"Glückwunsch, Du bist ein Zeitzeuge"​
Collage von Marie Rienecker

"Glückwunsch, Du bist ein Zeitzeuge"

Abstrakt: Vor fast genau 200 Jahren wurde die erste Dampfmaschine konstruiert und markierte den Übergang zu unserer industriellen Epoche. Die Maschine veränderte nicht nur unsere Welt, sondern vor allem unser Denken. Im Jahre 2020 zerlegte ein Virus Namens Coronavirus SARS-CoV-2 quasi über Nacht unsere Vorstellungen von unserer westlichen Welt, brachte alles zum Stehen und vielen Menschen den Tod. Der Stillstand der Maschinen und das Umdenken darüber in welcher Welt wir eigentlich leben, erzeugt eine Schockwelle der Neuorientierung. Dieses Essay beleuchtet den Übergang von unserem analogen-mechanischen Weltbild, hin zu einer systemisch-digitalen Auffassung von unserer Existenz und die möglichen Auswirkungen auf unser künftiges Handeln.

Ein Autor schlug vor, die Bilder der singenden Italiener auf den Balkonen Symbol der Corona-Krise werden zu lassen. Für mich sind es allerdings eindeutig die Statistiken der Pandemie-Entwicklungen in den Ländern. Die roten Punkte, die sich schnell um den Globus verteilen und immer größer werden, sind die Ikonen dieser Krise. Aber auch die beeindruckenden Bilder von Menschenbefreiten Orten, wie zum Beispiel Venedig, stehen jetzt schon symbolisch für diese Zeit. Ein Planet ohne uns Menschen, veranschaulicht unser mögliches Scheitern als Herrscher der Erde. Es könnte dazu führen, dass wir unser Umweltbewusstsein noch weiter schärfen und ein apokalyptisches Szenario abwenden werden. Bereits nach drei Monaten der Krise erleben wir, wie sich unsere Erde etwas erholt. Wir erleben aber aktuell auch eine Kränkung. Bis zur Corona-Krise waren wir davon insgeheim überzeugt die Herrscher der Welt zu sein. Die Krone der Schöpfung muss gerade anerkennen, dass es in Wahrheit vielleicht Bakterien und Viren sind, die diesen Planeten beherrschen. Es ist uns zwar ziemlich mühelos gelungen sehr viele Arten auszurotten, aber der Kampf gegen einen Virus ist bereits entschieden. Bei Parolen, wie „Wir vs. Virus“ werden Viren wahrscheinlich sagen „hold my beer“. Viren und Bakterien haben zwar bislang noch keinen Weichspüler oder Einkommenssteuererklärungen entwickelt, aber trotzdem sind sie mit ihren hohen Fähigkeit zur Veränderung und ihrem absoluten Überlebensprogramm gute Anwärter auf die Auszeichnung „Krone der Schöpfung“ und nicht die fast 8 Milliarden Zweibeiner. Das tut weh.

Die wirkliche Schockwelle vollzieht sich aber nicht nur in der Kränkung unserer Spezies, sondern in der Anerkennung unseres überkommenen Weltbildes. Der Zeit der Aufklärung gingen u.a. die Katastrophen der Pest-Pandemie und dem 100jährigen Krieg voraus. Kollektives Versagen politischer und medizinischer Systeme forcierte die Suche nach vernünftigen und naturwissenschaftlichen Erklärungen. Diese Ära mündete in die industrielle Revolution und der völligen Abkopplung natürlicher Prozesse. Die Vernunft wurde zum Maß der Dinge und das vernünftigste Ding der Welt ist eine Maschine und begründete unsere Weltsicht. Maschinell zu denken meint vor allem das Denken in Normierungen, in kausalem Ursache- und Wirkungsprinzip und dem Wunsch nach Beherrschbarkeit auf Basis technologischer Lösungen. Diese Sicht auf unsere Welt erwies sich als ein Erfolgsprinzip und hat sich in vielen westlich-geprägten Kulturen unsichtbar manifestiert. Viele von uns stehen morgens auf, schicken die Kinder in die Schule und gehen wie gewohnt zur Arbeit. Auch dort atmen wir diese Weltsicht ein. Unsere Kinder lernen über Sanktionen schnell, dass eine Unterrichtseinheit 45 Minuten beträgt und durch den Schulgong begonnen und auch beendet wird. Später sollte einmal daraus eine Werksirene werden. Der Lehrer, die Lehrerin sind die klaren Autoritäten, und das Klassenbuch wird irgendwann durch ein Personalgespräch ersetzt. Selbst in den Grundschulen in Hamburg gibt es bereits Zielgespräche mit Grundschülern. Viele Unternehmen investieren viel Zeit, um die Abteilungsnormierungen aufrecht zu erhalten, die in regelmäßigen Konflikten neu verhandelt werden. Die meisten Top-Manager dienen als Offiziere, um zum Beispiel Vertriebsdivisionen ins Feld zu führen. Schließlich müssen Marktanteile erobert werden. Der militärische Führungsstil etablierte sich zu der Zeit, als die ersten Fabriken entstanden und das neu entstandene Management nach Strategien der Beherrschbarkeit suchte. Noch heute existiert in einigen medizinischen Bereichen die Idee, dass der Körper eine Art maschinelle Produktion ist, deren Störungen auch so zu beheben sind. Die Angst vor den Maschinen ist so alt, wie es Maschinen gibt. Daher mussten sie kleiner und quasi unsichtbarer werden. Ihre Oberflächen sind freundlich und hilfsbereit. Sie beginnen sogar mit uns zu sprechen, um uns das Gefühl des Königtums zu geben. Andererseits füttern wir die Maschinen dafür mit wertvollen Daten über unser Dasein und sie sind genervt, wenn wir ihnen das verweigern. Keine Frage, ich möchte nicht in einer Vor-Maschinellen Welt leben. Sie ist der Garant für Wohlstand und Sicherheit. Leider haben wir aber „ihr“ Denken übernommen und tief in unsere Kultur integriert. So fällt es uns immer noch schwer, die Komplexität unseres Umwelt- und Klimasystems zu verstehen. Die nicht vorhersehbaren Auswirkungen unserer Interaktion mit unserer Umwelt macht unsere Lösungssuche so verwirrend. Einige Menschen glauben, dass nur Maschinen uns vor der Klimakatastrophe retten werden. Diese werden sehr sicher ein Teil der Lösung sein, denn auf Maschinen werden wir nicht mehr verzichten wollen. Die Lösung liegt jedoch meiner Meinung nach in dem Umbau unseres Menschen- und Weltbildes begründet. Wenn wir anerkennen können, dass unsere Welt nicht maschinell strukturiert ist, sondern ein System voller nicht vorhersehbarer Wechselwirkungen und Abhängigkeiten, von dem es kein Entrinnen gibt, dann sind wir auf dem richtigen Weg globale Herausforderungen zu lösen. Mit der Entwicklung des WorldWideWeb wurde dieses neue Denken bereits eingeleitet. Die systemischen Prinzipien entsprechen den natürlichen Prozessen der Umwelt. Informationen werden aufgespalten und über viele Kanäle versendet, um sich an wichtigen Knotenpunkten wieder zu Datensätzen zu bündeln. Die Auflösung des Sender-Empfänger-Prinzips der klassischen Massenmedien ist systemisch betrachtet absolut logisch. In einem System gibt es keine Hierarchien, außer der Idee „Überleben durch Informationsaustausch“. So gibt es in einem System partielle Rollen, die immer in Bewegung sind und diese können situativ in die Führung gehen. Die aktuelle Krise ist unsere Chance, unser Weltbild zu verändern. Wir sind Teil eines Systems, das wir Universum oder so nennen. Wir können dieses System nicht beherrschen. Daher macht es auch keinen Sinn, einem Virus den Krieg zu erklären. Wir kennen bislang ca. 1,8 Millionen Virusarten, von denen wir 3.000 Virenarten identifiziert haben. Die wissenschaftlichen Helden der Krise sagen ja auch, dass wir alle infiziert werden. Es geht lediglich darum, dass wir nicht alle gleichzeitig krank werden. Wenn wir die natürlichen Prinzipien von Systemen in die Führung bringen, dann können wir unsere Herausforderungen in der Gesamtheit besser lösen. Dann ist es wichtig, möglichst viele Arten zu erhalten, denn diese tragen wichtige Informationen über unser Ökosystem in sich. Dann ist es wichtig, den Informationsaustausch hoch, ungesteuert und eng verknüpft zu halten. Dann lösen wir Konflikte in der Gemeinschaft. Dann geben wir Egoismen auf und suchen Kooperationen. Dann kann uns das Leid von anderen nicht egal sein. Dann entwickeln wir Plattformen zum lebendigen Austausch. Dann wollen wir nichts im Griff sondern im Flow haben. Diese aktuelle Krise bietet für diese neue Weltsicht eine große Chance und wir sind gut darin beraten, diese nicht an uns vorbeiziehen zu lassen. Denn die wirkliche Systemkrise macht gerade nur in den Medien eine Pause.

Was für ein besonderer Moment! Und du darfst als Zeitzeuge dabei sein. Daher beobachte genau, fühl dich ein, gewinne Erkenntnisse und werde nicht müde, diese zu teilen. In ein paar Monaten ist Weihnachten und dann könnten wir die Erkenntnisse schon wieder vergessen haben. Mach es also jetzt und lass uns gemeinsam diese Krise nutzen, um ein systemisches Verständnis unserer Welt und Existenz zu entwickeln. Vielen Dank und bleib gesund.

Stefan Sven Klung

Integral Mentor, Executive Coach & Impulsgeber // beyond kpi

4 Jahre

well done ...Herr Kim :-)

Burkhard Schmidt

Sales Director Hospitality Villeroy & Boch Dining & Lifestyle

4 Jahre

Sensationell

Jan-Oliver Heß

FACTS TELL. EMOTIONS SELL! – Geschäftsleitung «Strategy & Brand» • Lehrbeauftragter (Brand Management, Customer & Brand Experience, (Neuro-)Marketing, Strategische Kommunikation) • Dipl.-Jur. & Trusted Advisor

4 Jahre

Lieber Kim Birtel, danke für dieses Essay und das Teilen Deiner - wertvollen - Gedanken. Ich unterschreibe jeden Deiner Punkte zu 100%. Genau die richtige „innere und äußere“ Haltung, die es in der möglichen „Zeitenwende“ braucht. Lass uns also trotz des Distanzierungsgebotes die Zukunft umarmen. Stay healthy. 🍀👍

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