Die Sache mit dem Parkplatz
Fotos: © Steffen Körner

Die Sache mit dem Parkplatz

Montag, 8. April, Niagara Falls, ON. Einer der Orte, über die heute der Kernschatten der totalen Sonnenfinsternis ziehen wird. Von den rund 650 Millionen Menschen in Mexiko, Kanada und den USA, die Zeugen des spektakulären Himmelsereignisses werden, sollen heute unvorstellbare eine Million Sonnenfinsternis-Begeisterte die beiden Schwesterstädte dies- und jenseits der Grenze besuchen. Zwei davon sind wir. Schon am Sonntag konnten wir die umfangreichen Vorbereitungen für ein echtes Volksfest beobachten. Konzertbühnen, Kioske, Kleinkünstler, Fernsehteams, Hobbyastronomen, Vlogger und natürlich Polizei, Feuerwehr, Hilfsdienste und unzählige Volunteers wollen das Ereignis zu einem vollen Erfolg werden lassen, sowohl wissenschaftlich-spirituell als auch wirtschaftlich.

Die Finsternis wird gegen 14.30 Uhr Ortszeit beginnen und die dreiminütige Nacht, also die volle Bedeckung der Sonne, wird für 15.20 Uhr erwartet. Wir machen uns gegen 8.00 Uhr vom Hotel aus auf den Weg Richtung Wasserfälle, um die Steigerung der Spannung hautnah miterleben zu können. Die Victoria Avenue, an der unser Hotel liegt, erinnert nicht nur uns irgendwie an Las Vegas. Viel Leuchtreklame, Glitzer und Mäusekino - und viel Verkehr. Bereits früh am Morgen wälzt sich eine Blechlawine durch das Städtchen. Es ist eine bunte Mischung aus neugierigen Einheimischen, die einfach nur mal gucken wollen was geht, Posern, denen sich für ihren markigen V8-Sound eine angemessene Bühne bietet und eben den vielen Eclipse-Touristen, die zunächst vor allem eines suchen: einen Parkplatz. Nun sind Kanada und die USA naturgemäß weitläufiger als Deutschland. Aber der überwiegende Teil der Million kommt erwartungsgemäß nicht, wie wir, mit dem Bus, sondern mit dem Auto hierher. Das lässt nicht nur für den laufenden Verkehr längere Staus befürchten, sondern dürfte auch den ruhenden Verkehr zu einem komplexen mathematischen Packproblem werden lassen.

Wir stehen mit unseren gefühlt 120-Grad-Kaffees einer bekannten Restaurant-Kette (heiß und flüssig!) am Straßenrand und beobachten das geschäftige Treiben. Die kleinen Shops bringen ihre Auslagen in Stellung. Indische Räucherstäbchen, XXL-Burger, T-Shirts mit Sonnenfinsternis-Bildern, Bud-Dosenbier und natürlich überall: Eclipse Glasses: $3. Etwa zwanzig Meter neben uns steht ein junger Mann von vielleicht 25 Jahren in der Einfahrt zu einer Brachfläche zwischen zwei Häuschen. Es ist nicht vielmehr als eine Wiese von vielleicht 500 Quadratmetern, die sich nicht gerade durch Golf- oder Fußball-Qualität auszeichnet. Neben ihm an einem Pfahl ein Schild, genauer gesagt, ein laminierter Zettel: „Parking $10“. Die Stadt bietet genau gegenüber: "Public Parking $40". Das kann nicht sein! Auf seiner Wiese steht bisher ein Wagen, ein zweiter parkt gerade ein. Der junge Mann bückt sich, greift in seine am Boden liegende Tasche und holt noch ein Schild heraus. Er reißt das erste vom Pfahl und tackert das neue an: „Parking $50“. Wow, einen Preissprung von 500 Prozent muss man wohl als Zeichen einer anhaltend hohe Nachfrage deuten. Der junge Mann bemerkt, dass wir seine flexible Preisgestaltung beobachtet haben und fühlt sich irgendwie ertappt. Er zuckt mit den Schultern, verstaut das erste Schild in seiner Tasche und lächelt entwaffnend. ‚Was soll ich machen? Das Geld liegt buchstäblich auf der Straße!‘

Wir sind uns in der Bewertung dieses Vorgangs (ich liebe dieses deutsche Wort fast so sehr wie „Maßnahme“) einig. Er sagt etwas aus über die Kanadier und ihr wundervolles Land, ihre Mentalität, ihre Einstellung zum Leben und zum Business - aber gleichzeitig auch so manches über uns Deutsche und unser Land. Warum nur haben wir den Verdacht, dass das gerade Erlebte bei uns irgendwie schwer vorstellbar ist. Die spontane Vermietung von privaten Grünflächen als Parkplatz, ohne bauliche und verkehrstechnische Abnahme oder zumindest ein TÜV-Gutachten zur Unbedenklichkeit? Und ohne umweltrechtliche Überprüfung einer möglichen Beeinträchtigung der Lebensqualität von Rotbauchunken oder Seeschwalben? Ohne vorherige Überprüfung, ob die verlangten Preise auch leistungsgerecht und transparent sind?

Wäre der „Parkplatz“ darüber hinaus nicht auch ordnungsgemäß abzusperren und ausreichend zu beleuchten (Sonnenfinsternis!)? Muss für das Geschäft nicht ein Gewerbe angemeldet werden? Und sind die erwirtschafteten Erträge nicht steuerpflichtige Einkünfte? Sind die Mieterlöse gegebenenfalls umsatzsteuerpflichtig? Warum werden die Parker nicht darüber aufgeklärt, dass das Parken auf eigene Gefahr geschieht? Oder wer haftet sonst bei möglichen Parkunfällen? Ach ja, wurde die Stelle des „Parkplatzwächters (m/w/d)“ eigentlich geschlechtergerecht ausgeschrieben, um jede denkbare Diskriminierung zu vermeiden? Außerdem wird der junge Mann sicher für seinen voraussichtlichen 12-Stunden-Job bezahlt. Wie steht es da mit der Pausenregelung? Ist er sozialversichert? Und schließlich, aus deutscher Sicht vielleicht das Allerwichtigste: Muss nicht der Staat den schutzdedürftigen Parkplatzsuchenden - obgleich ja mündiger Bürger - grundsätzlich vor solch gerissenen Geschäftemachern und halsabschneiderischen Kapitalisten mit ihren Wildwest-Methoden durch geeignete Maßnahmen (!) bewahren?

Fragen über Fragen. Mit denen sich wahrscheinlich weder der junge Mann, noch sein Boss (vielleicht gleichzeitig sein Vater), noch der Mayor, das Police, Fire oder Trading Supervision Department beschäftigt haben. Wahrscheinlicher ist, dass der Grundstückseigentümer als pflichtbewusster Bürger bei einer der vorgenannten Behörden angerufen hat, um sie zu informieren, dass er für den erwarteten Eclipse Run eine Parkfläche zur Verfügung stellen will. Und sein Gegenüber hat ebenso wahrscheinlich geantwortet „OK, thank you, Man!“ Schon oft habe ich mich nach meiner Rückkehr von der anderen Seite des Teiches gefragt, ob uns hier nicht ein wenig mehr von deren Pragmatismus weiterhelfen würde. Denn er führt - wie man als erfahrener deutscher Behördengänger vielleicht erwarten würde - weder zu chaotischen Zuständen, noch zum allgemeinen Verfall der Sitten. Im Gegenteil.

In meiner Heimatstadt Erfurt wird in einer Nachbarschaft am Stadtrand seit Jahren eine dringend benötigte neue Schule nicht gebaut. Der Grund: ein Gutachten spricht dagegen. Denn auf dem geplanten Baugelände leben ca. 30 Feldhamster. Ihre artgerechte Umsiedlung würde mindestens 1,5 Millionen Euro kosten. Die getroffene Interessenabwägung ist - ob man es wahrhaben will oder nicht - auch eine Botschaft: Hamster sind wichtiger als Kinder.

Zurück in Niagara Falls. Am späten Nachmittag - die totale Sonnenfinsternis hatte sich aufgrund des wider Erwarten schlechten Wetters zu einem eher durchschnittlichen Event entwickelt und zahlreiche enttäuschte Einheimische, Besucher und Geschäftsleute zurückgelassen - kamen wir wieder am besagten „Parkplatz“ vorbei. Die Wiese war wieder oder noch immer so gut wie leer. Auf dem Schild an der Einfahrt stand zu lesen: “Parking $10“. Das nennt sich, glaube ich, Marktwirtschaft.

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