Kann Strom durch eine einfache Änderung der Merit Order wieder günstiger werden?
Im Zuge der Energiekrise, die im Jahr 2022 im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg begann, wurde auch das Strommarktdesign in Frage gestellt. Die Diskussion wurde seinerzeit unter dem Stichwort „Abschaffung der Merit Order“ geführt, die als vermeintliche Ursache für hohe Preise sowie unverdiente Überrenditen identifiziert worden war.
Nach relativ kurzer Zeit ebbte dieser Diskurs jedoch wieder ab, nachdem namhafte Experten aus Energiewirtschaft und Wissenschaft klar und deutlich vor Regeländerungen am Strommarkt mit unvorhersehbaren und möglicherweise fatalen Folgen abgeraten hatten. Zu den lauten Stimmen gehörten auch Vertreter von Unternehmen, die durchaus von hohen Strompreisen profitierten, die also mithin nicht ganz neutral in ihrer Meinungsfindung waren. Das allein bedeutete aber natürlich nicht, dass sie nicht doch Recht hätten.
Auch ich habe mich seinerzeit mit dieser Fragestellung beschäftigt und war der Meinung, dass ein veränderter Preisfindungsmechanismus den durchschnittlichen Strompreis senken könnte. Nachdem diese Debatte aus meiner Sicht zu früh beendet worden war, schrieb ich vor kurzem einem Beitrag auf LinkedIn, in dem ich das Thema erneut aufgriff. Ich erntete scharfen Widerspruch von Menschen, die man nur als Experten bezeichnen kann. Mir wurde immerhin – etwas gönnerhaft – zugestanden, dass mein Unwissen wahrscheinlich auch dadurch begründet ist, dass mir in meinem Unternehmen keine professionelle Energiehandelsabteilung als Sparringspartner zur Verfügung stünde.
Touché. Eine Energiehandelsabteilung haben wir bei den Blomberger Versorgungsbetrieben in der Tat nicht. Aber die Energiebeschaffung berührt trotzdem unser Kerngeschäft. Und keine Handels- oder Beschaffungsabteilung zu haben bedeutet in der Praxis, dass diese Aufgabe mir persönlich als Geschäftsführer zufällt. Ich musste die vermeintlichen Wissenslücken also persönlich nehmen. Deshalb habe ich die Sache noch einmal gründlich recherchiert. Das Ergebnis ist dieser Artikel, der leider – man möge es mir verzeihen – recht lang und technisch ist, was bei dieser Art Materie nicht ausbleibt. Aber das Fazit rechtfertigt meine Arbeit: so ganz falsch lag ich nämlich nicht. Auch wenn es durchaus einige Aspekte gibt, die ich anfangs nicht bedacht hatte…
Preisfindung an der Strombörse
Der Strommarkt ist seit 1998 liberalisiert und nach einer gewissen, trägen Anfangsphase gibt es heute eine Vielzahl an Anbietern und Abnehmern. Der Preis bildet sich, wie bei allen Märkten, im Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage, wird also nicht staatlich vorgegeben oder beeinflusst. Ein Teil des Energiehandels findet an Börsen statt, beispielsweise an der EEX (European Energy Exchange) in Leipzig. Dort wurden 2020 etwa 7.000 Terawattstunden Strom im Termin- und im Spotmarkt gehandelt. Der deutsche Gesamtbedarf beträgt jährlich etwa 500 Terawattstunden, auf dem Weg vom Erzeuger zum Endverbraucher wird jede Kilowattstunde also dutzendfach gehandelt. Das ist eine gute Nachricht, weil es zeigt, dass der Markt „liquide“ ist, in der Regel also Handelspartner zur Verfügung stehen. Je liquider ein Markt ist, desto mehr Aussagekraft haben seine Preissignale, weil diese die aktuellen Erwartungen vieler Marktteilnehmer beinhalten.
An der EEX sind jedoch trotzdem nur 451 Teilnehmer akkreditiert (Stand Oktober 2023), obwohl es rund 1.200 Stromlieferanten in Deutschland gibt und darüber hinaus eine Vielzahl an Erzeugern und Großhändlern. Der weitaus größte Teil des Stroms, rund 75 % des gesamten Handelsvolumens, wird nämlich im Großhandel ge- und verkauft, im sogenannten OTC-Geschäft. OTC steht für „over the counter“, wörtlich also „über die Ladentheke“. Gemeint ist, dass zwei Handelspartner direkt einen Vertrag schließen, also ohne eine zwischengeschaltete Börse – allerdings häufig mit zwischengeschaltetem Broker. Der Preis wird in diesen Fällen bilateral ausgehandelt, kann sich also theoretisch vom Börsenstrompreis unterscheiden. In der Wirklichkeit werden sich aber keine nennenswerten Unterschiede ergeben, da sonst profitable Geschäfte möglich wären, indem man im OTC kauft und an der Börse verkauft oder umgekehrt (Arbitrage-Geschäfte). Börsenpreise und OTC-Preise beeinflussen sich damit gegenseitig und führen zu ähnlichen Preisspannen.
Börsenhandel und Versteigerungen
Handel an einer Börse, egal ob dabei Aktien, Anleihen oder Energiekontrakte gehandelt werden, lässt sich ökonomisch als Versteigerung beschreiben. Die Handelspartner vereinbaren die Verträge nicht direkt miteinander, sondern über einen Dritten, nämlich die Börse, die als Auktionator fungiert. Die Börse legt die Handelsregeln fest, führt Verkäufer und Käufer anonymisiert zusammen und übernimmt den Transfer von Ware und Geld, das Clearing. Käufer und Verkäufer reichen „Gebote“ ein, also Kauf- oder Verkaufsgebote mit Limits. Nach festen Versteigerungsregeln werden diese einem Matching zugeführt und zum Ausgleich gebracht. Wie bei einer Versteigerung kann ein zu niedriges Gebot (als Käufer) oder ein zu hohes Gebot (als Verkäufer) dazu führen, dass kein Geschäft zustande kommt.
Versteigerungen gibt es „in allen Farben und Formen“. Die klassische Versteigerung, wie man sie z.B. von eBay kennt, wird „englische Versteigerung“ genannt. Darüber hinaus gibt es aber auch eine „amerikanische Versteigerung“, eine „holländische Versteigerung“, eine „Vickrey-Auktion“ und viele mehr. Auf die vielen Arten von Versteigerungen soll hier nicht weiter eingegangen werden, interessant ist, welche Art von „Versteigerung“ an den Energiebörsen zur Anwendung kommt.
An der EEX und der Tochter für den Spotmarkthandel, der EPEX, finden zweiseitige Auktionen statt. Sowohl die Käufer als auch die Verkäufer reichen also ein Gebot ein. Im Handelssegment des sogenannten Terminhandels, wo Kontrakte Monate oder Jahre vor dem Lieferzeitpunkt geschlossen werden, findet der Handel permanent statt, es werden also zu jeder Zeit (vor dem Lieferzeitpunkt) sowohl Kauf- als auch Verkaufsgebote entgegengenommen und mit passenden Kontraktpartnern zusammengeführt, soweit die Gebotspreise das zulassen. Wenn ein Kauf- oder Verkaufsgebot nicht ausgeführt werden kann, weil beispielsweise die Preisvorstellung eines Käufers nicht zu den angebotenen Preisen passt, bleibt die Order für eine vorgegebene Frist im Orderbuch und kann zu einem späteren Zeitpunkt noch ausgeführt werden. Jedes neue Gebot führt zu einem erneuten Abgleich, ob vielleicht ein Matching möglich ist. In der ökonomischen Theorie nennt man diese Art der Versteigerung „Continuous Double Auction“. Auf die gleiche Weise erfolgt der Handel im sogenannten „Intraday-Handel“, wo Lieferungen für den aktuellen Kalendertag, bis zu fünf Minuten vor dem Lieferzeitpunkt, gehandelt werden.
Ganz anders organisiert ist jedoch der sogenannte „Day-Ahead“-Handel, wo Lieferungen für den folgenden Tag verkauft werden. Hier wird der Folgetag in Stunden aufgeteilt und die Marktteilnehmer können anbieten, in einer oder mehreren Stunden Mengen zu liefern oder zu kaufen. Auch hier wird eine zweiseitige Auktion durchgeführt, bei der sowohl die Käufer als auch die Verkäufer Gebote einreichen. Aber der Handel wird nicht kontinuierlich durchgeführt. Vielmehr werden alle Gebote für den Folgetag bis zu einer bestimmten Frist, der „gate closure time“, die an der EPEX um 12:00 Uhr mittags endet, gesammelt. Danach ist es nicht mehr möglich, Kauf- oder Verkaufsorder einzureichen oder zu verändern. Rien ne vas plus, nichts geht mehr. Es hat seinen Grund, warum die Auktionstheorie dem Gebiet der Spieltheorie zugerechnet wird…
Auf die eingegangenen Gebote wird dann ein Algorithmus mit dem Akronym „EUPHEMIA“ angewendet. Dieser ist in seiner Grundfunktion sehr einfach: alle Kaufgebote werden nach Preis absteigend sortiert und alle Verkaufsgebote werden nach Preis aufsteigend sortiert. Dann werden solange Verkaufsgebote zugeteilt, bis keine Nachfrage mehr zu einem angebotenen Preis existiert. Das ist der Schnittpunkt der Nachfrage- und der Angebotskurve und damit der sogenannte Markträumungspreis („market clearing price“). Die Reihenfolge, in der die Anbieter den Nachfragern zugeteilt werden, nennt sich Zuschlagsreihenfolge, im Englischen „merit order“.
Auf diese Weise wird sichergestellt, dass das Maximum an Nachfrage mit den geringstmöglichen Kosten bedient wird und damit die „Wohlfahrtsfunktion“ („social welfare curve“), in der folgenden Grafik als blau und rot schraffierter Bereich gekennzeichnet, maximiert wird. Jeder Preis, der den Markträumungspreis übersteigt oder unterbietet würde dazu führen, dass das bezuschlagte Volumen sinkt.
Pay-as-Bid und Pay-as-Clear
Nun kommt eine weitere Besonderheit des „day-ahead“-Handels zum Tragen: alle Kontrakte werden einheitlich zum Markträumungspreis abgerechnet. Selbst die Anbieter, die Liefergebote zu deutlich niedrigeren Preisen eingereicht hatten, bekommen den einheitlichen Markträumungspreis zugestanden. Das bedeutet faktisch, dass alle Anbieter bis auf den teuersten mehr bekommen als sie angeboten hatten. Dieses System nennt sich „Pay-as-Clear“, also Zahlung nach dem Markträumungspreis. Man nennt dieses Verfahren auch „marginal pricing“, „uniform pricing“ oder Einheitspreisverfahren.
Das ist kontraintuitiv: warum erhalten die Bieter mehr, als sie haben wollten? Normalerweise würde man dem Bieter nur das zusprechen, was er auch gefordert hat. Dieses System gibt es auch und es wird als „Pay-as-Bid“ bezeichnet: Zahlung nach dem Gebot. Damit würde jeder Anbieter den Preis erhalten, den er angeboten hatte.
Beide Verfahren finden in der Praxis Anwendung. Nach dem „Pay-as-Bid“ wird beispielsweise bei Auktionen nach dem EEG (bspw. für Windkraftanlagen) zugeteilt. Auch im deutschen Regelenergiemarkt werden die Gebote nach „Pay-as-Bid“ abgerechnet. Diese Beispiele haben eines gemeinsam: es handelt sich um sogenannte „einseitige Auktionen“, bei denen nur der Anbieter ein Gebot abgibt, während das Objekt der Versteigerung, also im Beispiel eine EEG-geförderte Erzeugungsleistung oder eine Regelenergiekapazität, im Voraus einheitlich festgesetzt worden sind. Die Betonung liegt auf „im Voraus“, denn natürlich ist das Versteigerungsobjekt trotzdem teilbar und sowohl mengen- als auch preislimitiert, so dass letztlich auch hier die eingereichten Gebote der Interessenten auf ein limitiertes Angebot treffen und eine Nicht-Ausführung möglich ist. Bei Windauktionen kann es beispielsweise zu einer Unterzeichnung kommen (Menge wird nicht ausgeschöpft), aber auch zu einer Überzeichnung (Gebote werden nicht bezuschlagt).
Es liegt im Wesen einer Versteigerung, dass nicht jeder zum Zuge kommt, entweder Käufer oder Verkäufer gehen immer teilweise „leer“ aus. Der Unterschied zwischen ein- und zweiseitigen Auktionen ist daher nicht allzu groß, bei einer einseitigen Auktion steht das Gebot einer Seite eben im Voraus fest, während es sich bei zweiseitigen Auktionen erst im Rahmen des Bietzeitraums bzw. des laufenden Handels bildet.
Dennoch liest man manchmal, eine „Pay-as-Bid“-Bepreisung wäre bei zweiseitigen Auktionen gar nicht anwendbar. Bei Wikipedia findet man beispielsweise den Satz:
„Pay-as-Bid-Verfahren lassen sich nicht ohne Weiteres für zweiseitige Auktionen mit gegeneinander abzugleichenden Kauf- und Verkaufaufträgen umsetzen und es gibt hierfür auch kein Beispiel. Offensichtlich ist es nicht möglich Kauf- und Verkaufsaufträge in einer Auktion zusammenzubringen und dabei jedem den gebotenen Preis zu zahlen. Möglich ist dies nur im sogenannten Laufenden Handel.“
Quelle: Deutschsprachige Wikipedia, Artikel zu „Pay-as-Bid“, Stand: Oktober 2023
Empfohlen von LinkedIn
Hier zeigt sich eine Schwäche von Wikipedia, denn in dieser Absolutheit ist die Aussage nicht richtig. Natürlich kann auch eine zweiseitige Auktion im Pay-as-Bid-Verfahren abgerechnet werden. Der Algorithmus muss in diesem Fall etwas komplexer aufgebaut sein und insbesondere die Teilausführung von Geboten muss klar geregelt werden. Aber unmöglich ist das nicht, was wohl die einschränkende Formulierung „nicht ohne weiteres“ kenntlich machen soll – auch wenn diese durch die Formulierung „ist es nicht möglich“ im Folgesatz konterkariert wird. Nun ja, vielleicht wird man Wikipedia diesbezüglich noch einmal anpassen.
Es gibt jedenfalls zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu der Fragestellung, welche Vor- und Nachteile die Bepreisungsmethoden Pay-as-Bid und Pay-as-Clear im Vergleich haben.
Pay-as-Bid und Pay-as-Clear im Vergleich
Dieser Artikel soll aber keine wissenschaftliche Abhandlung werden, darum das Fazit vorab: bei einer Abrechnung im „Pay-As-Bid“-Prinzip ist die Gefahr größer, dass Bieter sich verkalkulieren und nicht zum Zuge kommen, obwohl sie möglicherweise günstiger hätten anbieten können.
Die Frage, die im Raum steht, ist, zu welchem Preis werden die Erzeuger ihren Strom anbieten, wenn sie definitiv nicht mehr erhalten als ihren Gebotspreis? Diese Art der Absatzpreiskalkulation ist der „Normalfall“, in fast jedem Markt erhält man für seine Ware nicht mehr als das, was man aufruft. Insofern kann man die Frage auch allgemeiner stellen: zu welchem Preis wird ein Kaufmann seine Ware verkaufen?
Die Untergrenze der Preiskalkulation bilden in der Regel die Herstellungskosten. Im Regelfall, außer bei Schlussverkäufen oder Räumungsverkäufen, wird man wenigstens seine Herstellkosten erwirtschaften wollen, möglichst inklusive angemessener Gemeinkostenzuschläge. Die Untergrenze der Preiskalkulation kann man in der Regel sehr genau fassen, da man seine eigenen Kosten ja kennt.
Die Obergrenze der Preiskalkulation ist deutlich schwieriger zu greifen: die Zahlungsbereitschaft der Kunden. Jeder Kaufmann wird versuchen, den höchstmöglichen Preis durchzusetzen. Die Differenz aus seinen Herstellkosten und dem Absatzpreis ist immerhin sein Gewinn, und nach marktwirtschaftlicher Theorie soll dieser maximiert werden.
Natürlich gibt es eine Wechselwirkung zwischen dem Absatzpreis und der Absatzmenge. Bei einem niedrigen Preis kann ich meist mehr absetzen als bei einem höheren Preis. Der Gesamtgewinn kann daher bei einem niedrigen Preis größer sein als bei einem hohen Preis. Welche Strategie man verfolgt hängt davon ab, ob man seine Rendite maximieren will (was häufig bei Luxusprodukten der Fall ist) oder den Gesamtgewinn (was häufig bei Massenprodukten der Fall ist). Aber das ist eine andere Geschichte, darum soll dieses Thema hier nicht weiterverfolgt werden.
Der Kaufmann muss also einschätzen, wieviel die Kunden bereit sind, für sein Produkt zu zahlen. Überschätzt er, wird er seine Ware nicht los. Unterschätzt er, lässt er Gewinn liegen.
Genau hier liegt der Vorteil des „Pay-As-Clear“-Verfahrens: ein Anbieter, der die Zahlungsbereitschaft der Käufer unterschätzt, kommt trotzdem zum Zuge, und zwar zum Marktpreis. Damit besteht ein starker Anreiz für Produzenten mit niedrigen Grenzkosten, Gebote in Höhe der Herstellungskosten abzugeben. In aller Regel wird der Markträumungspreis höher liegen. Und durch das niedrige Gebot besteht nicht die Gefahr, keinen Zuschlag zu bekommen, obwohl man zum Markträumungspreis hätte produzieren können. Im schlimmsten Fall liegt der Markträumungspreis in Höhe der Herstellkosten. Ein negativer Deckungsbeitrag droht selbst dann nicht.
Beim „Pay-As-Bid“-Verfahren ist das anders: wer hier zu teuer anbietet, kann seinen Strom nicht absetzen. Es muss also deutlich mehr Mühe in die Absatzpreiskalkulation gesteckt werden, um den Gewinn zu optimieren. Und es wird deutlich häufiger vorkommen, dass nicht die Kraftwerke mit den niedrigsten Grenzkosten zum Einsatz kommen, weil diese sich in der Börsenauktion „verzockt“ haben… Volkswirtschaftlich ist das nachteilig.
Ob der durchschnittliche Börsenpreis im „Pay-As-Bid“-Verfahren günstiger ist als im „Pay-As-Clear“-Verfahren hängt von der Kalkulationsgenauigkeit der Marktteilnehmer ab. In einer Welt mit vollständiger Transparenz würden alle Anbieter die Zahlungsbereitschaft der Käufer einheitlich einschätzen. Dann gäbe es wieder einen einheitlichen Marktpreis.
Die Welt ist aber nicht vollständig transparent, die Anbieter würden also wahrscheinlich auf die vermutete Zahlungsbereitschaft der Käufer einen Sicherheitsabschlag anrechnen. Es ist also durchaus plausibel anzunehmen, dass der durchschnittliche Börsenpreis in einem „Pay-As-Bid“-Modell niedriger ist als in einem „Pay-As-Clear“-Modell. Es gäbe einen niedrigeren Börsenpreis, aber einen weniger effizienten Einsatz des Kraftwerkparks.
Vermarktungsvereinfachung durch Pay-As-Clear?
Ob das „Pay-As-Bid“-Modell die erhofften Vorteile bringen würde hängt sehr stark davon ab, wie gut die Marktteilnehmer ihre Absatzpreise kalkulieren können. Grobe Fehlkalkulationen würden die Markteffizienz extrem negativ beeinflussen. Häufig wird argumentiert, gerade die Betreiber von erneuerbaren Erzeugungsanlagen hätten die nötige Kompetenz zur Vermarktung nicht. Das „Pay-As-Clear“-Verfahren würde es also insbesondere den Erneuerbaren erleichtern, Zugang zum Markt zu erhalten.
Bei dieser Aussage hat man instinktiv einen Landwirt vor Augen, der eine Windkraftanlage betreibt oder sein Scheunendach mit Photovoltaik-Modulen bedeckt hat. Natürlich könnte dieser keine Börsenpreiskalkulation leisten. Aber die Börsenvermarktung der Erneuerbaren erfolgt – zumindest in Deutschland – zum größten Teil durch die Übertragungsnetzbetreiber, die den Strom, der in EEG-geförderten Anlagen produziert wird, aufnehmen und zentral vermarkten. Sicher wären diese in der Lage, eine Absatzpreiskalkulation aufzustellen.
Das gleiche gilt für Direktvermarkter. Und es gibt ja immer noch die Möglichkeit des OTC-Handels oder der PPA-Verträge, es muss ja nicht jede Kilowattstunde über die Börse gehandelt werden. Das Argument der Vereinfachung des Marktzugangs überzeugt also nicht besonders.
Fazit
Es gibt also gute Gründe, das Merit-Order-Prinzip nach der „Pay-As-Clear“-Methode in Frage zu stellen. Die manchmal geäußerte Auffassung, anders könne man eine Börsenauktion für Strom gar nicht durchführen, ist nicht richtig. Eine Bepreisung im „Pay-As-Bid“-Modell ist durchaus möglich und wird in Teilmärkten, beispielsweise im Regelenergiemarkt, angewendet. Und die These, dass eine Änderung der Bepreisung in einen „Pay-As-Bid“-Mechanismus zu günstigeren Durchschnittspreisen an den Strombörsen führen würde, ist gut zu begründen.
Aber natürlich, dass muss ich meinen Kritikern zugestehen, wäre ein Wechsel ein Experiment. Niemand weiß, wie die Marktteilnehmer sich verhalten würden und welche Preise aufgerufen würden. Es könnte zu Ineffizienzen beim Einsatz des Kraftwerksparks kommen und zum Ausscheiden von Marktteilnehmern aufgrund von Fehlkalkulationen. Dieses Risiko mitten in einer Energiepreiskrise einzugehen, wäre wohl riskant gewesen.
Dennoch bleibt festzuhalten: den Status Quo gelegentlich zu hinterfragen, ist sinnvoll. Ein Strommarktdesign kann angepasst werden – und manchmal muss es das auch. Das erleben wir gerade in Bezug auf die Frage nach Kapazitätsmärkten. Bisher galt im Stromhandel das Prinzip „energy only“, vergütet wurde immer nur die tatsächlich gelieferte Energie. Das Vorhalten von Erzeugungskapazität konnte nicht vermarktet werden. Das ist in einem auf volatile Erzeuger ausgerichteten System kein sinnvoller Anreiz mehr, so dass wir hier vielleicht bald eine Änderung sehen werden.
Was gestern noch richtig war kann also morgen schon falsch sein. Ich freue mich daher über jede Debatte!
Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei ISTec
11 MonateDanke für den Artikel. Eine Verständnisfrage: die Grenzkosten der Fossilen enthalten doch auch den Preis der CO2-Zertifikate. Beim Pay-As-Clear-Modell erhalten dann Erneuerbare den Preis der Fossilen, die Verbraucher bezahlen also für Erneuerbare den Preis für nicht vorhandene CO2-Zertifikate. Mache ich einen Fehler?
Der Einkaufs- und Verhandlungstrainer
11 MonateOb dauerhaft eine Senkung erreicht würde, ist ja die eine Seite der Medaille. Für micht nicht einmal die wichtigste. Aber dass es die Stabilität verbessern würde, kann wohl kaum bestritten werden. Denn was wir 2022 an den Strombörsen erlebt haben, war ausschließlich dem Merit-Order-System geschuldet. Allerdings: jeder, der Strom aus etwas anderem als Gas produziert hat, dürfte Merit Order super finden und für den Erhalt kämpfen…
Interne Revision / Internal Audit
11 MonateMag sein. Aber mindestens einer in der Lieferantenkette verdient dann weniger.
em. Professor der TH Köln
11 MonateVielen Dank für die ausgezeichnete Zusammenfassung. Man sollte diesen Artikel auch ausserhalb linkedin verfügbar machen 😊
Catalyzing Quality through Risk Management & Process Optimization
11 MonateToller Artikel, auch für Laien sehr verständlich geschrieben!