Gesundheitsversorgung der Menschen am Rande der Gesellschaft

Gesundheitsversorgung der Menschen am Rande der Gesellschaft

Zu Weihnachten unterstützt PPP die Wuppertaler Tafel für ihren unermüdlichen Einsatz am Rande der Gesellschaft mit einer Spende. Das klingt nach: „Tue Gutes und rede darüber.“ Wir haben aber auch ein sehr ernsthaftes Anliegen, auf das wir aufmerksam machen möchten. Das betrifft die Gesundheitsversorgung am Rande der Gesellschaft – hier vor allem für Obdachlose. Diese ist rechtlich prekär ausgestaltet, wovor die Rechtsprechung ohne Not die Augen zu verschließen droht:

Theorie

An sich ist diese Versorgung gut organisiert. Obdachlose haben einen Sozialhilfeanspruch. Kommen sie ins Krankenhaus, wird das Sozialamt informiert. Dieses muss dann von Amts wegen Gesundheitsfürsorge gewähren. Das geschieht in der Regel, indem das Krankenhaus eine Kostenzusage erhält und dann die Aufwendungen direkt gegenüber dem Sozialamt abrechnen kann. Möglich ist auch, dass der Betroffene eine Krankenkassenkarte erhält, gegenüber der dann abgerechnet wird. Die Krankenkasse bekommt dann diese Aufwendungen erstattet. Für die Zeit bis zur Information des Sozialamtes gibt es außerdem einen „Nothelferanspruch“, sodass auch die Ersthilfe bis zur Kenntnisnahme der Behörden abgedeckt ist. Das klingt nach einem lückenlosen System und entspricht auf dem Papier dem Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums für Jedermann, wie er in der Verfassung und durch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes verbürgt ist.

Realität

Die Realität ist aber eine andere: Obdachlose sind Menschen am Rande der Gesellschaft. Oft sind diese durch Schicksalsschläge hart getroffen und haben eine lange, leidensvolle Lebensgeschichte hinter sich, die in vielen Fällen mit schlimmsten Erfahrungen in der Kindheit beginnt. Sie haben zu anderen jedes Vertrauen verloren und sich faktisch aus dem Leben, wie wir es kennen, zurückgezogen. Obgleich ihnen der Anspruch auf die gesellschaftliche Unterstützung im wahrsten Sinne ins Gesicht geschrieben ist, nehmen sie die mögliche Hilfe nicht in Anspruch. Sind sie gesundheitlich in Not, kommen sie aber selbstverständlich ins Krankenhaus oder – noch häufiger – werden in hilflosem Zustand eingeliefert. Dort werden sie aufgenommen und versorgt, aufgrund gesetzlicher Pflicht zur Hilfe in gesundheitlichen Notlagen und aus medizinischer Verantwortung. Sobald sie können, verlassen sie das Krankenhaus dann wieder. Dann sind sie für die Behörden einerseits nicht mehr greifbar, „verlangen“ aber auch nichts mehr. Die Gesundheitsversorgung hat bereits stattgefunden. Erst wenn der Körper wieder seinen Dienst versagt, beginnt der Kreislauf von Neuem. Aufnahme in hilflosem Zustand, Versorgung bis zur Wiederherstellung, Verlassen des Krankenhauses. Das ist mitunter ein tragisches Sterben in Etappen, in dem nur die schlimmste gesundheitliche Not gelindert wird.

Diese Linderung ist das Mindeste, das zu leisten ist – wenn schon viele der Betroffenen auf alle weiteren Hilfen verzichten, die ihnen eigentlich zustehen. Dazu zählen ein Dach über den Kopf, Wärme, Schutz, Nahrung und ein Minimum an Teilhabe am sozialen Leben. Stattdessen lassen die Behörden und Sozialgerichte die Helfer und damit die Obdachlosen selbst schutzlos. Denn auch hier gilt: Wo kein Kläger, da kein Richter. Der Obdachlose verlangt keine Gesundheitsfürsorge, er hat sie ja bekommen. Also kann das Sozialamt, obgleich von Amts wegen ab dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zur Hilfe verpflichtet, auf die Gewährung verzichten. Dem Krankenhaus, das hilft, wird sodann entgegengehalten, dass es selbst keinen Anspruch habe (LSG NRW, Urt. v. 28.04.2021, L 122 SO 61/21). Der Anspruch stehe nur dem Obdachlosen zu. Das führt zu der absurden Situation, dass der Anspruch auf Gesundheitsfürsorge objektiv unstrittig besteht, er aber nicht durchgesetzt werden kann. Derjenige, der den Anspruch hat, braucht ihn nicht geltend zu machen, und der, der ihn geltend machen müsste, kann ihn nicht geltend machen.

Nur für seine Nothilfe, bis das Sozialamt informiert wird, gibt es dann einen Anspruch. Selbst dieser Anspruch für die Nothilfe wird unzutreffend kleingerechnet, indem die Berücksichtigung des tatsächlichen Aufwandes in der Nothelferphase ausgeschlossen wird. Es wird nur pro-rata-Aufwand in der Nothelferphase berücksichtigt, nicht der tatsächliche Aufwand (BSG; Urt. v. 18.11.2014, B 8 SO 9/13 R). Auch dem Grunde nach wird der Nothelferanspruch verkürzt: umso offensichtlicher die Hilfebedürftigkeit ist, desto früher muss an das Sozialamt gemeldet werden, und am Tag der Meldung gibt es oft bereits keinen Nothelferanspruch (vgl. z. B. BSG, Beschl. v. 01.03.2018, B 8 SO 63/17 B mwN). Ist dagegen die Hilfebedürftigkeit nicht offensichtlich, kann später gemeldet werden. Dann trägt das Krankenhaus aber die Beweislast und die Sozialgerichte sind ausgesprochen erfindungsreich, finanzielle Mittel auch dann zu vermuten, wo jeder vernünftige Mensch weiß, dass es keine gibt. Da die Betroffenen nicht greifbar sind, kann zudem nachfolgend nichts ermittelt werden. Kann also der Anspruch dem Grunde nach bewiesen werden, ist er der Höhe nach reduziert. Wäre der Anspruch der Höhe nach vorhanden, kann er nicht bewiesen werden.

Bedeutung für die Versorgung

Hätte es nicht so traurige Konsequenzen, könnte man es bei der Feststellung einer kafkaesken Situation belassen, derer es im Geflecht der Krankenversicherung viele gibt. Jedoch geht es darum, wie gut die Versorgung ausgestaltet werden kann. Oft mögen die Kosten für eine stationäre Behandlung „nur“ 3.000 bis 5.000 Euro betragen. Doch ist es den krisenhaften Situationen dieser Patienten eigen, dass sich die Behandlungsbedarfe wiederholen und verdichten. Zudem können die Kosten auch einmal fünf- oder gar sechsstellig werden. Das gilt gerade, wenn die Patienten in lebensbedrohlichen Situationen eingeliefert werden. Dann müssen und wollen die Krankenhäuser helfen, sehen sich aber bei schweren Erkrankungen hohen ungedeckten Kosten gegenüber. Diese Kosten müssen dann aus anderen Fällen gegenfinanziert werden, was angesichts der kaputtgesparten Strukturen kaum möglich ist. Dann leidet nicht nur die Versorgung von Hilfebedürftigen, sondern am Ende von allen. Schlussendlich sind die Lasten auch sehr ungleich verteilt je nach Nähe oder Entfernung einer Einrichtung zu sozialen Brennpunkten.

Wertungswidersprüche

Hinzu kommen krasse Wertungswidersprüche: Verstirbt der Patient, dann gibt es ausnahmsweise einen unmittelbaren Anspruch für das Krankenhaus, § 19 Abs. 6 SGB XII. Zieht man zudem eine Parallele zur kommerziellen Sterbehilfe, könnte hier möglicherweise ein subjektives Recht geltend gemacht werden, nachdem das Bundesverfassungsgericht den Zusammenhang zwischen den Bedingungen für Helfer und denjenigen, den geholfen werden soll, als beachtlich anerkannt hat. Der Helfer soll nach diesem Urteil in die Lage versetzt werden, professionell zu helfen. Nicht wegen des wirtschaftlichen Interesses des Helfers, sondern wegen des Interesses des Betroffenen (BVerfG, Urt. v. 26.02.2020, 2 BvR 2347/15, Rn. 331). Insoweit ist es auch für die Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung jedenfalls auf einfachrechtlicher Grundlage selbstverständlich, einen unmittelbaren Vergütungsanspruch zu bejahen (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 28.10.2008, B 8 SO 22/07 R; LSG NRW, Urteil vom 19.04.2021, L 10 KR 448/20)  

Das führt in der Sozialhilfe zu der kritikwürdigen Wirkung, dass die Aufwendung bei Todgeweihten erstattet werden, nicht aber bei denen, denen aber bei denen, denen zurück ins Leben geholfen wurde. Gute medizinische Versorgung bewirkt dann einen Ausfall der Vergütung.

Das ist ein für den gesunden wie auch den juristischen Menschenverstand schwer verständliches Gesamtbild. Die Rechtsprechung hat diese Situation ohne Not herbeigeführt. Denn ein klarer Wille des Gesetzgebers, den Helfer in die Pflicht zu nehmen, eine Übernahme der Aufwendungen absichtsvoll zu versagen, ist nicht zu erkennen. Hier gibt es eine unglückliche Verkettung von Gerichtsentscheidungen, die das Gesamtbild und die Realität dessen, was sie bewirken, noch nicht verantwortungsvoll zur Kenntnis genommen hat.

Abhilfe

Dabei wäre alles so einfach: Die vorgenannten Grundwertungen für Krankenversicherung, Pflegeversicherung und sogar Sterbehilfe sind offensichtlich. Auch wenn man diese negierte, genügte sodann der Rückgriff auf Grundlagen des Staatshaftungsrechtes. Danach darf, wer sich für das allgemeine Wohl aufopfert bzw. – wie hier aufgrund Behandlungspflicht – sogar aufopfern muss, einen Ausgleich hierfür erwarten. Jedenfalls dieser Grundsatz genügt, um ein subjektives Recht der Helfer auf korrekte Entscheidung der Ämter über die sozialhilferechtlichen Ansprüche zu begründen. Dann wäre allen geholfen: denjenigen, die helfen, und denjenigen, denen zu helfen ist. Wir hoffen sehr, die Sozialgerichte in laufenden Verfahren davon überzeugen zu können. 

Markus Stephani

Independent legal consultant

2 Jahre

Bravo für die Stellungnahme

Dr. Oliver Klöck

Experte im Regulatorischen Gesundheitsrecht mit gutem Netzwerk und Branchenkenntnis in der Gesundheitswirtschaft

2 Jahre

Großartige Initiative, liebe Kolleginnen und Kollegen! 👍

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