Die Digitale (R)Evolution | Teil 5: Digital Leadership
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Die Digitale (R)Evolution | Teil 5: Digital Leadership

Die neu definierte Entscheider-Rolle

Im digitalen Zeitalter arbeiten Teams agil, vernetzt, selbstbestimmt und auf Augenhöhe. Jedes Teammitglied nimmt gemäß seiner Stärken diverse Rollen und Funktionen ein. Ich bin der Auffassung, dass das nur funktionieren kann, wenn jede/r im Unternehmen, eigene — aber auf die Unternehmensstrategie, bzw. den Purpose ausgerichtete — Ziele verfolgt. Im Idealfall organisiert sich ein Unternehmen nach den in Kapitel 7.5 vorgestellten Prinzipen der Holokratie und der integralen evolutionären Weltsicht. Doch bis die Finanzbranche dort angekommen ist, werden noch einige Jahrzehnte vergehen. Daher möchte ich die Rollen nach dem derzeit etablierten hierarchischen Organisationsmodell erläutern:

Das oberste Ziel eines Finanzunternehmens muss m. E. darin liegen, eine positive Wirkung für die Kund:innen und die Gesellschaft zu erzielen (verantwortungslose Handlungen, die der Umwelt schaden, schaden immer auch der Gesellschaft). Das oberste Ziel der Entscheider:innen muss sein, die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens sicherzustellen, damit dieses seine Wirkung bestmöglich erzielen kann. Das oberste Ziel der Führungskraft muss sein, die Mitarbeiter:innen zu befähigen und ihnen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, damit sie eine sinnvolle Arbeit leisten können. Das oberste Ziel der Mitarbeiter:innen muss sein, die Bedürfnisse der Kund:innen optimal zu bedienen. Im Grunde ganz einfach.

Diese Vorstellung löst bei vielen Entscheider:innen jedoch großen Widerstand aus: Sie rüttelt an den Grundpfeilern des eigenen Rollenverständnisses und stellt die eigene Autorität in Frage. Und das stimmt auch; wenn die Person noch in starren Hierarchien und alten Führungsmustern denkt und das eigene Ego füttern möchte. Langfristig ist das Festhalten an dieser Form von Kontrolle und Autorität aber nicht zielführend. Die naheliegende Frage lautet also: Welche Rolle nehmen Sie als Entscheidungsträger:in im digitalen Zeitalter ein?

Der Erfolg Ihres Teams ist Ihr Erfolg — und umgekehrt.

An der Idee festzuhalten, Sie könnten im Finanzgeschäft — einem der komplexesten Systeme der Welt — allein die Kontrolle behalten und informierte Entscheidungen treffen halte ich für ungesund; ja sogar wahnsinnig. In gewisser Weise ist der Kontrollverlust in Wahrheit die Loslösung von einer Illusion! Im digitalen Zeitalter machen smarte Entscheider:innen keine One-Way-Ansagen, sondern profitieren von der kollektiven Intelligenz im Unternehmen. Auch fallen viele der klassischen Rollen wie Budgetierung, Kündigungen und Beförderungen, Leistungsbeurteilungen, etc. weg.

Stattdessen kommen drei wesentliche Funktionen dazu: Erstens gilt es, möglichst viele Steine aus dem Weg der Mitarbeiter:innen zu räumen; dabei helfen Prozessoptimierungen und -neugestaltungen sowie der Einsatz von digitalen Schlüsseltechnologien. Zweitens gilt es, die neu gewonnene Zeit auf das eigene Gespür zu verwenden: Werden Sie zum „Sensor dafür, wohin die Organisation gehen möchte“, wie es Frédéric Laloux in „Reinventing Organizations“ ausdrückt. Und drittens gilt es, den Raum, bzw. digitalen Kurs, zu halten. Immer wenn es brenzlig wird, werden Ihre Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen versucht sein, wieder in alte Strukturen und Arbeitsweisen zu verfallen. Es liegt an Ihnen, als Leader und Vorbild der Selbstführung voranzugehen.

Aber... das kann doch nicht für Banken gelten, oder? Doch! Auch als Manager:in und selbst als Vorstandsvorsitzende:r sind Ihre Entscheidungen nur so gut, wie die zugrundeliegenden Informationen, auf die Sie diese stützen. Betrachten Sie hingegen Ihre Mitarbeiter:innen, sowie digitale (KI-)Systeme und Schlüsseltechnologien (z. B. Smart Data Analytics,) als Teil, bzw. als Erweiterung Ihres Selbst, werden Sie schnell feststellen, dass sie erstaunliche Ergebnisse erzielen können, wenn Sie sich von der starren Hierarchie lösen und beginnen sich stattdessen als Digital Leader zu begreifen.

So kämpfen wir weiter, wie Boote gegen den Strom, und unablässig treibt es uns zurück in die Vergangenheit.“[1] – Francis S. K. Fitzgerald (1896 - 1940), Schriftsteller.

Hier sind einige Tipps, die Ihnen die Umstellung erleichtern können:

  1. Fördern Sie Digital Empowerment, anstatt es zu unterbinden. Solange Sie sich darauf konzentrieren was Sie verlieren könnten, werden Sie nie erfahren was Sie gewinnen können.
  2. Lernen Sie loslassen. Auch wenn Sie zunächst eine Art Phantomschmerz empfinden: Lösen Sie sich von der Verlustaversion und schenken Sie Ihren Mitarbeiter:innen das Vertrauen (und die Eigenverantwortung), dass sie verdienen.
  3. Entwickeln Sie — gemeinsam im Team — einen starken Purpose und eine Kern-Leidenschaft. Und leben Sie diesen anschließend konsequent. Dies bedeutet auch, sich von Mitarbeiter:innen zu trennen, die nicht an die neue Richtung glauben und/oder kein digitales Mindset entwickeln möchten.
  4. Beziehen Sie den Betriebsrat mit ein. Mit Veränderungen ist das immer so eine Sache. Oft ist das, was wir uns wirklich wünschen, nicht das, was wir wirklich brauchen. So verhält es sich auf oft mit dem Digitalen Wandel im Unternehmen. Mir ist kein Unternehmen bekannt, bei dem die Automatisierung und Optimierung von Prozessen nicht auch zu Kündigungen geführt hat. Dabei zählt auch nicht, dass neue Stellen geschaffen wurden. Tun Sie sich selbst deshalb einen Gefallen: Holen Sie alle Stakeholder an Board, nicht nur die am eigentlichen Digitalisierungsprojekte beteiligten.
  5. Üben Sie sich gegenüber Ihrer Mitmenschen — d.h. Ihrer Mitarbeitenden, Mitentscheidenden und Mitstreitenden — in aufrichtiger Anerkennung, Authentizität, Empathie, Integrität, Transparenz und Wertschätzung. Ohne diese gelebten Werte werden Ihnen die Loyalität, die Motivation und der Rückhalt Ihrer Mitstreiter:innen früher oder später abhanden kommen.

Digital Leadership ist Zustand und Haltung zugleich

Digital Leadership beschreibt sowohl die Führerschaft als auch die Führungsqualitäten im digitalen Umfeld. Ähnlich wie auch bei der Digitalisierung handelt es sich bei Digital Leadership allerdings um einen Begriff, dem je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen zugesprochen werden. Im Marktumfeld beschreibt digitale Führerschaft den Digitalisierungsgrad des Unternehmens im Vergleich zu Mitbewerbern. Dasselbe gilt auch für Städte und ganze Staaten; in diesem Fall spricht man auch vom digitalen Staat, oder Digitalstaat. Hier gelten etwa Singapur, Südkorea und Japan als digitale Vorreiter, dicht gefolgt von den Skandinavischen Ländern (Estland/Finnland/Norwegen/Schweden), den Niederlanden sowie den Vereinigten Staaten und China. Digital Leadership kann aber auch auf die Führungsqualitäten einer Person bezogen werden. Digitale Führung bezieht sich in diesem Fall auf die Aufgaben und Werkzeuge, die eine Führungskraft im digitalen Zeitalter anwenden kann. Während digitale Führerschaft immer nur ein temporärer (Ideal-)Zustand sein kann der von vielen externen Faktoren (z. B. vomWettbewerb) abhängig ist, handelt es sich bei digitaler Führung um eine Grundeinstellung; eine Lebensphilosophie auf die Sie Einfluss nehmen können. Die folgenden Abschnitte beziehen sich deshalb auf Digital Leadership im Sinne der digitalen Führung.

Jedes Digitalisierungsprojekt ist ein großes Risiko für die eigene Karriere. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Digitalisierung nicht nach Plan läuft, länger dauert und mehr kostet, liegt bei nahezu 100%. Schließlich geht es um die Weichenstellung in eine ungewisse Zukunft. Leider schaffen Unternehmen hierfür viel zu wenige Anreize. Mehr noch: das heutige Anreizsystem bereitet mir große Sorgen. Die meisten Manager:innen in hohen Führungspositionen sind heute 50+. Sie haben überhaupt kein Interesse an Veränderung, denn das würde ihre Rolle, ihre Karriere und ihren Status bedrohen. Unklar ist auch, ob sie die Früchte für die von ihnen angestoßene Veränderung überhaupt noch ernten können. Den Kopf in den Sand zu stecken und den ‚wohlverdienten Ruhestand‘ abzuwarten scheint geradezu verlockend; zum Leidwesen des Unternehmens, der Kolleg:innen und der Kund:innen. Wie ich bereits in der Einleitung erklärt habe: Der Digitale Wandel hört nicht auf, nur weil wir ihn ignorieren oder wegwünschen.

Die Teilnahme am Digitalen Wandel ist ein Risiko. Nicht zu digitalisieren aber auch, denn der Einsatz ist die Zukunftsfähigkeit. „Das Risiko stößt in einen unbekannten Raum vor (....). Der Akt des Risikos ist dem Zufall ausgesetzt“[2], schreibt die Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle in „Lob des Risikos: Ein Plädoyer für das Ungewisse“. Keine Epoche war je „sicherer“ und dennoch leiden wir „alle unter einer wachsenden, unermesslichen Angst vor jedem potenziellen Ereignis.“[3] Diese Angst wirkt beunruhigend; sogar lähmend. Ihr jedoch nachzugeben wäre fatal. Vielmehr müssen wir lernen, unsere Ängste zu begrüßen, denn in ihnen liegt unglaubliches schöpferisches Potenzial.[4]

Digital Leadership bedeutet deshalb auch, Veränderungen auszuhalten. Digitalisierungsprojekte bedeuten ein hohes Maß an Verantwortung und Belastung für alle Beteiligten. Die Wahrscheinlichkeit, mit einem Projekt zu scheitern steigt mit zunehmender Komplexität enorm. Gleichzeitig sind es häufig Faktoren außerhalb des eigenen Einflussbereichs, die zum Scheitern führen. Beispielsweise könnte das Budget gekürzt oder tragende Mitarbeiter:innen versetzt werden. Ebenfalls ist es möglich, dass Kooperationspartner spontan abspringen. Alle diese Fälle gefährden das Projekt und setzen Sie und Ihr Team unter Druck. Es gibt nichts Schlimmeres für die Reputation eines Unternehmens und die Moral im Team, als kurz vor Beendigung eines Digitalisierungsprojektes das Vorhaben abzubrechen, weil die Führungsriege kalte Füße kriegt, sich übernommen hat, oder für gute Publicity lieber dem nächsten Hype folgen möchte. Seien Sie kein Fähnchen im Wind. Seien Sie ein Digital Leader!

Halten Sie die Digitalisierung aus, strahlen Sie Souveränität aus und profitieren Sie von einer Welt mit unbegrenzten Möglichkeiten. Schnell werden Sie erkennen, dass auch im digitalen Zeitalter das Vertrauen Ihrer Angestellten, Investor:innen, Zulieferer und Kund:innen in die Zukunftsfähigkeit des Unternehmen gleichzusetzen mit dem Vertrauen in Ihre Führungskompetenz. Denn obgleich es die Algorithmen und Computersysteme sind, welche die hochkomplexen und stark vernetzten Prozesse orchestrieren, werden die zugrundeliegenden Entscheidungs- und Arbeitsprozesse letztlich von Menschen bestimmt.[5]

Wagen Sie den Digital L.E.A.P.!

Ich lade Sie ein, den Weg in die Digitalität einzuschlagen und auch Ihre Mitarbeitenden dazu zu ermutigen. Bevor Sie als Digital Leader das Potenzial der digitalen Ära voll ausschöpfen können und als wahre digitale Pionier:in (Digital Pioneering) den Weg für die Generationen von morgen ebnen können, sollten Sie sich zunächst digitale Grundkompetenzen (Digital Literacy) aneignen, für das digitale Zeitalter rüsten (Digital Empowerment) und anschließend gelerntes in der Praxis umsetzen (Digital Application) um so auch anderen ein Vorbild zu sein. Dies beschreibt den vierstufigen Weg zur Digital Leadership, den ich Digital L.E.A.P. (Literacy, Empowerment, Application und Pioneering) nenne.



[1] Fitzgerald, F. S. (2011): Der Große Gatsby, 1. Auflage, Nikol Verlag, ISBN-10: 3868200975

[2] Dufourmantelle, A. (2018:28): Lob des Risikos, Ein Plädoyer für das Ungewisse, 1. Auflage, aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2018

[3] Dufourmantelle, A. (2018:78): Lob des Risikos, Ein Plädoyer für das Ungewisse, 1. Auflage, aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2018

[4] Vgl. Dufourmantelle, A. (2018:98): Lob des Risikos, Ein Plädoyer für das Ungewisse, 1. Auflage, aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2018

[5] Vgl. Knaut, A. (2017:48): Corporate Social Responsibility verpasst Digitalisierung. In: Hildebrandt A., Landhäußer W. (eds) CSR und Digitalisierung. Management-Reihe Corporate Social Responsibility. Springer Gabler, Berlin, Heidelberg, S. 51-59.



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