EU-Integration der Schweiz
Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) sind trotz der Nicht-Mitgliedschaft der Schweiz eng und intensiv. Nachdem im Jahre 1992 der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom Schweizerischen Stimmvolk abgelehnt wurde, verhandelte der Bundesrat in den darauf folgenden Jahren eine Reihe von bilateralen Verträgen aus, welche heute allgemein als Bilaterale I und II bekannt sind. Die bilateralen Vereinbarungen stellen Vertragspakete dar, welche unterschiedlichste Politikfelder abdecken und eine geregelte Interaktion zwischen der Schweiz und der EU erlauben. Ein wichtiger Aspekt der Bilateralen behandelt den Zugang der Schweizerischen Wirtschaft zum Binnenmarkt der EU, welcher heute den grössten Wirtschaftsraum der Welt darstellt. Durch die Bilateralen hat die Schweiz eine stabile Beziehung zur EU aufgebaut, welche laufend erweitert und ergänzt wird. Die Schweiz als direkter Nachbar und umzingelt von EU-Mitgliedsstaaten ist ein Land, welches Stolz auf ihre politische Eigenständigkeit ist. Die direkte Demokratie, der Föderalismus und die Konsensfindung zwischen den Parteien sind nur einige Schlagwörter, mit denen sich die Schweizer Politik auszeichnet. Mit der Entstehung von eigenen EU-Institutionen hat sich ein gemeinschaftlicher Besitzstand entwickelt, welcher heute als acquis communautaire bekannt ist. Dieser stellt die Sammlung des gesamten EU-Rechts dar, welche für die Mitgliedsstaaten der EU verbindlich ist und in eigenes, staatliches Recht übertragen werden muss. Der Prozess der Anpassung des nationalen Recht an das EU-Recht beschränkt sich jedoch nicht nur auf Mitgliedsstaaten. Die Schweiz gehört zu den Nicht-Mitgliedsstaaten, die seit 1988 aufgrund eines Beschlusses des Bundesrats eine einseitige Angleichung des nationalen, schweizerischen Rechts an EU-Recht vollzieht. Dies obwohl die Schweiz keinen Einfluss auf die Entstehung der Gesetzgebung auf EU-Ebene ausüben kann.
EU-Recht
Die Angleichung des nationalen Rechts an den acquis communautaire sowie die Bilateralen Verträge sind nur einige Aspekte, welche eine gewisse Integration der Schweiz in die EU deutlich machen. Wie stark ist die Schweiz jedoch in die EU integriert? Während einige die Integration als partiell betrachten, welche sich auf einige wichtige Politikfelder beschränkt, um die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu bewahren, sehen andere die politische Selbstständigkeit der Schweiz durch die Anpassung des nationalen Rechts an EU-Recht in Gefahr. Allen voran die Schweizerische Volkspartei (SVP) setzte sich mit ihrer Selbstbestimmungsinitiative dafür ein, dass das nationale, schweizerische Recht keine Angleichungen an durch supranationale Institutionen beschlossenes Recht vollziehen soll. Jenni (2014) untersucht in ihrer Studie, in welchem Ausmass die Schweizer Gesetzgebung von der Europäisierung – sprich der Angleichung des nationalen Gesetzes an die EU-Vorschriften – beeinflusst wird. Für ihre Analyse hat sie den Anteil der Bundesgesetzreformen im Zeitraum von 1990 bis 2010 untersucht. Dieser Zeitraum deckt sich mit dem Beginn der einseitigen Angleichung der Schweizer Gesetzgebung, welcher 1988 vom Bundesrat beschlossen wurde. Dabei konzentriert sie sich auf Europäisierungsergebnisse, welche zu einer Deckungsgleichheit von Regeln führen. Sie untersucht, in welchem Zusammenhang eine Änderung in der Rechtsordnung auf ein Abkommen mit der EU oder auf eine EU-interne Regeländerung zurückverfolgt werden kann. Dabei unterscheidet Jenni (2014) zwischen einer vertikalen Dimension und einer horizontalen Dimension der Europäisierung. Die vertikale zeigt an, ob eine Änderung aufgrund eines Abkommens (Bilaterale I und II) vollzogen wird. Die Referenzkategorie bildet somit das bilaterale Recht, welches in den Abkommen festgelegt wurde. Die horizontale misst, wie hoch die materielle Kongruenz zwischen dem EU-Gesetz und dem Schweizerischen Recht ist. Dabei kann es sich laut Jenni (2014) um eine vollständige oder teilweise Anpassung oder um eine Vereinbarkeit mit dem EU-Recht handeln. Die Referenzkategorie ist somit das EU-Recht. Die Resultate ihrer Studie (2014) zeigen, dass rund ein Drittel aller Gesetzesänderungen der horizontalen Dimension der Europäisierung angerechnet werden können, wobei die Vereinbarkeit mit dem EU-Recht und vollständige Anpassungen häufiger vorkamen als Teilanpassungen. Nur ungefähr ein Viertel aller Änderungen können in Bezug zur vertikalen Messdimension der Europäisierung angerechnet werden. Dies deutet darauf hin, dass Gesetzesreformen mehr auf die einseitige Anpassungspolitik des Bundes als auf bilaterale oder sektorale Abkommen zurückverfolgt werden können.
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Gesetzesanpassungen durch wirtschaftlichen Druck
Mach et al. (2003) erklären die Anpassung der nationalen, schweizerischen Wirtschaftsbereiche an die der EU folgendermassen: Einerseits durch externen wirtschaftlichen Druck, welcher die EU durch die supranationalen Reformen auf die Schweizer Politik ausübte. Reformen innerhalb der EU veränderten die wirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen. Da viele Schweizer Unternehmen in der EU aktiv waren, mussten sie die Reformen mitmachen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu wahren. Dieser externe Druck wurde andererseits auf die interne, nationale Politik übertragen. Einige Schweizer Akteure erkannten ein Gelegenheitsfenster, um von dem Reformdruck zu profitieren und förderten Veränderung der Schweizer Politik und somit Anpassungen an die wirtschaftlichen Regulierungen der EU. Die Schweiz übernahm somit EU-Recht zu Wirtschaftspolitiken, um auf dem europäischen Binnenmarkt keine Nachteile zu erfahren. Die politische Eigenständigkeit der nationalen Schweizerischen Politik kann trotz der ökonomischen Integrationsschritte nicht vernachlässigt werden. Die Instrumente der direkten Demokratie sind weiterhin vorhanden und können entgegen der Europäischen Integration laufen. Ein Überblick über die letzten 20 Jahre der Schweizer Politik zeigt auf, dass die Schweizer Bevölkerung durch die direkte Demokratie oftmals eine gewichtige Rolle gespielt hat. Die Bevölkerung kann die Integrationsschritte des Bundes unterstützen. Das Beispiel der Masseneinwanderungsinitiative zeigt auf, dass die Schweizer Bevölkerung den Integrationsprozessen auch entgegenwirken kann – trotz Bilateralen I und II. Die Schweiz kann als ein Hybrid bezeichnet werden, der eine wirtschaftliche Integration und Annäherung sucht und gleichzeitig auf eine Mitgliedschaft verzichtet, um ihre politische Eigenständigkeit zu bewahren. Die Übernahme des EU-Rechts findet statt, jedoch auch nur bedingt und in Policy-Bereichen, in denen eine Integration gesucht wird und somit eine Angleichung fordert.