Die Pantoffel-Regel
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Die Pantoffel-Regel

Als ich acht, neun Jahre alt war, hatte ich ein Poesiealbum. Von außen war es aus schwarzem Lack mit bunten Herzchen. Innen hatten sich meine Freunde und Freundinnen verewigt. Aber nur ein Spruch ist mir bis heute im Gedächtnis. Meine Freundin Annina hat ihn hineingeschrieben.

Urteile nie über einen Menschen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist.“

Je älter ich werde, desto mehr merke ich, wie wahr dieses angeblich indianische Sprichwort ist. Man kann vieles nicht nachfühlen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Früher dachte ich manchmal: Warum ist der denn jetzt so aggressiv? Warum hat die schon wieder schlechte Laune? Aber je älter man wird, desto mehr Mist – und natürlich auch Glück – hat man selbst erlebt. Man war mal heillos verliebt, hat seinen Job verloren oder den Traumjob gefunden. Ist durch die Fahrprüfung gefallen, lag im Krankenhaus oder hat unerwartet neue Freunde gefunden. Und plötzlich merkt man: Aha, so fühlt sich das an. Aha, so reagiert man da. Und stellt fest, wie schwierig es in manchen Situationen ist, sich klug, umsichtig und freundlich zu verhalten.

Ich habe zum Beispiel als Journalistin schon häufiger über Burn-out geschrieben. Aber erst als ich selbst einmal Stresssymptome hatte (und ich war vermutlich noch weit vom Burn-out entfernt), wusste ich, wie furchtbar sich das anfühlt. Wie kopflos man plötzlich agiert.

Der Poesiealbums-Spruch ist zu einem Stopp-Schild in meinem Kopf geworden. Wenn ich reflexartig denke: „Was für ein Vollidiot!“, dann versuche ich (und nein, es klappt nicht immer) mich daran zu erinnern, dass ich nicht weiß, was dem Idioten heute Morgen schon passiert ist. Macht er sich Sorgen um seine magersüchtige Tochter? Hat er seit Tagen Rückenschmerzen? Hat er einen Job, der ihn in den Wahnsinn treibt?

Das heißt nicht, dass man für jedes merkwürdige Verhalten Verständnis haben muss. Aber es ist eine gute Idee, sich darin zu erinnern, dass ein weiser Häuptling sich kein Urteil über einen anderen erlaubt, bevor er nicht ein paar Schritte in dessen Schuhen gegangen ist.

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Nelli Morlang

Studium an der Hochschule FH Würzburg - Schweinfurt

2 Jahre

Wahre Worte! Sehr gut geschrieben.

Sandra Schubert - die SCHUBs

✸Charismatische Impulsgeberin und Umsetzungsbegleiterin ✸Happy Sales & Self Empowerment ✸ Chancenfinderin und EmpowerMe Coaching ✸ KI Beratung @EnlightX ✸

2 Jahre

"Walk your customers shoes" ist gerade im Vertrieb ein wichtiger Tipp - eigentlich sonnenklar und wird gleichzeitig so wenig berücksichtigt! Die Umschreibung "Pantoffelregel" gefällt mir sehr gut und bringt mich zum Schmunzeln. Vielen Dank für die Erinnerung!

Jule Wischmann

Be Bold, be Social, be SCHÖN & BIESTIG!

2 Jahre

Ich denke Empathie und Einfühlungsvermögen sind mit die wichtigsten Eigenschaften einer Führungsposition ! Guter Denkanstoß und Reminder! 💪

Kai Below, Dr.

Offen für neue Herausforderung als People Lead, Transformations- und Change Manager, Organisations-, Team- und FK-Entwickler | menschenorientierter Führung | Beratung, Training, Coaching #gerneperdu

2 Jahre

Danke dir für den Impuls liebe Nicole Basel. Wir sind so schnell in Bewertungen, die uns und anderen schaden. Schöner Spruch / Reflektion zur Entschleunigung bei Bewertungen.

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