Gehen Messen digital?
Kostprobe Messe digital – die Bau 2021 wagte sich aus der Deckung. Foto: Pressefoto BAU München, Messe München

Gehen Messen digital?

Haben Sie schon einmal eine digitale Messe besucht? Ich war so frei und in der vergangenen Woche auf der BAU 2021 – das war (damals in der analogen Welt) die Leitmesse des Bauens (und in München). Was ich gelernt habe: Weder die Messe noch die von mir besuchten Aussteller haben es geschafft, den Kernnutzen von Messe ins Internet und zu den Besuchern zu transportieren. Für die Messe München war es im PR-Fazit - wie zu erwarten - ein Erfolg. Die anderen Beteiligten erlebten ein Fiasko.

– Dieser Meinungsbeitrag erschien zuerst im Branchen-Dienst SHK Tacheles –

Von Ladezeiten und Fehlermeldungen einmal abgesehen: Schon übers Einloggen auf die Messe kam nicht jeder hinaus. Und Zurechtfinden auf der Messe geht dann noch mal ganz anders. Das bezieht sich sowohl auf das Navigationskonzept des Messeanbieters als auch auf die Angebote, die auf den „Messeständen“ unterbreitet wurden. In einer Liste, die in der Struktur an den ollen Messekatalog erinnert (…diesen Papierschinken in Brikettform…) sucht man sich von A bis Z ein Event oder einen Anbieter raus. Ich muss zugeben, dass ich auch über konventionelle Messen selten in Euphorie verfallen bin. Aber die virtuelle BAU taugte allenfalls als Beispiel, wie man es nicht machen sollte.

Das Geschäftsmodell geht so nicht digital

Das Geschäftsmodell einer Messe ist es, knappen Raum auf knappe Zeit zu konzentrieren – und teuer zu verkaufen. Dafür schafft sie Rahmenbedingungen, die es erlauben, große Mengen Angebot mit großen Mengen Nachfrage körperlich zusammenzuführen. Vom Kuratieren der Themen haben Messen – über das Alphabet als Gliederung und das Verteilen von Anbietern auf Hallen hinaus – wenig Ahnung. Digital beschränken sie sich darauf, Besucher den Ausstellern zuzuführen – nach Anfangsbuchstaben. Besser hätte das auch Google nicht hinbekommen!

Messe im klassischen Sinne ist eigentlich „Tuchfühlung mit Leuten und Produkten“. Aber abgesehen von: „Ja schön, Sie mal wiederzusehen, Herr ... ähhh… wie war nochmal…?“ oder „Darf ich die Keramik mal anpacken?“ – „Nein, Verzeihung, ist noch ein Gipsmodell…“ gibt es kaum etwas, was das Internet nicht besser und wirtschaftlicher erledigen könnte, als eine Messegesellschaft. Heute ist jeder Messestand vom anderen nur einen Mausklick entfernt. Sie nennen es Internet! Zur Info: Das gibt es auch schon in München – trotz CSU-Totaldigitalminister Andi Scheuer. Und zwar 24/7 das ganze Jahr durch – ohne Hotelzimmer, Reisespesen und bei geringem CO2-Ausstoß. Und ohne zweistöckigen Messebau mit Sprinkler und Punktabhängung für ein paar hundert Euro/Stück.

Haben die Aussteller verstanden?

Der Messe kann man es nicht richtig übelnehmen, dass sie versucht, ihr einst hochprofitables Geschäftsmodell und ihre Marke über die Pandemie und ins Digitale zu retten. Im Kern vergleichbar ist das Messegeschäft mit dem Hotel. Raum anmieten, dabei Geschäftspartner treffen, sich austauschen, zusammen speisen – Zeit abwohnen. Aber wozu ein virtuelles Hotel? Das müsste man wohl besser die Aussteller fragen. Haben die verstanden, worum es hier geht? Ich habe 20 Jahre lang Messedienst in unterschiedlichsten Branchen geschoben und ich kann Ihnen versichern, dass mir von Standbesuchern zu 98 Prozent immer wieder eine der folgende fünf Fragen gestellt wurden:

1. Ist Müller/Meier/Schulze da?

2. Wer ist Ihr Vertriebler für Ostwestfalen-Lippe?

3. Habt‘s Ihr was Neues?

4. Was macht Ihr eigentlich?

5. Wo geht‘s zu Halle 5 / zum nächstgelegenen WC?

Um es kurz zu machen: Die nächstgelegene Toilette ist im Homeoffice kein Thema – aber auf keine der anderen Fragen habe ich als Bau-2021-Messegast eine Antwort bekommen. Aus eigenem Antrieb und Interesse wollte ich beispielsweise der Firma NFG nähertreten: NFG steht für „Netzwerk für Gebäudetechnik“ und gehört irgendwie zur GC-Großhandelsgruppe. Hintergrund: Hier will ein Großhändler zum Markenanbieter (S!stems) werden. Interessiert wollte ich mich anmelden zur Veranstaltung „Ground Cube“.

Ob „Ground Cube“ Produkt oder Präsentationsort ist, werde ich vielleicht nie erfahren, denn dazu gab es nur das einstündige Event „Energiekonzepte und Förderung – das volle Programm auf wenig Raum“. Hä? Setzen Sie sich eine Stunde virtuell irgendwo rein, ohne Ahnung worum es geht? Es gibt auf Messen den mir artverwandten Besucher vom Typ „Scheues Reh“, der sich nicht zu einem Vertriebler in die 1:1 Videoschalte setzt, um sich druckbetanken zu lassen (mit dem vollen Programm auf wenig Raum).

Live-Shows mit Powerpoint

Nicht nur für scheue Rehe gab es auf dieser Messe kein Angebot. Neuprodukt-Vorstellungen erfolgten zuweilen wie in unserem Gemeindeblättchen: Mit dem Bild eines Wohlfühl-Bades, in dem irgendwo im Fliesenboden das Ablaufprodukt verbaut ist – und faktenarmem Werbetext dazu. Dafür muss ich auf keine Fachmesse – und mich einloggen. Und die Live-Veranstaltungen? Man betritt den Saal und da sitzt wieder der 1:1 Vertriebler von oben. Ganz seltsam: Viele davon waren ausgebucht – und man kam nicht mehr rein. Wie kann eine Veranstaltung im Internet ausgebucht sein?

Manchmal wurde dann aufgezeichnet und lauwarm aus der Dose serviert. Nach der Versprechung eines Wärmepumpen-Spezialisten: „Hierbei dürfen Sie nicht zu wenig von uns erwarten, wir sagen selbstbewusst, dass hier die besten Online-Live-Shows geboten werden, die das SHK-Handwerk bisher gesehen hat…“ (sic!) waren meine Erwartungen hoch. Dann kam das Video-Stillleben „Schulungsleiter trägt vor Powerpoint-Bildschirm Notizen vor“. Ich möchte nicht den Dacia fahren, wenn das der Mercedes unter den Online-Live-Shows ist.

Fazit:

Hört sich trivial an: Vor dem Messe digitalisieren, Programmieren und Präsentieren sollte man unbedingt nachdenken, worum es bei Messe geht. Stellen Sie sich vor, Jeff Bezos hätte Amazon gegründet und dafür fürs Internet die knuffige Lieblings-Buchhandlung seiner Kindheit in virtual reality nachgebaut. So ähnlich läuft das heute bei den Messen. Hoffentlich gibt's bald wieder echte Messen mit zweistöckigen Ständen, Fingerfood und Sprinkler. Da stellt aus alter Gewohnheit wenigstens keiner infrage, ob sich der Invest gelohnt hat.

Holger Siegel

PS: Haben Sie Messeerfahrungen im Digitalen gesammelt? Als Aussteller oder als Besucher. Wie können wir es besser machen? Bitte melden!

Kontakt: siegel@id-pool.de


 

 

 

 

Peter Joehnk

Partner at ID-Developers, Partner at JOI-Design India and Founder and Senior Consultant at JOI-Design Hamburg

3 Jahre

Wieder mal großartig geschrieben! 👍

Sara Pearce

Marketing Consultant working with design led clients targeting A+D community

3 Jahre

Great article Holger, and your "5 questions from the booth" are both amusing and astute! Regarding the messe, there is a hunger to meet and explore but I think we may see new players who feed this hunger with creative new online spaces. These players will be able to create events without preconceived ideas and constraints which could be really exciting! I share your concerns for the messe, including ISH, who simply try to copy/paste from previous times.

Juergen Morlock

Export Director at Hamberger Sanitary GmbH

3 Jahre

Ich kann jeden Satz nachempfinden. War ebenfalls auf der Bau online. ,-))). Nichts hat mich wirklich fasziniert bzw begeistert. Nun kommt ISH. Das wird meines Erachtens ein aehnliches Desaster.

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