DEFEKT! Wie viel Eigeninitiative kann man erwarten?
Vor einiger Zeit hatte ich ein Engagement in einem großen Autohaus mit mehreren Standorten. Bei meinem Antrittsbesuch bat ich um eine Führung durch das Haupthaus, um mir einen Eindruck zu verschaffen und dabei auch mit den Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Ein Serviceberater begleitete mich. Wir gingen durch die verschiedenen Bereiche, ich hielt hier und da ein Schwätzchen mit Mitarbeitern, stellte mich als Coach und Trainerin vor und versuchte Vertrauen auf- und Ängste abzubauen. Das lief prima und ich gewann viele Einsichten, bis... ja, bis zu diesem Moment.
Der Stinkstiefel
Als wir über den Hof gingen, kam uns ein Mann in Mechaniker Overall entgegen und mein Begleiter raunte mir zu: „Den wollen Sie nicht kennenlernen, das ist unser Stinkstiefel, der ist immer nur am Meckern.“
Wer mich kennt, weiß, dass mich das nun erst recht neugierig macht und so ging ich schnurstracks auf den Kollegen zu und sprach ihn an: „Hallo, sagen Sie mal, sind Sie nicht der Mann mit den guten Ideen?“
Verdutzt blickte er mich an: „Wer will das wissen?“
Ich stellte mich vor und er sagte nur: „Ach was, Beratung, das braucht man doch so nötig wie einen Kropf“. Ich ließ mich nicht provozieren und fragte stattdessen: „Jetzt mal ehrlich, wenn Sie hier im Betrieb etwas verändern könnten, was wäre Ihnen denn da besonders dringlich und wichtig?“
„Das kann ich Ihnen sagen“, entgegnete er barsch. „Ich würde als erstes mal das Männerklo für die Mechaniker reparieren lassen, das ist seit 5 Wochen defekt und 15 Mechaniker müssen sich eine einzige Toilette teilen!“
„Wem haben Sie das denn schon gesagt?“ „Ha“, gab er höhnisch zurück. „Nicht nur einmal: dem Hausmeister, den können Sie in der Pfeife rauchen; der Assistenz der Geschäftsführung, können Sie auch in der Pfeife rauchen und mittlerweile sag ich gar nix mehr!“
Ich überlegte kurz und schlug dann vor: „Angenommen, ich kriege das bis heute Nachmittag repariert, sind Sie dann bereit an einem Seminar zum Thema „Zukunft gestalten“ teilzunehmen?“
Er überlegte kurz, und sagte: „Das kann ich nicht versprechen.“
Wir werden sehen, dachte ich, während er zurück zu seiner Arbeit ging.
Das Männerklo
Ich machte mich auf den Weg zu den Männertoiletten. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass ich als Frau niemanden zufällig bei seinen Geschäften überraschte, ging ich hinein.
Tatsächlich hing an einer der beiden Kabinen ein rosa Post-it, auf dem in krakeliger Kugelschreiberschrift das Wort „Defekt“, stand.
Ich öffnete die Tür und schnupperte. Es roch sauber. Ich zog an der Spülung. Die funktionierte einwandfrei. Was war hier denn kaputt?
Als ich den Toilettendeckel anhob offenbarte sich das Geheimnis:
Die Klobrille war nicht festgeschraubt!
Fünf Wochen lang…
Logisch, dass wir das innerhalb von wenigen Minuten repariert hatten.
Das Führungsmeeting
Als ich die Geschichte später den Führungskräften erzählte, war die Entrüstung allenthalben groß. „Typisch für unsere Mitarbeiter! Denen muss man immer erst alles ganz genau sagen, sonst machen die nix!“ Schnaub!
„Moment mal“, sagte ich.
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„Was für ein Bild wirft diese Episode auf Sie und Ihre Führung? Glauben Sie wirklich, dass Leute, die beispielweise in ihrem Privatleben Häuser bauen, Kinder erziehen, Reisen in fremde Länder unternehmen und die erstaunlichsten Hobbies haben, dass die nicht sofort einen Schraubenzieher in die Hand nehmen würden, um zuhause ihren Toilettendeckel festzuschrauben?“
Stille im Raum.
„Wie kann es sein, dass die Bereitschaft zu Eigeninitiative hier im Betrieb so verkümmert ist?“
Und die Moral von der Geschicht'?
Wir können viel aus dieser Geschichte ableiten, hier nur ein Auszug:
Die Geschichte zeigt eine typische selbst-erfüllende Prophezeiung:
Im weiteren Verlauf unserer Zusammenarbeit konnten wir klar erkennen, dass das Führungsdenken das Mitarbeiterverhalten entscheidend beeinflusst.
Annahme: Die Führungskräfte und Mitarbeiter im Unternehmen gingen traditionell davon aus, dass die Mitarbeiter wenig Eigeninitiative zeigen und ohne konkrete Anweisung niemals proaktiv handeln.
Verhalten aufgrund der Annahme: Diese Annahme war Teil der Führungskultur geworden. Führungskräfte zeigten kaum Bereitschaft, den Mitarbeitern Verantwortung zu übertragen und ihnen Entscheidungsfreiheit zu gewähren. Stattdessen galt das Prinzip alles genau vorzuschreiben und die Mitarbeiter ständig zu überwachen.
Auswirkungen des Verhaltens: Wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, dass ihnen nicht vertraut wird und sie keine Möglichkeit zur Eigeninitiative haben, werden sie tatsächlich weniger proaktiv handeln und sich auf Anweisungen von oben verlassen. Schuldzuweisungen an „die da oben“ sind dann normal.
Bestätigung der Annahme: Das Verhalten der Mitarbeiter bestätigt dann die anfängliche Annahme der Führungskräfte und verstärkt diese Überzeugung weiter. Es entsteht ein Teufelskreis, in dem die Erwartung an geringe Eigeninitiative die Realität beeinflusst und umgekehrt.
Wie gings weiter?
Klar, wir haben das in den Griff gekriegt. Dazu mussten sich die Führungskräfte ziemlich unbequemen Fragen stellen. Und sie mussten lernen, sich selbst und ihre Rolle neu erfinden! Offenere Kommunikation, Selbstkritik und ein Austausch mit Mitarbeitenden auf Augenhöhe führten schließlich dazu, dass eine Kultur entstehen konnte, in der nicht nur darauf gewartet wird, wann die nächste Ansage kommt, sondern in der Mitarbeiter auch proaktiv und eigeninitiativ handeln.
Und das nicht nur wenn die Toilette defekt ist!
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Wenn Sie ähnliche Erfahrungen machen, stecken Sie den Kopf nicht in den Sand. Es braucht manchmal einfach den externen Impuls, damit die Dinge wieder ins richtige Fahrwasser kommen.
Ihre Susanne Neeb
Kfz-Mechaniker bei B&K GmbH
1 JahrKennen wir ja zur Genüge oder? Stefan Mausolf
Project Manager Technical Due Diligence at Arcadis
1 JahrNatürlich ist die Geschichte wahr... Meine Erfahrung ist: um so nobler die Fassade und um so größer die Firma, um so häufiger findet man ein entsprechendes Verhalten (Mindset). Auf einer Baustelle müsste man die Toilettentür verrammeln, um sicherzustellen, dass Niemand die Funktion testet, selbst wenn die Spülung nicht funktioniert und der Toilettendeckel fehlt... 🤣 🙃 🤢
Marketing & Communications Director, Arcadis Germany
1 JahrVielen Dank für diesen amüsanten Einblick in die Unternehmenspraxis. Die Geschichte ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich Führungskultur und Mitarbeiterverhalten gegenseitig beeinflussen. Wollen, Können und Dürfen - aus diesen drei Komponenten entwickeln sich Eigeninitiative und eigenverantwortliches Handeln im Unternehmen. Doch manchmal braucht es den unvoreingenommenen Blick von außen, um Fehlentwicklungen zu erkennen und die Dinge wieder in die richtige Richtung zu lenken.
Transformationsbegleiterin | Expertise in Changemanagement, Agile Methoden & Strategieentwicklung
1 JahrÜbrigens sollte hier niemand glauben, dass so etwas nicht auch in anderen Branchen passiert. Diese Stories finden sich in der Produktion, im Handel, in der Gastronomie, in der Industrie, im Mittelstand einfach überall wo es die Kultur so will. Wenn man was ändern möchte, muss man an die “Heilige Kuh” ran: die Unternehmens- und Führungskultur. Und das bringt dann auch den Erfolg!
Ich erstelle Werbetexte mit Biss | Spezialisiert auf Coaches | Positionierung | Strategie | Sichtbarkeit
1 JahrSuper Text, sehr interessant. Das glaube ich sofort, dass das eine wahre Geschichte ist. Ist doch interessant, wie ein defektes Klo und der Umgang damit die Unternehmenskultur wiederspiegelt. 😉