltung im Einsatz ist. Dies führt nicht nur zu massiven Problemen, bis auf die Ebene jedes einzelnen Beschäftigten, sondern ist auch eine der Hauptbarrieren für eine innovative Organisation.
Sehr ausführlich widmet sich Väth einem unserer größten Kernprobleme: unser völlig marodes Bildungssystem. Er sieht darin - zu Recht - eine der Hauptursachen für unsere Misere, da sich unser Bildungssystem nachteilig auf unsere Überlebensfähigkeit auswirkt und damit ein echtes Handicap darstellt. Ein Bildungssystem, dass sich nach wie vor am 19. statt am 21. Jahrhundert orientiert, steht noch immer dafür, Kinder nicht auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten, sondern darauf, sich widerspruchslos in Organisationen einzufügen, um dort zu tun, was man von ihnen verlangt, und zwar möglichst effizient. Selbständiges Denken ist unerwünscht, ebenso wie Berufswege, in denen Menschen selbständig werden oder künstlerisch und kreativ tätig sind. Der Deutsche soll, das ist die vorherrschende Meinung, als fleißige Ameise, am besten in Konzernen, seine Tätigkeit verrichten. Ein Bildungssystem nach der Logik von Fast-Food-Ketten liefert genau das.
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„Wenn wir von Bildung sprechen, aber immer nur Aus- und Weiterbildung meinen, ignorieren wir das Wesen und die Inhalte der Bildungskomponente, die Aspekte wie kritisches Denken, das Nutzen von Intuition, das Streben nach Glück und das Beurteilen komplexer Kontexte umfassen“, schreibt Väth dazu. Und: „Bildung erschöpft sich also nicht nur darin, Fachwissen zu erwerben (wie es in Aus- und Weiterbildung geschieht). Es bedeutet darüber hinaus kritisches und eigenständiges Denken sowie das Aneignen und Anwenden bewusster Lernstrategien. Und es bedeutet auch, Emotionen und den eigenen Körper als Lerninstrument zu begreifen. Wir müssen Bildung aus dem Gefängnis der rein rationalen Faktenklopferei befreien und sie wieder als Instrument dessen begreifen, wofür die Aufklärung von Anfang an stand: für den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“
Mit "Reförmchen" oder dem Abfüllen des alten Bildungs-Weins in neue Flaschen ist es laut Väth jedoch nicht getan: "Wenn es stimmt, dass immer mehr Unternehmen sich auf die Suche nach einem Ziel begeben, das Mitarbeitern ein sinnhaftes und spaßbetontes Arbeiten ermöglicht, dann müsste die Sozialisation in der Schule grundlegend geändert werden."
Freilich sind viele der in "Musterwechsel" aufgegriffenen Probleme eine direkte Folge eines ausser Kontrolle geratenen Wirtschaftssystems: dem Kapitalismus. Und es gibt ausreichend viele gute Gründe, Kapitalismus in seiner am häufigsten auftretenden Variante und den daraus entstandenen Prinzipien, etwa dem Shareholder-Value, zu kritisieren. Und so macht auch Väth, wie schon etliche vor ihm, nochmals sehr deutlich, dass es nicht die Aufgabe von Unternehmen sein kann und darf, primär seine Shareholder reich zu machen. Unternehmen haben, so führt Väth folgerichtig aus, eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die sie deutlich besser wahrnehmen müssten. Väth plädiert in seinem Buch daher für die überfällige Weiterentwicklung vom Shareholder- zum Stakeholder-Value: „Der Musterwechsel eines echten Stakeholder-Value hingegen besteht in der Frage: Welchen Preis hat der Gewinn? Welchen Preis an finanziellen Investitionen, Arbeitsstunden, aber auch an Umweltverschmutzung, gebrochenen Versprechen, Tarifkonflikten, Entlassungen etc. sind wir als Unternehmen bereit, für unseren Gewinn zu zahlen?"
Doch gleichzeitig haben wir aus heutiger Sicht nur in einem kapitalistischen System die Möglichkeiten und Werkzeuge zur Hand, um die Welt wieder mehr in Richtung Chancengleichheit und einem gedeihlichen Miteinander zu drehen, denn alternative Systeme haben bei der Bewältigung dieser Aufgabe bislang gründlich versagt. Väth kommt daher zum Ergebnis: „Das kapitalistische System ist nicht der unverrückbare und menschenfeindliche Monolith, als der er gern beschrieben wird.“ Dadurch ist das Buch auch zu jenen anschlussfähig, die jede Diskussion über den Kapitalismus gemeinhin als wirtschaftsfeindlich betrachten und ablehnen.
Väths Buch "Musterwechsel" ist ein "call to arms". Es verlangt von uns nichts Geringeres, als uns von alten Glaubenssätzen zu trennen, uns nicht länger hinter den Errungenschaften unserer Eltern und Großeltern zu verschanzen, sondern die notwendigen Dinge in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Jeder einzelne von uns trägt hierzu die Verantwortung. Und wir alle sollten diese dringend wahrnehmen, um nicht länger in die Fallen zu tappen, vor denen uns Albert Einstein schon vor 100 Jahren gewarnt hat: "Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten." Und deshalb ist "Musterwechsel" auch meine absolute Leseempfehlung, denn wozu dieses Buch in jedem Fall anregt, ist zu einem Musterwechsel im Denken. Dadurch leistet es einen wertvollen Beitrag in dieser notwendigen und überfälligen Diskussion.
Das Buch "Musterwechsel - Wie wir unsere Wirtschaft retten" ist am 31. Januar bei Gabal erschienen.
Fotos: pixabay, Gabal
Advisor, speaker, organizational researcher, author, publisher | BetaCodex Network founder | Leadership philosopher, management exorcist, EdTech entrepreneur, advisor | Founder at Red42 | Founder at qomenius | TeamHabeck
2 JahreEine Seuche ist kein Weckruf.