Das etwas andere Zeitgefühl
Tom, Mitte dreißig, erfolgreicher Manager, bindet sich zügig seine Anzugsschuhe, wirft sein bestes Sakko über die Schulter und nimmt den letzten Schluck aus seiner Espressotasse. Er verlässt seine Single-Wohnung, perfekt vorbereitet. Noch bevor er seinen ersten Schritt auf die Wiener Straßen setzt, spannt er sicherheitshalber seinen Regenschirm auf. Wie immer liegt er exakt im Zeitplan – es ist 8 Uhr, und sein Vorstellungsgespräch beginnt um 9 Uhr. Tom ist ein wahrer Meister darin, sich gut zu präsentieren. Kein Wunder, denkt er, schließlich verfügt er über eine beeindruckende Qualifikation und hat bei den renommiertesten Firmen der Branche gearbeitet.
Doch so richtig zufrieden war er nie. Immer fand er etwas auszusetzen: die Kollegen, die Chefs, die Kunden – niemand schien seinen Ansprüchen gerecht zu werden.
Pünktlich wie immer, kam Tom an. Zehn Minuten zu früh. „Besser zu früh als zu spät“, denkt er sich. Er schließt den Knopf seines Regenschirms, klappt ihn zusammen und verstaut ihn sorgfältig in der Hülle. Doch der erste Eindruck des Unternehmens ließ ihn stocken. Ein fast leerer, weißer Raum, nichts außer einer unscheinbaren Topfpflanze in der Mitte und dem Aufzug am anderen Ende des Raumes. Kein Empfang, kein Trubel.
Tom trat näher an die Pflanze heran. Sie war nicht einfach irgendein Baum. An den Ästen hingen kleine weiße Zettel, gefaltet und sorgsam befestigt. Er nahm einen und begann zu lesen: „Melissa, 1 Jahr, 3 Monate und 2 Tage. Danke für alles und nur das Beste für deine Zukunft!“ Er zog einen zweiten: „Ben, 7 Monate, 9 Tage und 2 Stunden. Du warst eine große Bereicherung für uns.“ Die Zettel ähnelten sich, jeder verzeichnete einen Namen, eine Dauer und einen Abschiedsgruß. Tom fiel auf, dass niemand länger als zwei Jahre in der Firma geblieben zu sein schien.
Seine Hand wanderte schon wieder zum Regenschirm. „Was für ein trauriger Ort“, dachte er. Noch bevor er den Ausgang erreichte, ertönte ein leises Klingeln. Die Aufzugtür öffnete sich und eine Frau trat heraus. Rebecca, die HR-Managerin, wie er vermutete. Mit einem herzlichen Lächeln trat sie auf ihn zu und begann Smalltalk, doch Tom konnte seine Bedenken nicht länger zurückhalten. „Ehrlich gesagt, Rebecca“, begann er, „ich bin etwas skeptisch. Es scheint, als ob niemand hier lange bleibt.“
Rebecca lächelte weiter. „Entspann dich, Tom“, sagte sie sanft. „Ich erkläre es dir gern. Jeder neue Mitarbeiter bekommt bei uns am ersten Tag ein Notizbuch geschenkt. Auf der linken Seite notieren sie all ihre Glücksmomente – die Erlebnisse, die sie wirklich erfüllt haben. Auf der rechten Seite halten sie fest, wie lange dieses Gefühl anhielt. War es nur ein paar Stunden? Ein Tag? Eine Woche? Das bestandene Probemonat, der erste erfolgreiche Kundenabschluss? Diese besonderen Momente – das Lob eines Kollegen, die Gehaltserhöhung – all das tragen sie ein.
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Wenn jemand das Unternehmen verlässt, berechnen wir, wie viel echte Zeit – ich meine, glückliche Zeit – sie hier verbracht haben. Diese Zeit, die Momente, in denen sie wirklich lebendig waren, wird auf einen Zettel geschrieben und an unseren Baum gehängt.“
Sie zeigte auf den Baum. „Dieser Baum erinnert uns daran, dass das Leben nicht in Arbeitsstunden, sondern in gelebten Augenblicken gemessen wird.“
Zu dieser Kurzgeschichte inspirierten mich einige Zeilen aus Jorge Bucays Geschichten zum Nachdenken
Kultur Lernen Sabine Aydt
2 MonateSchöne Idee!