Wenn eine Gesellschaft erwacht
Foto: Gerd Altmann / pixabay

Wenn eine Gesellschaft erwacht

Gestern erzählte mir ein Freund von einer E-Mail mit Tipps zum Thema Homeoffice. Solche Tipps haben derzeit Hochkonjunktur, denn für nicht wenige ist es ein erstes Mal, vor allem in dieser Ausprägung. Einer der Tipps lautete: Tragen Sie im Homeoffice die selbe Kleidung wie im Büro. Also ab in den Anzug. 

Hmmm, klassische Konditionierung, kam mir in den Sinn. Pavlovs Hund, fiel mir dazu ein. Der Anzug, er soll dabei helfen, sich mental in seine gewohnte Office-Rolle zu versetzen (mit allen Vor- und Nachteilen), soll uns disziplinieren, denn selbstverständlich sind wir als bekannt faule Gesellen natürlich ohne solche Hilfsmittel dazu nicht in der Lage (bzw. hatten es auch nie lernen dürfen). Aus der Psychologie wissen wir freilich, dass solches funktioniert. Gleichen wir unsere äußeren Bedingungen spezifischen Situationen an, dann folgt unser Geist sehr bald diesem Pfad: wir fühlen und verhalten uns, als seien wir in unserer gewohnten Umgebung. 

Ein System versucht Stabilität herzustellen. Ein System, dem in Zeiten von Corona die Felle davonschwimmen. Niemand stellt die Systemfrage so wie dieses Virus und stellt damit eine große Gefahr für das vorherrschende System. Die Mehrheit von uns wird diese Krise gut durchstehen (und um alle anderen müssen wir uns gemeinschaftlich kümmern). Als Gemeinschaft (und nur dann) werden wir diese Pandemie überwinden. Wir werden aber vor allem daran wachsen. Das ist unvermeidlich. Und nichts hätte dieses Wachstum so fördern können, wie es dieses Virus tut. Selbst der Klimawandel hat das bisher nicht in dieser Dimension geschafft. Die mikroskopische Bedrohung hat die makroskopische geschlagen. Ganz einfach weil sie uns viel schneller viel näher gekommen ist, als dieser Klimawandel, der im Bewusstsein vieler ja noch Jahrzehnte braucht, bis er schlimm wird. Und dann ist das so ne global-galaktische Angelegenheit, wo ja eh die Menschheit als Ganzes und so weiter und so fort… 

Jetzt aber ist jeder von uns in nicht gekanntem Maße auf sich selbst zurückgeworden. Nicht gekannt, weil es plötzlich uns alle betrifft. Jeden einzelnen. Und dabei wird jeder Einzelne gerade auf eine ungeheure Lernkurve katapultiert. Jeder von uns lernt gerade mehr über sich, über andere, über das was ihm oder ihr wichtig ist im Leben und wie man in kürzester Zeit mit ständig neuen Herausforderungen und Veränderungen klarkommt, als vermutlich in sonst einer vergleichbaren Zeit in seinem Leben. Ein wahrhaftiger Real-Life-Crashkurs ohne Multiple Choice. 

Und die Allermeisten werden dies schaffen. Sie lösen die Probleme, die durch die Krise entstehen, alleine aber vor allem auch in neuen Gemeinschaften. Am Wochenende gab es den größten Hackathon in der Geschichte. Weit über 40.000 Menschen haben in zahlreichen Teams online an Ideen gearbeitet, wie diese Krise und ihre Folgen am besten zu bewältigen sind, unterstützt von Hunderten Mentoren, Coaches und Trainern. Überall entstehen zur Zeit Netzwerke gegenseitiger Unterstützung. Politiker beschliessen plötzlich in nicht gekannter Geschwindigkeit Maßnahmen und Hilfspakete. Und sogar jeder, der einfach nur zuhause bleibt, hilft mit, die Pandemie zu bekämpfen. Nie hatte Think Global und Act Local soviel Bedeutung wie in dieser Krise: Zuhause bleiben, als kleinster gemeinsamer Nenner gemeinschaftlichen Handelns, um die Welt vor einem Virus zu retten. Sie alle, wir alle erleben unser aller Selbstwirksamkeit in einer neuen Dimension. Eine Gesellschaft in Not, in der plötzlich viele Menschen die Erfahrung der eigenen Selbstwirksamkeit machen dürfen, reift. Sie transformiert sich.

Jede Art agiler Veränderung, Transformation oder Reorganisation ist ein sozialer Prozess, ist Emergenz. Günter Grass liefert uns in seinem weltberühmten Bestseller „Die Blechtrommel“ ein wunderbares Beispiel sozialer Emergenz. In einer Szene der von Volker Schlöndorff verfilmten Geschichte sitzt der kleine Oskar Matzerath mit seiner Trommel unter einer hölzernen Tribüne. Auf der Tribüne Zuschauer, darunter viele stramme Nazis. Davor marschiert eine Militärkapelle und spielt Marschmusik. Der kleine Oskar trommelt zunächst im Takt der Marschmusik, spiegelt quasi die Kapelle (in der Psychotherapie würde man von Pacing sprechen). Dann ändert er den Rhythmus (eine klassische Intervention in das System). Die Kapelle kommt völlig aus dem Takt. Die Musiker und Soldaten stolpern über ihre eigenen Füße, bevor sich das System neu sortiert und beginnt einen Walzer zu spielen. Am Schluss tanzen Zuschauer und Soldaten gemeinsam zu der neuen Musik. Change hat stattgefunden. Jetzt macht das Virus den Takt und wir stolpern über unsere Füße. Wir suchen Halt, sortieren uns neu, greifen nach rettenden Armen, reichen selbst die Hand. Lernen neues. Eine Gesellschaft im Zustand des MVP, des Minimal Viable Products, auf dem Weg zu gesellschaftlicher Innovation. 

Bisher gibt es für mich in dieser Krise zwei Gewissheiten:

  1. Wir werden diese Krise überstehen
  2. Danach wird es nicht mehr so sein, wie davor

Vor allem aber: es wird nicht so weitergehen. Und aus systemischer Sicht kann dies auch gar nicht anders sein. Ein System ist nach einer Intervention, vor allem diesen Ausmaßes, nicht dasselbe wie davor. Man kann den selben Fluß nicht zweimal durchqueren. Auch das „alte“ System wird dies erkennen und es ist gut beraten, sich jetzt bereits darauf einzustellen, denn es wird sich schwer tun in einer Post-Corona-Zeit im Umgang mit einer gereiften, erwachten Gesellschaft.

Walter Herter

Navigationssysteme für komplexe Unternehmenswelten. Störgänge bei ein- und festgefahrenen Denk- und Verhaltensmustern...damit der Blick für kraftvolle Möglichkeiten frei wird.

4 Jahre

Sehr klar dargestellt Marc Frey, danke! Mich freut, dass Sie den gesellschaftlichen, systemischen Aspekt betrachten, nicht nur individuelle und mikrosoziale Aspekte. Ich wäre gern zuversichtlicher in Bezug auf eine neue, ökologisch bewusste, auch politisch mehr auf Gemeinschaft ausgerichtete Dialogkultur wie z.B. Entscheidungsprozesse wie in Irland vor ein paar Jahren zu Themen der Nachhaltigkeit/ Ökologie etc..., professionell gestaltete Bürgerbeteiligungsprozesse (nein, bitte keine klassischen Bürgerbefragungen, sondern Dialogprozesse). Letztlich, neben Hackathons mit vielen, ist die Frage, wie diese Ideen wirkmächtig an die Gestalter der Rahmenbedingungen - Politiker, Lobbyisten etc. - herangetragen werden könnten. Wie könnten wir uns Gehör verschaffen in dieser Zielgruppe? Das ist meine Skepsis, leider. Welche Antworten gibt es darauf? auch für Dich interessant Carole Maleh?

Dieter Machlet

CIO - Enabling People by Digital Transformation

4 Jahre

Sehr guter Artikel - Kompliment

Isabel Hohlbein

Senior Account Director - Large Enterprise/Tech Sales at LinkedIn

4 Jahre

Richtig, richtig gut erkannt und geschrieben Marc Frey Hut ab!

Thomas Euler

Building unyfy.io to help sports organizations, publishers, and content creators to build their own platforms with ease.

4 Jahre

"Die mikroskopische Bedrohung hat die makroskopische geschlagen." <3

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