Deutschlands neue Fachkräfte

Deutschlands neue Fachkräfte

Aus dem "Tagesspiegel" vom 12.4.2017

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz dürfte auch die Migration von Bosnien-Herzegowina erleichtern. In dem Balkanstaat schafft das Gesetz aber Probleme. 

In der bosnischen Hauptstadt Sarajevo wurden im vergangenen Jahr 14.100 Visa für Deutschland erteilt. Wenn ein Politiker ankündigt, 100.000 neue Jobs zu schaffen, scherzt man in Bosnien, dass die Hälfte davon im Ausland sein wird. Mit dem neuen deutschen Fachkräfteeinwanderungsgesetz könnte sich der Abzug nach Deutschland noch weiter verstärken – das hat Folgen für Bosnien.

Montagmorgen im Dezember vor der deutschen Botschaft in Sarajevo. Die Schlange ist lang, trotz des Nieselregens. So wie viele andere Bosnier wollen die Menschen hier nach Deutschland und dort ihr Glück versuchen. Einer von ihnen ist Anel Vojic, 17 Monate hat er auf diesen Termin gewartet.

Vojic ist 32 und aus Bihac angereist, einer Kleinstadt im Westen des Landes. Er hat eine Wirtschaftsschule abgeschlossen, einen Job hat er aber nicht gefunden. „Wenn man nicht Mitglied einer Partei ist, kann man es vergessen, einen gut bezahlten Job in Bihac zu bekommen. Das Land wird immer korrupter, ich sehe hier keine Hoffnung mehr”, sagt er. Sein letzter Job als Türsteher hat ihm rund 250 Euro im Monat eingebracht. Jetzt reicht es ihm, er will nach Deutschland.

Für ihn, sowie für viele andere, könnte das in Zukunft einfacher werden: Mit einer neuen Regelung will Deutschland die Bearbeitung der Anträge beschleunigen, denn der deutschen Wirtschaft fehlen die Arbeiter. Aktuell muss man rund acht bis zehn Monate auf ein Visum warten – abhängig von der Art der Bewerbung, wie Damir Kapidžic, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Sarajevo EurActiv bestätigt.

Um die Chancen qualifizierter Bürger aus Drittstaaten zu verbessern, schnell an ein deutsches Visum zu kommen, wird jetzt am Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FKEG) gefeilt. Es soll helfen, die wachsende Lücke im deutschen Arbeitsmarkt zu schließen. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nennt das neue Gesetz „überfällig und dringend notwendig“.

Im Unterschied zu den aktuellen Bestimmungen soll damit einerseits die sogenannte „Vorrangprüfung“ abgeschafft werden, also die Verpflichtung für Unternehmen, vor der Einstellung einer ausländischen Fachkraft zu prüfen, ob nicht jemanden aus Deutschland oder einem EU-Mitgliedsstaat ebenfalls für den Job geeignet wäre.

Außerdem wird mit dem FKEG die Anerkennung von beruflichen Qualifikationen ausgeweitet – ähnlich der Anerkennung von Hochschulabschlüssen. Zudem sollen die Verfahren beschleunigt werden.

In Deutschland versteht man das neue Gesetz als Triple-Win-Situation. Sowohl der deutsche Arbeitsmarkt als auch Einwanderer aus Drittstaaten sowie ihre Herkunftsländer würden von dem Deal profitieren. Dafür investiert Deutschland in den Herkunftsländern, man zeigt sich bemüht, die Anwerbung von Fachkräften nachhaltig zu gestalten. Läuft alles nach Plan, soll das FKEG Anfang nächsten Jahres in Kraft treten.

Bedenken in Bosnien-Herzegowina

In Bosnien-Herzegowina sieht man dem Gesetz nicht ganz so zuversichtlich entgegen. Schon jetzt ist die deutsche Botschaft in Sarajevo eine der größten deutschen Visastellen weltweit – zwischen 2015 und 2018 ist die Zahl der erteilten nationalen Visa von rund 7.400 auf über 14.100 gestiegen, heißt es aus dem aus dem Auswärtigen Amt. Nur im Libanon und der Türkei werden mehr Anträge gestellt.

Als Grund für die Verdopplung gilt die sogenannte Westbalkan-Regelung, die Anfang 2016 in Kraft getreten ist. Ähnlich dem jetzt diskutierten FKEG sollte sie den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern. Dazu brauchte der Antragsteller zwar einen Arbeitsvertrag, doch ein Nachweis von in Deutschland anerkannten Qualifikationen fiel weg.

Die Bearbeitung der vielen gestellten Anträge nahm aber Zeit in Anspruch – so lange wollten viele Arbeitgeber nicht auf ihre neuen Mitarbeiter warten. Mit dem FKEG erhoffen sich viele Bosnier nun, schneller und einfacher an ein Visum zu gelangen.

“Wie viele Menschen werden in 15 oder 20 Jahren noch hier sein? In den Sommermonaten ist es schon jetzt schwer, gut ausgebildete Arbeiter im Baugewerbe, Elektriker oder auch Krankenpfleger zu finden”, sagt Politikwissenschaftler Kapidžic. Mittlerweile mache sich Zynismus breit angesichts der Tatsache, dass europäische Länder von den billigen Arbeitskräften außerhalb der EU profitieren – und damit langfristig große Probleme für die Wirtschaftsplanung von Ländern wie Bosnien-Herzegowina verursachen.

Die bosnische Politik hat währenddessen bislang kein Rezept gegen die Massenabwanderung gefunden. Es fehle an Konzepten, um die Fortsetzung der Abwanderung zu verhindern, sagt Kapidžic. Das werde zu großen demographischen Problemen in den nächsten Jahren führen.

Chance zur Migration liefert Bildungsanreiz

Auf der anderen Seite steht ein Argument aus der Migrationsforschung: Demzufolge investieren Menschen mehr in ihre Bildung, wenn es Möglichkeiten zur Migration gibt, erklärt Herbert Brücker, Direktor beim Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Das erhöht wiederum die Erträge von Bildungsinvestitionen, so dass mehr Menschen studieren oder eine Ausbildung machen. Am Ende wandert nur ein Teil der Menschen aus oder kehrt später wieder ins Herkunftsland zurück, das Bildungsniveau steigt, so Brücker.

Migration sei zudem häufig nur temporär, Menschen ziehen immer häufiger um. So seien nach Zahlen der IAB-SOEP-Migrationsstichprobe etwa 40 Prozent der Menschen, die vor dem Anstieg der Fluchtmigration nach Deutschland eingewandert sind, vorher schon einmal migriert. Vor der Finanzkrise 2008 habe dieser Anteil noch bei 20 Prozent gelegen. „Diese Bewegungen sind für die Wirtschaft durchaus gut. Ich hoffe, dass die Migration zwischen Bosnien und Deutschland zunimmt. Es wäre für beide besser, wenn wir mehr Zuwanderung hätten“, so der Migrationsforscher. Das gelte zumindest, wenn wir auch die Wohlfahrtsgewinne der Migrantinnen und Migranten berücksichtigen.

Dazu kommen die Überweisungen aus dem Ausland, die Migranten an ihre Familien zuhause schicken. 2017 beliefen sich diese laut Weltbank auf über elf Prozent des bosnischen Bruttoinlandsproduktes (BIP), Tendenz steigend.

Als Gründe für den Anstieg gelten die verbesserte finanziellen Situation der Diaspora, sowie die wachsende Zahl bosnischer Emigranten. 2016 schickten sie sechsmal so viel Geld an ihre Familien nach Hause, als durch ausländische Direktinvestitionen ins Land kam.

Der Gesundheitssektor macht Probleme

Ein Sprecher des Bundesministerium für Arbeit und Soziales kommentiert währenddessen gegenüber EurActiv, es sei zunächst in erster Linie eine Aufgabe der bosnischen Politik, die Lebensbedingungen im eigenen Land zu verbessern, um die Abwanderung von Arbeitskräften in Grenzen zu halten. Jedoch stünden alle Anstrengungen unter dem Vorbehalt, dass die Interessen der Herkunftsländer gewahrt bleiben.

Und aus dem Innenministerium (BMI) heißt es: „Die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland darf insbesondere nicht zu einer Schwächung der Gesundheitsversorgung in Entwicklungsländern führen.“

Der Gesundheitsbereich gilt als sensibelstes Tätigkeitsfeld in puncto Migration. „Es gibt eine globale Überschussnachfrage nach Ärzten und Krankenschwestern. Sie werden von fast allen Ländern der OECD gezielt angeworben. Doch dann fehlen sie in den Heimatländern“, sagt Brücker. Während er Migrationsmöglichkeiten in den meisten Berufsbranchen grundsätzlich positiv beurteilt, könne der Gesundheitssektor durch die Abwanderung tatsächlich Schaden nehmen. Hier müssten umfassende Ansätze entwickelt werden, um negative Konsequenzen abzufedern – etwa die Unterstützung der Ausbildung in den Herkunftsländern.

Anfang 2020 soll das FKEG in Kraft treten. Und Anel Vojic, der Mann aus Bihac, ist mittlerweile in Münster. Einen Monat nach jenem Morgen vor der deutschen Botschaft in Sarajevo hat er sein Arbeitsvisum bekommen. Heute verdient er sein Geld als Fensterputzer bei einer Reinigungsfirma. Bald fängt er einen Deutschkurs an, dann hofft er, einen besseren Job zu finden.

Erschienen bei EurActiv. Das europapolitische Onlinemagazin EurActiv und der Tagesspiegel kooperieren miteinander.

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