Schmerztherapie sollte ein Qualitätsindikator sein
Viele Patienten klagen nach einer Operation über Schmerzen und eine unangemessene Therapie. Die Zufriedenheit der Betroffenen schwankt von Klinik zu Klinik. Dass sich Investitionen in eine durchdachte Behandlung allerdings rechnen, weiß der Arzt und Betriebswirt Dr. Joachim Erlenwein. Sein Spezialgebiet: die Akutschmerztherapie.
Herr Dr. Erlenwein, Sie haben auf dem Chirurgenkongress im April in München den Return on Investment (ROI) einer Akutschmerztherapie berechnet. Muss das sein?
Kliniken sind tagtäglich mit Fallpauschalen konfrontiert. Das bedeutet, dass sie Patien- ten nicht nur heilen, sondern auch effizient behandeln. Dazu gehört eine Akutschmerz- therapie nach Operationen, da sie eine bessere und schnellere Rehabilitation ermög- licht, weniger Komplikationen auftreten und die Patienten etwa nach gelenkchirur- gischen Eingriffen schneller wieder beweglich werden. Eine Modellrechnung von Kol- legen aus dem Universitätsklinikum Dresden auf Basis einer Prostatektomie-Studie zeigt, dass Patienten, die eine effektive Akutschmerztherapie bekommen, deutlich schneller entlassen werden kön- nen und dem Krankenhaus derart viel Kosten einsparen und dadurch sogar Mehrerlöse einbringen können. Es lohnt sich, zu investieren. Auch wenn man bei einer Mo- dellrechnung etwas vorsichtig sein sollte, deutet sich an: Einen derartigen ROI schafft keine DAX-Aktie.
Die Akutschmerztherapie ist nicht mehr umstritten, weist aber noch große quali- tative Mängel auf. Warum ist sie sinnvoll?
Es gibt viele Gründe für einen Arzt, auf die Akutschmerztherapie zu setzen. Zum einen sind das ethische Aspekte, die es ihm verbieten, Menschen leiden zu lassen, was sich übrigens auch im Berufsrecht wider- spiegelt. Zudem hat der Patient ein Recht auf eine angemessene Schmerztherapie. Medizinisch ist die Wirkung klar: Schmerzen verursachen, dass im Körper Stresshormone ausgeschüttet werden, die Körper und Heilung belasten. Es kommt zu mehr Komplikationen, das Blut gerinnt leichter, wodurch die Gefahr von Thrombosen und einer Lungenembolie steigt, der Blutzuckerspiegel entgleist schneller, die Wundheilung kann gestört werden und das Infektionsrisiko steigt an. Atelektasen und Lungenentzündungen treten häufiger auf, da die Patienten nach großen Eingriffen an Brustkorb oder Bauch mit Schmerzen nicht tief durchatmen oder Schleim aus der Lunge abhusten können. Auch deshalb sollte es immer das Ziel sein, Schmerzen erträglich zu halten. Geschieht dies nicht, besteht zudem die Gefahr, dass sich daraus chronische postoperative Schmerzen entwickeln, die mehr als sechs Monate anhalten.
Wie sollte die Akutschmerztherapie ablaufen?
Kommt ein neuer Patient, ist es wichtig, nicht nur den Eingriff zu besprechen, sondern in der Schmerzanamnese auch Risikofaktoren für starke Schmerzen aufzunehmen. Nach der OP ist es nötig, über standardisierte Messinstrumente regelmäßig beim Patienten nachzufragen, wie stark die Schmerzen auf einer Skala von null bis zehn sind – nicht zuletzt, um einen klaren Indikator für die Gabe geeigneter Medikamente zu haben. Behandlungsstandards legen schon im Vorhinein fest, wann auf der Station die Gabe von Schmerzmitteln erfolgen soll, und wie die Schmerzbehandlung insgesamt aussehen soll. Für einen Baucheingriff kann das ein Periduralkatheter sein, nach einer Kniegelenkoperation ein peripherer Schmerzkatheter. Im Krankenhaus sollte mindestens ein Standard für die Behandlung bei hoher Schmerzintensität vorhanden sein, der die Stationsmitarbeiter handlungsfähig macht. Bei der Verlegung eines Patienten auf eine andere Station oder der Weiterbehandlung durch einen Hausarzt nach der Entlassung sollte die Weiterbehandlung von Schmerzen zwischen den Schnittstellen abgestimmt und standardisiert geregelt sein. Das Bauchge- fühl sagt mir: An den Schnittstellen gibt es erhebliche Mängel, und das Risiko für Schmerzen steigt. Das sollte ein Thema im Entlassmanagement sein – welches der GemeinsameBundesausschuss(G-BA) übrigens aktuell auf seine Agenda gesetzt hat.
Woran liegt es, dass die Akutschmerztherapie oft nicht ernst genommen wird?
Ich sehe drei Ursachen. Erstens organisatorisch: Die Schmerztherapie muss beim Patienten ankommen. Es bedarf festgelegter Regelungen. Zudem ist Schmerzthera- pie eine personalintensive Tätigkeit, die Zeit kostet. So muss etwa Personal für den Akutschmerzdienst vorhanden sein. Oft ist es darüber hinaus so, dass auf dem Weg von der Notaufnahme über die Intensiv- auf die Normalstation, zum Hausarzt und in die Rehaklinik unterschiedliche Ansätze der Schmerzbehandlung aufeinander fol- gen. Es fehlt häufig innerhalb der Kliniken an bereichsübergreifenden Konzepten beziehungsweise einer Steuerung dieser abteilungsübergreifenden Behandlungs- prozesse, wie sie beispielsweise im Bereich Transfusionswesen oder der Krankenhaus- hygiene bestehen. Zweitens Desinteresse: Oft besteht Desinteresse bei den Mitarbei- tern gegenüber der Schmerztherapie. Drittens fehlendes Wissen über die medizinische Konsequenz einer falschen oder nicht ausreichenden Schmerztherapie bezie- hungsweise zu Therapieansätzen.
Was muss sich dringend ändern, damit sich die Akutschmerztherapie etabliert?
Die Schmerztherapie sollte wie das Trans- fusionswesen oder die Krankenhaushygiene zentral gesteuert werden. Zudem sollte die Behandlung von Schmerzen als Qualitätsindikator für die Versorgungsqualität der Krankenhäuser eingeführt werden. In Deutschland sind zwar 80 Prozent der Krankenhäuser mit einem Akutschmerzdienst ausgestattet, allerdings gibt es keinen Standard dafür, welche Vorgehensweise, welche Ausstattung und welches Personal diese Dienste ausmachen. In den Niederlanden sind Akutschmerzdienste gesetzlich vorgeschrieben. Zudem muss das Bewusstsein für das Thema noch deutlich größer werden. In manchen Kliniken sind heute mehr Techniker für die Reparatur und Pflege von Aufzügen beschäftigt als Personal für Akutschmerzdienste.
Das originale Interview finden Sie in der Zeitschrift nahdran von B. Braun Melsungen.