Der Masterplan für die Smart City
Parkplatz-Apps, Lasten-E-Bikes, intelligente Straßenlaternen: Einzelinitiativen zur smarten City gibt es viele. Doch sind sie nur die erste Etappe auf dem Weg zum Masterplan für die Stadt der Zukunft.
Eigentlich ging es Marcus Zeitler lediglich um eine Elektrozapfsäule, die er den Einwohnern des kleinen Städtchens Schönau in der Nähe von Heidelberg spendieren wollte. Und jetzt steht an der Hauptachse in Richtung Schriesheim diese multifunktionale Straßenlaterne. Sie kann nicht nur leuchten, sondern dient auch als kostenfreie Ladestation für E-Bikes und Elektrofahrzeuge. Gleichzeitig ist sie ein freier Hotspot mit Wireless LAN, sie misst Kohlendioxid sowie Feinstaub und liefert seit Kurzem über eine Wärmebildkamera sogar Zahlen über das aktuelle Verkehrsaufkommen.
DIE MULTIFUNKTIONALE STRASSENLATERNE ALS EINSTIEGSPROJEKT
Die große Bewährungsprobe hat die Hightech-Laterne, eine Entwicklung von Smight, einem Innovationsprojekt des Energiekonzerns EnBW, gerade bestanden. Denn vor wenigen Wochen wurde in der Nachbarstadt Schriesheim der „Branichtunnel“ eingeweiht. „Aus den ersten Messungen wissen wir, dass der Tunnel die Umwelt- und Lärmbelastung bei uns schon heute leicht ansteigen lässt“, erläutert Zeitler, der Bürgermeister des 4.600-Seelen-Städtchens Schönau, der das Verkehrsaufkommen vor Einweihung des Tunnels und danach miteinander vergleicht. 500 bis 600 Autos stündlich fahren demnach in Spitzenzeiten durch Schönau. „Der Tunnel wird mehr und mehr dafür sorgen, dass Schriesheim entlastet wird“, so Zeitler, aber die umliegenden Städte und Gemeinden, wie auch Schönau, belastet werden.
Das Besondere an der Verkehrszählung: Eine Wärmebildkamera in der Laterne ist datenschutzgerecht, denn sie registriert die erhitzten Motoren und erwärmten Körper der Fahrer, identiziert aber die Autos und Menschen nicht. Die Daten der Laterne schlagen wenig später im Rathaus auf und werden dort aktuell allerdings noch mit dem Tabellenkalkulationsprogramm Excel bearbeitet. Eine offene Plattform ist gerade in Arbeit. Sie soll die Laterne dann erstmals wirklich online mit dem Rathaus verbinden und – sobald weitere Laternen hinzukommen – sämtliche Daten an einer Stelle bündeln und ohne Umwege analysierbar machen. Wenn es so weit ist, werden voraussichtlich bereits zwei weitere schlaue Laternen im Einsatz sein – am Eingang und Ausgang des Tunnels.
Allerdings ist Schönau nicht New York, Tokyo oder München. „Mit etwas Pech haben wir gerade mal eine Übertragungsrate von ein bis zwei Megabit pro Sekunde“, gesteht Zeitler, „das Kommunizieren muss deutlich schneller werden.“ Da – wie Zeitler beklagt – die Gemeinde in einer Region liegt, deren Erschließung sich offenbar für Telekommunikationskonzerne wie die Deutsche Telekom nicht lohnt, ist nun ein öffentlich gefördertes Projekt auf den Weg gebracht, in dem Glasfaserkabel auch entlegene Winkel in der Region erschließen werden. Auch wenn die Randbedingungen heute noch besser sein könnten: Die kleine Gemeinde ist stolz auf ihren ersten Schritt in Richtung Zukunft. „Wir sind die Pilotkommune in Deutschland“, behauptet Zeitler selbstbewusst.
SMART CITY: STÄDTE WERDEN VERNETZTER, DIGITALER, VIELFÄLTIGER
Der Einstieg in die Smart City kann aus solchen überschaubaren Lösungen bestehen, aber sie kann auch größer gedacht werden. „Mobilität, Energienetze, Stadtentwicklung und Nachhaltigkeit sind die Begriffe, die immer fallen, wenn es um die Stadt der Zukunft geht“, sagt Dieter Lindauer, Vorsitzender des Bundesverbandes Smart Cities. Der Innovation Cities Index, der Städte weltweit anhand von 162 Indikatoren in Hinsicht auf ihre Innovationskraft untersucht, sieht London, Wien, Amsterdam und Paris als europäische Städte unter den Top 10 weltweit. München taucht als erste deutsche Stadt auf Rang 12 auf, Berlin ist auf dem 14. Platz. Die Frage ist allerdings: Ist eine Stadt der Zukunft dann smart, wenn viele interessante Einzelinitiativen gestartet werden, oder erst dann, wenn das Gesamtkonzept stimmig ist? Nur eines ist derzeit klar: „Die Themen werden vernetzter, digitaler und vielfältiger“, meint Lindauer.
DIE MORGENSTADT – EIN MODELL FÜR DIE STADT DER ZUKUNFT
Alanus von Radecki kommt dieses Wirrwarr aus Lösungen und Ideen gerade recht. Denn der Wissenschaftler aus dem Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart tüftelt im Rahmen des Verbundprojekts „Morgenstadt: City Insights“ seit knapp vier Jahren an der Stadt der Zukunft. Den entscheidenden Impuls für Fraunhofer, in dieses Thema einzusteigen, gab die Hightech-Strategie 2020 der Forschungsunion, ein Beratungsgremium der Bundesregierung, im Jahr 2010. Darin sind fünf Bedarfsfelder als globale Herausforderungen benannt, darunter die Bereiche Klima und Energie, Gesundheit und Ernährung, Mobilität, Sicherheit sowie Kommunikation. Unter den „prioritären Themenfeldern“ sind die „CO2-neutrale, energieeffiziente und klimaangepasste Stadt“ und ein „intelligenter Umbau der Energieversorgung“ genannt sowie eine Million als anvisierte Anzahl von Elektrofahrzeugen auf Deutschlands Straßen für 2020.
„Von da an war klar, dass das Thema Stadt der Zukunft kommen wird – unterstützt von der Politik“, erläutert von Radecki. 2011 fiel die Entscheidung, selbst aktiv zu werden. Seit 2012 also beschäftigen sich 20 Unternehmen, 20 Kommunen und 50 Forscher aus verschiedenen Fraunhofer-Instituten damit, herauszufinden, was die „Morgenstadt“ genannte Stadt der Zukunft ausmacht, und entwickelten ein Modell für nachhaltige Stadtentwicklung, ehe 16 Projekte, nicht zuletzt durch Fördermittel der EU in Höhe von 80 Millionen Euro, in Pilotprojekte überführt wurden. Wie das Modell praktisch in die Anwendung kommt, zeigt der Städtewettbewerb City Challenge. Ein Netzwerk aus Forschern sowie Partnern aus Industrie und Kommunen wählte drei vielversprechende Städte als Gewinner aus: Prag, Chemnitz und Lissabon.
DIE ROSETTENGRAFIK ALS SMART-CITY-CHECK
Sie unterzogen sich daraufhin dem Smart-City-Check, einem dreiteiligen Benchmarking. „Rosettengrafik“ nennt von Radecki das selbst entwickelte Profil der Stadt – den Teil des Vergleichsmodells, der auf einen Blick anzeigt, in welchen Bereichen eine Stadt noch Defizite aufweist und in welchen die Entwicklung bereits fortgeschritten ist. Sind die Erwartungen an spezielle Handlungsfelder erfüllt, sind maximal zehn Kacheln eingefärbt, je nach Themenbereich von Dunkelblau (steuerungsbezogene Kriterien) über Hellblau (sozioökonomisch- strategische Kriterien) bis hin zu Rötlich-Gelb (technologische und infrastrukturelle Kriterien). Werden Ziele und Visionen mit der Bevölkerung zusammen entwickelt? Ist die Planung der Stadtverwaltung langfristig angelegt? Ist der Haushalt an Nachhaltigkeitszielen orientiert? Jede Antwort auf diese Frage wirkt sich direkt auf das Farbenspektrum der Rosette aus.
Damit nicht genug: „Diese Handlungsfelder gleichen wir mit 120 Indikatoren und individuellen Wirkfaktoren ab“, erläutert Wissenschaftler von Radecki. Die Indikatoren messen die jeweiligen „städtischen Systeme“. Relevant ist etwa, wie hoch der Anteil der Einwohner ist, die den öffentlichen Nahverkehr nutzen oder sich für erneuerbare Energie entscheiden, wie hoch die Arbeitslosigkeit ist oder das Bruttosozialprodukt der Stadt. Als dritte Komponente des Morgenstadt-Modells fließen individuelle Randbedingungen mit ein. „Das können geografische, soziokulturelle, politische Besonderheiten sein“, erläutert von Radecki.
CITY-CHALLENGE-GEWINNER PRAG: ROADMAP MIT HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN
Der Gewinner der ersten City Challenge, die tschechische Hauptstadt Prag, hat Anfang April 2016 als erste Stadt nicht nur sein individuelles Profil, sondern auch eine Roadmap übergeben bekommen. Das Abschlusspapier hat das Ziel, auf Defizite aufmerksam zu machen, und nennt zudem Key Performance Indicators, mit denen eine weitere Entwicklung zur echten Morgenstadt gesteuert werden kann. Fehlende „Smart Governance“, mangelhafte Informationen über die Energiebilanz von Gebäuden und zu viele Hürden für den Ausbau erneuerbarer Energien attestiert das Expertenteam des „City Labs Prag“ der Stadt etwa in der Executive Summary. „Innerhalb des letzten Jahres haben wir begonnen, Interviews zu führen, Assessments zu machen, ein Profil zu erstellen, Maßnahmen daraus abzuleiten, und wir haben für Prag nun die erste individuelle Roadmap erstellt“, erläutert der Projektleiter der Morgenstadt von Radecki. Lissabon, Chemnitz und die später noch durch eine KfW-Förderung hinzugekommene Hauptstadt Georgiens, Tiflis, stehen ebenfalls kurz vor dem Abschluss. Eine klare Vision und messbare Ziele für ein Prag im Jahr 2050, die Entwicklung eines Energie-Atlas, intermodale Verkehrsknotenpunkte und die Einrichtung eines virtuellen Kraftwerks nennt das Expertenteam als wegweisende nächste Schritte, um die genannten Defizite in den Griff zu bekommen.
LASTEN-E-BIKES UND SMART PARKING DATA: KLEINE IDEEN FÜR SMARTE STÄDTE
Und dann geht es wieder darum, den Blick auf die Projekte zu werfen, die vor Ort entstehen und die Smart City im Kleinen lebendig werden lassen – und künftig im Idealfall einem Masterplan aus der Feder des Bürgermeisters oder Stadtentwicklers folgen. In Manchester im Nordwesten Englands etwa ist ein virtuelles Kraftwerk schon im Einsatz, das die Energie aus Blockheizkraftwerken, Erdwärme, Biomasse und Windkraft für eine Wohngegend bereits nutzt und nur bei extremen Lastspitzen noch konventionelle Energie hinzuschaltet. In Heilbronn gibt es inzwischen Lasten-E-Bikes, um die Innenstadtlogistik flexibler und die Luft in der Innenstadt sauberer zu machen. In München bietet das Start-up Parkpocket Services rund um ihre Smart Parking Data, um Autofahrern das Parkplatzsuchen zu ersparen, das für etwa 30 Prozent des Innenstadtverkehrs verantwortlich gemacht wird. Vielleicht ist es auch eine Option für Marcus Zeitler, um der zeitweiligen Parkraumnot in Schönau Herr zu werden. Zunächst jedoch ranken sich die meisten Ideen noch um die Straßenlaterne. „Wie wäre es mit einer Lampe, die nachts runterdimmt und, sobald ein Auto in sichtbarer Nähe ist, wieder seine ursprüngliche Leuchtkraft erreicht, sich also nach dem Verkehr richtet?“, fragt der Bürgermeister. Und Smight-Projektleiter Matthias Weis screent schon mal den Markt nach Stickoxidsensoren, die möglichst bald zusätzliche Daten erfassen sollen.
DIE MULTIFUNKTIONALE STRASSENLATERNE VON SCHÖNAU: EIN HIGHLIGHT FÜR POKÉMON GO-FANS
An Ideen zur Nutzung der Hightech-Straßenlaterne mangelt es jedenfalls nicht, auch ohne Stickstoffsensoren. 122 Neuregistrierungen und 1.050 Logins für das Funknetz verzeichnet Bürgermeister Zeitler etwa allein im Juli 2016. Besonders um das Kriegerdenkmal in Schönau herum versammeln sich neuerdings immer wieder jugendliche Pokémon Go-Fans mit ihren Smartphones, die mithilfe des Laternen-WLANs nun endlich genug Empfang haben, um dort die herumlungernden Pokémons aufzustöbern.
Der Originalbeitrag erschien am 13. September 2016 in der Beilage der Süddeutschen Zeitung "Lux 360 Grad".
Grafik: Scala GmbH, Süddeutsche Zeitung