Der demographische Wandel aus der Perspektive der managementorientierten Medizinethik
Gastbeitrag von Prof. Dr. Stefan Heinemann auf Denkhandwerker.
Dass der demographische Wandel zusammen mit dem medizinischen Fortschritt (der jenen Wandel mitbedingt) der wesentliche Treiber einer massiv veränderten Bedarfsstruktur des Gesundheitswesens ist, wird kaum bestritten. Viele von uns werden immer älter und das hat Folgen, auch wenn gilt: „Altern ist keine Krankheit.“ (Akademikergruppe Altern in Deutschland (2009) S. 80)[1]
Dass zudem die Finanzierung steigender Pflegeleistungen und intensiverer Behandlungsmethoden für ältere Patienten durch die GKV in der Zukunft immer schwerer zu leisten sein wird, hat unheilvollerweise dieselbe Ursache wie der Finanzbedarf selbst: Immer mehr ältere Menschen und gleichzeitig immer weniger Menschen der „zukünftigen Generation“. Zumindest solange man an einem solidarischen Finanzierungsmodell festhält und einen gerechten Preis für medizinische Leistungen nicht im Hobb`schen Sinne dort anzunehmen bereit ist, wo sich jener auf einem freien Markt schlicht faktisch bildet.[2]
Wenn also ein stärkerer Mittelzufluss schwerlich zu erwarten ist, muss effizient(er) agiert und wohl auch reallokiert werden um einen Leistungsabfall zu vermeiden.
Da jede Effizienz allerdings ihre systemische Grenze hat, dürften ethische Reflexionen speziell gerechtigkeitstheoretischer Natur eine wesentliche Dialogebene darstellen für diejenigen Diskursteilnehmer, die an einer rationalen Bearbeitung solcher Herausforderungen ein Interesse haben. Mithin ist die spezifisch managementorientiert-medizinethische Betrachtung der Herausforderungen eines Umganges mit immer mehr und immer älteren Menschen eine zumindest nicht auszublendende Reflexionsdimension. Die managementorientierte Medizinethik reflektiert die Legalität, Legitimität, Effektivität und Effizienz des Managementhandelns in der Gesundheitswirtschaft im Rahmen der übergeordneten Leitfrage/Zweck („Was darf und soll geschehen, damit Krankheiten geheilt und Leiden gelindert werden?“) sowie mit Blick auf die institutionelle Implementierbarkeit/Mittel („Was ist faktisch durchsetzbar?“).[3]
Gibt es beispielsweise, wie manche Autoren annehmen, „…überzeugende ethische Gründe, die solidarisch finanzierten Gesundheitsausgaben zu begrenzen“?[4] Und welche Maßnahmen sind in diesem Sinne wirtschaftlich zielführend und vor allem legitim? Oder ist dies keine legitime Option und es muss auf gesamtvolkswirtschaftlicher Basis zu Lasten anderer staatlicher Aufgabenbereiche umverteilt werden? Konkret mit Blick auf die Demographie beispielsweise:
Was passiert wenn die Deckungslücken der Kassen mit vielen älteren Patienten wachsen („Morbi-RSA-Problem“)?
Solche Fragen stehen heute in einem eigentümlichen Spannungsfeld: Kaum ein materialethischer Bereich ist für das unbefangene Bewusstsein als ergiebigesHandlungsfeld heute mit Blick auf eine alternde Gesellschaft so prägnant einsichtig wie die Medizinethik. Das Gegenteil gilt für einen anderen materialethischen Bereich: Die Wirtschaftsethik. Hier bricht das Spannungsfeld auf zwischen dem medizinethischen Bereich, welcher gleichsam immer schon aus der traditionellen Perspektive des Heilens gedacht wurde[5] und dem zweiten Bereich, der zwar viel zitiert aber doch wenig ernsthaft vertreten wird. Mithin lässt sich prima facie an der Ergiebigkeit einer Beschäftigung mit der Relation von Ethik und Ökonomie in Zeiten von Korruption und Green Glamour durchaus zweifeln. In der Medizin wird dagegen kaum jemand ernsthaft davon ausgehen, dass jene mit der Ethik wenn überhaupt nur instrumentell etwas zu tun habe.
Das Problem ist dabei heute das folgende: Gesundheit und Geld gehen jeden existentiell etwas an, jedoch kann man bekanntlich erstere mit letzterem nicht final kaufen. Jedoch zu einem nicht unerheblichen Anteil unterstützen. Damit aber ist eseine eminente Frage der Gerechtigkeit, wem diese Güter in welchem Maße und wie zukommen sollten. Hier ist auch das Einfallstor für eine leider oft ideologisch gefärbte Diskussion, die das Thema „demographischer Wandel“ nachgrade zur Infragestellung oder Zementierung von Themen wie „Rentensystem“ oder „Sozialstaatlichkeit“ (aus)nutzen.
Dagegen stellt sich die wissenschaftlich anzugehende Frage, wie heute in Zeiten von bisher kaum gekannten seismischen Vertrauensphänomenen in der Wirtschaft bei gleichzeitiger Einsicht in die Tatsache, dass auch das Gesundheitswesen mit der Grundfrage der Mangelbeherrschung zu tun hat, die Sphären von Medizin, Ethik und Ökonomie versöhnt werden können. Und die Altersdemographie wird eine Kosten- und Knappheitsexplosion bringen, ohne Effizienz wird es also nicht gehen; mit nur-Effizienz aber auch nicht, da gerade alte Menschen vor allem Zeit benötigen (also: hohen Kosten). Die hier knapp vertretene These lautet: Die Medizin kann die Knappheit ebenso wenig leugnen, wie die Notwendigkeit ihrer ethischen Selbstvergewisserung.
Die Ökonomie wird die Medizin als Markt wahrnehmen, missversteht sich allerdings, wenn sie meint ohne ethische Grundlagen ökonomisch (!) in the long runerfolgreich sein zu können. „Wo die Urteilsebenen der sehr unterschiedlichen Praxen von Ethik (Was soll geschehen, weil es gut ist?), Medizin (Was muss geschehen, damit Krankheiten geheilt und Leiden gelindert werden?) und Ökonomie (Wie ist zu handeln, dass Mangel beherrschbar wird?) nicht in einer übergeordneten Urteilsebene im Sinne einer Medizinethik für Ärzte und Manager integriert werden, wird eine eher cartesianisch-technische Sicht auf das Humanumbefördert.“ (Heinemann/Miggelbrink 2011, S. 115). Eine solche aber ist bereits wissenschaftstheoretisch offensichtlich verfehlt: Menschen sind nämlich keine Steine und der Wirtschaftswissenschaftler kein Sozialphysiker.[6]
Im konkreten Fall des Managements in der Gesundheitswirtschaft ist eine entsprechend reduktionistische Sicht auf den Menschen nochmal verstärkt unter den oben skizzierten Vorzeichen des demographischen Wandels nicht zu rechtfertigen. Die konkreten medizinethischen Fragestellungen werden heute auch ganz konkret selten isoliert von wirtschaftlichen Überlegungen formuliert: Wie lange soll man welche Ressourcen für ein ohnehin nach allem fachlich annehmbaren zeitnah endenden Leben eines alten Menschen aufwenden? Wird die – zumindest unter der Prämisse einer christlich orientierten Wertethik – als infungibel und unaufgebbar angenommene Würde des Menschen im Alter nicht noch fragiler und bedarf der höchsten Anstrengungen ihres Erhaltes in weitgehender Autonomie? Welche Interessen der älteren Patienten sind universalisierbar und gerecht?[7]
Brauchen wir einen demographiesensitiven Generationsvertrag mit konkreten Angeboten wie Generationenwohnen, altersgerechten Praxen, Kliniken etc. und Demenzcafes und tatsächliches life-long-learning[8]? Eine neue Kultur der chancenorientierten Beschränkung?[9]
Es wird also eine axiologische Betrachtung im Sinne einer managementorientierten Medizinethik mit der Grundfrage nach einer heute zukunftsfähigen Verteilung von gesundheitsfördernden Gütern mit Fokus auf die älteren Menschen angestellt. „Entgegen einer rein kundenorientierten Marketingstrategie ist im medizinökonomischen Bereich ein recht verstandenes partnerschaftlich-treuhänderisches Eintreten gefordert für diejenigen Interessen der Patienten, die sich als universalisierbar erweisen und damit als ethisch unabweisbar. Die Erkenntnis und Wahrnehmung dieser gerechten Interessen fordert die konsiliarische Kooperation aller am Patientenwohl Beteiligten. Für diese Leistung muss ein medizinischer Anbieter Ressourcen freihalten. Umgekehrt bietet ein entsprechendes Verfahren auch die Möglichkeit, unnötige Kosten aus einer ethisch weder gebotenen noch unter Umständen zulässigen Überversorgung zu vermeiden.“ (Heinemann/Miggelbrink 2011, S. 140) Es muss also wirtschaftlich effizient vorgegangen und dabei gleichzeitig anerkannt werden, dass es Bedarfe gibt, die wirtschaftliche Grenzen transzendieren und alle Bemühungen unternommen werden, mit ethischen Argumenten der Knappheit Herr zu werden. Auch indem gefragt wird, wo im Gesundheitsbereich einem hohen Ressourceneinsatz ein vergleichsweise geringer Nutzen gegenübersteht, hier ergeben Reallokationen in Richtung altersgerechter Versorgung beispielsweise Sinn – ohne gleich eine negative enthumanisierende Rationalisierung zu sein.[10]Nicht zuletzt weil dies effizient sein wird und nur so eine der Würde alter Menschen gemäße medizinische Versorgung sichergestellt werden kann. Die Grenze zwischen nicht wünschenswerter Rationalisierung und wünschenswerten Effizienzgewinnen ist allerdings fließend und mit Methoden der BWL nicht zu ziehen, hier wird man ohne Wertereflexionen nicht weiterkommen. Eine alternde Gesellschaft ist also mindestens auch ein medizinethisches und medizinökonomisches Problem des Sicherns der Würde alter Menschen bei gleichzeitiger Beachtung der Rechte kommender Generationen. Und die Würde einer Gesellschaft als Ganzes zeigt sich nicht zuletzt in ihrem Umgang mit den alten Menschen sowie ihrer Wertschätzung der legitimen Bedürfnisse kommenden Generationen.[11]
[1] Wobei einerseits wohl nicht ganz konsensfähig ist, wann von „Alter“ im emphatischen Sinne gesprochen werden kann. Zudem ist die Diversität menschlichen Alterns beachtlich, die oft unterschätzt wird, vgl. Schweda (2013).
[2] Hobbes (1987), S.151f. Hösle hat mit Bezug auf diese berühmte Hobbes-Stelle („…WORTH of a man…“) recht, wenn er sagt, „[…] man muß diesen Satz zweimal lesen, um zu begreifen, welche Revolution er darstellt.“ (Ders. 1995, S. 117).
[3] Vgl. insgesamt zum folgenden Heinemann/Miggelbrink (2011).
[4] Vgl. Marckmann (2007a).
[5] Der Medizinethiker und Arzt Pellegrino entwickelt beispielsweise aus der Perspektive einer aristotelisch angelegten und der christlichen Tradition (Thomas von Aquin) verbundenen Tugendlehre die Idee des „guten Arztes“. vgl. Ders. (2002).
[6] Vgl. dazu überzeugend Brodbeck`s Opus Magnum (2009).
[7] Dabei ist der Zusammenhang „Demographie – Ethik“ nicht neu. Birg (1995) verweist darauf, „[…] dass Ethik und Demographie […] denselben Gegenstand [untersuchen], und es ist daher ganz natürlich, daß Ethik und Demographie bei den Klassikern der Bevölkerungstheorie noch bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts eine Einheit bildeten und untrennbar schienen.“ (S. 247).
[8] Was in gewissem Sinne schon Cicero empfohlen hat. „A rebus gerendis senectus abstrahit. Quibus? An eis, quae iuventute geruntur et viribus? Nullaene igitur res sunt seniles quae, vel infirmis corporibus, animo tamen administrentur?“, Cato Maior de Senectute VI. „At memoria minuitur. Credo, nisi eam exerceas, aut etiam si sis natura tardior.“ ebd. 21.
[9] Zur „Rolle von Altersbildern in der gesundheitlichen Versorgung“ und in der Pflege (und Altersbilder sind eine Frage der Kultur) vgl. Deutscher Bundestag (2010), S. 157ff.
[10] Vgl. Marckmann (2007b), S.100: „Da die frei werdenden Ressourcen den vordringlichen Versorgungsbedarf älterer Menschen decken sollen, ist die Mittel-Reallokation nicht nur durch das Prinzip der Nutzenmaximierung, sondern auch durch Gerechtigkeitserwägungen ethisch geboten.“ Alt-Epping nennt als Beispiel: „Es kann davon ausgegangen werden, daß diese Rationalisierungsbemühungen sich auch in anderen Bereichen der Krebstherapie durchsetzen werden. So wurde erst kürzlich vom britischen National Institute of Clinical Excellence (NICE) der Einsatz der Antikörper Bevacizumab und Cetuximab in der Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem Dickdarmkrebs als nicht effektiv in der Kostennutzwertanalyse bewertet: statt des vom NICE vorgegebenen Grenzwertes von 30.000 britischen Pfund (BP), die ein lebensqualitätsadjustiertes Lebensjahr (QALY) kosten darf, mussten beim Einsatz von Bevacizumab bis zu 88.364 BP und beim Einsatz von Cetuximab bis zu 370.044 BP für ein gewonnenes QALY aufgewendet werden (NICE 2006) […] Selbst bei Ausschöpfung aller Rationalisierungsoptionen verbleibt jedoch die Frage, ob oder unter welchen Bedingungen auch bei einem optimal selektierten und erwartbar wirksamen Einsatz moderner Tumortherapeutika eine kostenbedingte Rationierung zu erfolgen hat oder nicht. Diese Frage wird inzwischen auch von der Ärzteschaft nunmehr offen diskutiert, was bemerkenswert ist vor dem Hintergrund einer seit hippokratischen Zeiten auf das Wohl eines individuellen Patienten ausgerichteten Medizin.“ (2013, S. 4).
[11] Insofern könnte man kritisch an Simone de Beauvoir anschließen, und gar ein zivilisatorisches Verfallsgeschehen mit Blick auf unseren Umgang mit dem Altern konstatieren (Dies. (1970), S. 466).
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