Die zwei Gesichter der Mehrfachbeschäftigung
Immer mehr Menschen arbeiten in mehreren Jobs zugleich. Frauen tun das eher als Männer. Oft entspringt Mehrfachbeschäftigung finanzieller Not. Zugleich ist das Phänomen ein Ausdruck neuer Freiheiten. Es ist macht Spass, zu slashen.
Aus: Zeitschrift Panorama, Juni 2020
Sandra Moser musste in ihrem Leben immer wieder unten durch. Zehn Jahre lang arbeitete die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern in zwei Jobs zugleich, am Morgen ab 7 Uhr im Verkauf und am Nachmittag in ihrem angestammten Beruf als Kauffrau. «Das Mittagessen ass ich im Tram. Aber ich war froh, dass meine Kinder bei einer guten Pflegefamilie waren», erinnert sie sich. Mit 58 wurde sie, nach zwanzig Jahren in der gleichen Firma, entlassen. Weil sie keinen Job mehr fand, absolvierte sie eine Zusatzausbildung in der Pflege, wo sie für die letzten drei Arbeitsjahre eine Anstellung fand. Heute ist Sandra Moser 67.
Wenn sie ihre Geschichte erzählt, dann sind die Emotionen wieder da. «Obwohl ich so viel gearbeitet habe, bekomme ich heute nicht einmal die volle AHV», sagt sie. Ihre Wut machte sie vor einigen Monaten in der Kommentarspalte zu einem Artikel des Sonntagsblick publik, der den Titel trug: «393’000 Menschen in der Schweiz haben mehr als einen Job». Der Beitrag bilanzierte: «Die Zahl der Menschen mit zwei oder mehr Stellen steigt. Betroffen sind vor allem Frauen.» Sandra Moser ist eine von ihnen.
Prekäre Arbeitsverhältnisse
Ein Blick in die Statistik bestätigt die Beobachtung. Vor zehn Jahren gaben im Rahmen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung noch 273’700 Personen an, mehrere Arbeitsstellen zu haben, 2019 waren es schon 378’500 – ein Zuwachs von über 100’000 Personen (136%). Der Anstieg relativiert sich zwar, wenn man ihn ins Verhältnis zum Total der Arbeitsstellen setzt; so zählte man im vierten Quartal 2010 4,021 Millionen Arbeitsstellen, neun Jahre später 4,524 Millionen, über eine halbe Million mehr also. Trotzdem stimmt der Befund: Mehrfachbeschäftigung nimmt zu. Ende 2010 hatten 6,7 Prozent der Erwerbstätigen im Alter von 15 bis 64 mehrere Jobs gleichzeitig, 2019 waren es 8,4 Prozent.
Die Quote der Multijobber hat ein Gesicht. Es ist erstens weiblich. Mehr als jede zehnte berufstätige Frau hat zwei oder mehr Jobs, von den Männern ist es nur jeder Zwanzigste. Zweitens sind Schweizerinnen eher betroffen als Ausländerinnen (12% respektive 8,7% im 4. Quartal 2019). Das ist überraschend. Die Gründe dafür sind offen. Vielleicht sind Schweizerinnen eher bereit, gescheiterte Ehen zu beenden und finanzielle Belastungen in Kauf zu nehmen. Eine Überprüfung dieser Hypothese ist allerdings nicht möglich, da die von Bundesamt für Statistik (BFS) erhobene Gesamtscheidungsrate die Analyse der Scheidungen unter dem Staatsangehörigkeitsaspekt kaum zulässt; so werden im Ausland geschlossene Ehen von in der Schweiz wohnhaften scheidenden Personen nicht berücksichtigt. Drittens spielen die Kinder beim Entscheid, zwei Jobs gleichzeitig nachzugehen, eine wichtige Rolle. Von den weiblichen Erwerbstätigen mit Kindern zwischen 0 und 6 Jahren haben nur knapp 9 Prozent mehrere Arbeitsplätze. Aber wenn der Nachwuchs eigenständiger ist, sind es 14,3 Prozent (Kinder von 7 bis 14 Jahren). Überhaupt ist die Konzentration auf die mittleren Altersgruppen (40- bis 54-Jährige) auffällig. Hier haben 5,5% der Männer zwei und mehr Anstellungen und 12,4% der Frauen (Grafik G2).
Wie Sandra Moser, so arbeiten viele dieser Menschen nicht freiwillig für zwei Arbeitgeber zugleich. Dies zeigt die BFS-Publikation «Mehrfacherwerbstätigkeit in der Schweiz, 2017». Ihr zufolge ist Mehrfacharbeit unter Hilfskräften besonders verbreitet (Reinigungspersonal in Privathaushalten, Hilfsarbeitende im Bau und bei der Herstellung von Waren, sowie ungelernte Arbeitskräfte). Von ihnen haben 17,5% mehr als eine Anstellung, bei den Frauen sogar 24%. Die Gewerkschaften sprechen angesichts dieser Zahlen von «prekären Arbeitsverhältnissen». Meist verdienen die Betroffenen mit nur einem Einkommen zu wenig zum Leben, sagt Gabriel Fischer von Travailsuisse: «Ein Job alleine reicht ihnen nicht.» Wären sie in der Industrie tätig, wäre ihre Situation anders: Hier gehen laut BFS-Studie nur wenige Erwerbstätige mehreren Berufen nach (Industrie- und Handwerksberufe: 4,0%; Anlagen- und Maschinenbedienung: 3,6%).
Die helle Seite der Medaille
Trotzdem wäre es zu einfach, Mehrfachbeschäftigung nur als das Ergebnis einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse zu sehen, wie sie die Gewerkschaften beklagen. Manon Perfetta ist ein Beispiel dafür. Die 26-jährige Genferin redigiert Beiträge auf Web und übersetzt für Videospiele Texte aus dem Englischen ins Französische. Sie mag beide Tätigkeiten, sagt sie, und sie mag es, dass sie sie gleichzeitig ausüben kann: «Manchmal arbeite ich am gleichen Tag an ganz unterschiedlichen Aufgaben. Als Freelancerin kann ich arbeiten, wann ich will.» Ihre Dienste bietet Manon Perfetta unter anderem auf Slascher an, einem westschweizer Portal, auf dem sich derzeit rund 3000 Inserate von Leuten für Arbeiten in den unterschiedlichsten Domänen finden – von A wie animaux bis V wie véhicules. Perfetta ist auch auf anderen Portalen präsent, Fiverr für Übersetzungen, Textbroker oder 5euros für die Textredaktion: «Es ist schwierig, mit nur einer Plattform genügend Aufträge zu bekommen», sagt sie.
Manon Perfetta gehört nicht etwa zu einer Minderheit von Glückspilzen, sondern ist Teil der grössten Gruppe der Mehrfachbeschäftigten, der Gruppe der Erwerbstätigen mit einem hohen Bildungsstand (Tertiärstufe). 2017 gingen 8,4 Prozent von ihnen einer Bindestrichkarriere nach; bei den Personen mit Sekundarstufe II waren es 7,2 Prozent, bei jenen mit Sekundarstufe I 6,6 Prozent (Grafik G1). Neben den Unterprivilegierten, die zur Mehrfachbeschäftigung gezwungen sind, gibt es also auch die anderen, die ihre Situation selber gewählt haben und darin neue Freiheiten finden – und nicht mehr von Mehrfachbeschäftigung reden, sondern von Slashing. Die Bezeichnung geht auf den Schrägstrich auf der englischen Tastatur zurück (slash). Sie soll erstmals im Jahr 2007 von der amerikanischen Journalistin Marci Alboher in ihrem Buch One Person – Multiple Careers verwendet worden sein. Die BFS-Studie stellt denn auch fest, dass die verfügbaren Informationen keine Rückschlüsse auf die Beweggründe erlaubten, weshalb eine Nebenbeschäftigung ausgeübt wird. Immerhin schienen «die Mehrfacherwerbstätigen mit ihrer Situation insgesamt zufrieden zu sein». Lediglich eine Minderheit, die im Rahmen ihrer Haupterwerbstätigkeit Teilzeit arbeitet, wünsche sich einen höheren Beschäftigungsgrad für diese Tätigkeit. Und nur ein Zehntel der Betroffenen sei mangels einer Vollzeitstelle mehrfacherwerbstätig.
Internet machts leicht
Das Phänomen der Mehrfachbeschäftigung wird sich in den nächsten Jahren akzentuieren, denn die Digitalisierung wirkt als Treiber für den Anstieg der Mehrfacharbeit. Jobportale machen es möglich, kurzfristig und umstandslos Arbeiten auszuschreiben respektive zu finden. Solche Portale sind in den letzten Jahren förmlich aus dem Boden geschossen und tragen Namen wie Upwork, 99designs, Fiverr, Malt, freelance, Smartjobr, twago oder Gulp. In der Schweiz bedeutend sind skillharbour oder Mila, das ähnlich wie Swisscom Friends ausgerichtet ist (Interview). Fiverr charakterisiert ganz gut die Mentalität der Generation von Slashern, die mit dem Internet gross geworden ist. Sie führen – wenigstens für eine gewisse Dauer ihrer Karriere – ein Berufsleben ohne Routine, das aus einem Labtop und einer Anreihung von Aufträgen besteht. Bei Fiverr finden sie vor allem Microjobs – kleine Aufgaben, die online erledigt werden können. Auf der in Israel domizilierten Plattform sind immer mehrere Millionen Angebote gelistet, deren Preise bei fünf US-Dollar beginnen (darum Fiverr).
Der Trend hat auch mit neuen Modellen der Arbeit zu tun. In Frankreich gibt es seit 2009 das «Auto-Entrepreneuriat», das besonders auf junge Leute eine hohe Anziehungskraft ausübt. Die Unternehmensform ähnelt dem ehemaligen Konzept der Ich-AG und erlaubt dem Arbeitnehmer, frei zu arbeiten oder im Rahmen eines gewissen Betrages Nebeneinkünfte abzurechnen. Eine ihrer Epigonen ist Marielle Barbe, Verfasserin des Buches Profession Slasheur. Darin erzählt sie, wie sie Slasherin geworden ist, eine «Chamäleon-Arbeiterin», wie sie sagt. Barbe argumentiert, dass laut OECD junge Leute unter 30 Jahren im Laufe ihres Lebens in mehr als 14 Berufen arbeiteten. Das sei eine grossartige Chance: «Junge Leute werden sich endlich auf die Suche nach etwas Sinnstiftendem machen können. Schluss mit den stereotypen Lebensläufen, dem Königsweg oder dem Abstellgleis.»
Andere Stimmen sind da skeptischer und sprechen von einer zunehmenden Uberisierung der Arbeitswelt. Ihre Attribute sind unsicher werdende Arbeitsverhältnisse und eine schlechte Bezahlung. Mehrere Jobs zu haben sei kein Ziel, sondern Schicksal: Heutzutage brauche man eben drei Jobs, um über die Runden zu kommen.
Aufträge über Jobportale
«Nur ein Klick entfernt»
Immer mehr Menschen suchen im Internet nach Jobs. Wer sich durchbeisst, hat die Chance, dass daraus eine feste Arbeitsbeziehung wird.
PANORAMA Ivo Blohm, Mehrfachbeschäftigung nimmt zu. Was hat das mit Internet zu tun? Im Internet finden wir viele Plattformen, die es sehr einfach machen, Jobs von zuhause aus zu suchen und zu erledigen. Die Arbeit ist nur ein Klick entfernt – dank Internet hat sich ein neuer Arbeitsmarkt mit einer hohen Zugänglichkeit entwickelt.
Was sind das für Jobs? Das reicht von der stupiden Kategorisierung von Bildern über Tätigkeiten wie dem Testen von Software bis hin zu Kreativaufträgen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie digital erledigt werden. Daneben gibt es auch physische Jobs über Internet. Ein Beispiel ist Swisscom Friends, wo man technische Hilfe etwa zur Telefonie anfordern kann.
Findet man über Internet eher einfache oder anspruchsvolle Aufgaben? Auf diesen Portalen kann man in kurzer Zeit einhundert Leute für einen Routinejob rekrutieren. Zugleich findet man hoch qualifizierte Leute, die ihr Kompetenzprofil, ihren Arbeitsort, bisherige Projekte oder ihre digitale Infrastruktur hinterlegt haben. Wir haben aber beobachtet, dass sich auch gut Ausgebildete zunächst durch einfache Arbeiten beissen müssen, bis sie besser bezahlte Aufträge erhalten. Häufig werden das dann ganz normale Geschäftsbeziehungen.
Mehrfachbeschäftigung ist oft das Ergebnis tiefer Löhne. Auch beim Clickworking? Eine Studie von uns in Deutschland zeigt, dass rund die Hälfte der befragten Personen, die über Jobplattformen Aufträge suchen, einem regulären Haupterwerb nachgehen. Viele Betroffene sind zudem verrentet oder studieren. Die Mehrheit der Befragten hat ein eher hohes Bildungsniveau.
Aber den Lohnwettstreit mit Ländern wie Indien werden sie verlieren. Auf digitalen Plattformen ist der Wettbewerber aus Indien genauso nah wie der eigene Nachbar, das stimmt. Aber häufig suchen Auftraggeber nicht den billigsten Anbieter, sondern eine langfristige Geschäftsbeziehung. Eine selbständige Marketingberaterin hat über Upwork ein virtuelles Backoffice eingerichtet. Sie nutzt Upwork nicht, um die Preise zu drücken, sondern um eine einfache Infrastruktur für die Abwicklung der Aufträge zu haben.
Wo sehen Sie die Chancen und Risiken des Clickworking? Da sind neue Arbeitsmärkte entstanden, die leicht zugänglich sind. Arbeit liegt at my fingertips, und ich kann sie autonom gestalten. Aber viele Betroffene erleben diese Autonomie nicht richtig, weil die Aufträge zu Anfang häufig wenig attraktiv sind. Zudem besteht das Risiko der schlechten Bezahlung.
Welche Bedeutung haben Stellenportale in Zukunft? Der Geist ist aus der Flasche, das zeigt auch der Blick in andere industrialisierte Länder. In Deutschland arbeiten laut Schätzungen 1,1 Millionen Clickworker.
Ivo Blohm ist Assistenzprofessor für Data Science und Management an der Universität St.Gallen. Er beschäftigt sich mit Themen wie Crowdsourcing und Internetökonomie.