Keine Energiewende ohne Stromleitungen

Keine Energiewende ohne Stromleitungen

Der «grüne Deal» ist ein Bauprojekt. Dabei gilt die grösste Aufmerksamkeit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, neuen Windturbinen oder Solarpanels auf den Dächern. Stromnetze werden dabei oft ausser acht gelassen. Mit schwerwiegenden Folgen.

Denn ohne die Kabel und Leitungen, die den Strom transportieren, wird es keine erfolgreiche Energiewende geben. Wo kommt es also zum Stau? Ein «Planet A»-Bericht. 


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Keine Energiewende ohne Stromnetz 

Wärmepumpen, Elektroautos, Herstellung von grünem Wasserstoff – in einer klimaneutralen EU soll so gut wie alles durch erneuerbaren Strom betrieben und gemacht werden. Die Stromnachfrage wird steigen. 

Während der Ausbau der erneuerbaren Energien rasch vorangeht, sind die Stromnetze jedoch auf der Strecke geblieben und sind am Anschlag. 

Längst fliesst der Strom nicht mehr nur wie in einer Einbahnstrasse via die Übertragungs- und Verteilnetze von oft lokalen und grossen Kraftwerken in die Häuser und Fabriken.

Stattdessen kommt er aus allen Richtungen, durch Sonne vom Dach, von Windturbinen auf See oder an Land. Dazu kommen unregelmässige Spitzen, wenn es besonders windig oder sonnig ist. Das belastet die Netze von heute, allen voran die Verteilnetze, die dafür nicht ausgerichtet und ausgebaut sind. 

Eine absurde Folge: Wind- und Solarstrom, der heute schon produziert wird, findet nicht immer einen Platz im Netz und wird so verschwendet. Mehr noch, in den USA und Europa stehen laut Bloomberg New Energy Finance fast 1000 Gigawatt aus Solarprojekten in der Warteschlange, und mehr als 500 Gigawatt aus Windkraft warten darauf, ans Netz angeschlossen zu werden.

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Die EU-Energiekommissarin Kadri Simson interessiert sich dieser Tage sehr für den Netzausbau. Quelle: Twitter

Trassen für die Zukunft

Die Situation wird sich ohne Investitionen in Milliardenhöhe weiter zuspitzen, davor warnen Unternehmen und Netzbetreiber seit einigen Jahren. Denn das Stromnetz der Zukunft müsse digital und flexibel sein – und grösser als heute, sagen Experten.

Das ist Politikern in Brüssel, Berlin und anderen europäischen Hauptstädten zunehmend bewusst. Das Thema drängt und landete auch auf der Agenda eines Treffens der Nordsee-Anrainerstaaten am Montag im belgischen Küstenort Ostende.

«Energieleitungen sind die Lebensadern Europas», sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz vor Journalisten. «Wir produzieren Energie längst nicht mehr nur für uns, sondern auch für unsere Nachbarn.»

Das Problem? Noch gibt es nicht genügend Verbindungen. Neben neuen Windturbinen auf See brauche es auch den Ausbau des Stromnetzes. «Oft liegen die industriellen Zentren, die den Strom benötigen, nicht direkt an der Küste», so gab Scholz zu bedenken. 

Engpässe machen die Energiewende teurer

Er wird es wissen. Die deutsche Politik hat jahrelang den Netzausbau ausser acht gelassen. Langsame Genehmigungsverfahren und Widerstand durch lokale Gemeinden haben dazu geführt, dass er nur schleppend vorwärtskam – und dass die Kosten der Energiewende weiter stiegen. 

So müsse Energie teilweise aus dem Ausland eingekauft werden, weil es nicht genügend Leitungen gebe, die den Strom vom windigen Norden in den geschäftigen Süden brächten, sagte Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur, neulich im Bayrischen Rundfunk. Das kann beispielsweise Wasserkraft aus der Schweiz sein. 

Auch muss dafür gezahlt werden, dass Kraftwerke hoch- und heruntergefahren werden, um das Netz nicht zu überlasten und im Gleichgewicht zu halten. Die dabei anfallenden Kosten steigen seit Jahren.

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Mehr Wind von der Nordsee

Die Lösung? «Wir müssen schneller werden: bei der Identifikation von Flächen, bei Genehmigungen und beim Bau von Anlagen und Netzen», so Scholz in Ostende.

Schleppende Genehmigungsverfahren sind seit Jahren ein Nadelöhr beim Ausbau, neue Regelungen in der EU sollen das in den kommenden Jahren endlich ändern und den Bau neuer Infrastruktur beschleunigen.

Das hat klima- und sicherheitspolitische Gründe. Angesichts des russischen Kriegs in der Ukraine setzt die Staatengemeinschaft in den kommenden Jahren auf einen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, der schneller erfolgt, als noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten wurde. Die EU strebt nun bis 2030 einen Anteil von erneuerbaren Energien von über 42 Prozent an. 

Die Nordsee wird wohl einen ganz grossen Beitrag leisten. Das verkündeten die Staatschefs der Nordsee Länder am Montag. Neben den Anrainerstaaten aus der EU zählt die Allianz seit diesem Jahr auch Irland, Norwegen und Grossbritannien zu ihren Mitgliedern.

Ein neues, grenzenloses Stromnetz?

Die nördlichen Meere Europas sollen gar zum «grössten Kraftwerk Europas» werden – eine natürliche Steckdose sozusagen. Gemeinsam wollen die Länder bis 2030 die Offshore-Anlagen mit einer Kapazität von derzeit 30 Gigawatt auf 120 Gigawatt ausbauen. Bis 2050 soll die Nordsee Windparks mit einer Kapazität von 300 Gigawatt vorweisen können.

Dafür werden Energie- und Bauunternehmen in den kommenden Jahren nicht nur Tausende von Windturbinen bauen und kilometerlange Stromkabel verlegen müssen. Es werde auch ein ganz neues Offshore-Windnetz nötig sein, schrieben über hundert Energieunternehmen, Hersteller und Netzbetreiber am Montag. Die gemeinsame Erklärung wurde von Unternehmen wie Örsted aus Dänemark, Equinor aus Norwegen und Shell unterzeichnet.

Während Windparks heute traditionell den Strom über direkte Verbindungen an einen einzelnen Anlandepunkt an der Küste lieferten, werde das zukünftige Stromnetz die verschiedenen Märkte direkt miteinander verbinden. Offshore-Windparks würden so als Leitungen zwischen den Ländern dienen.

Das wird es laut den Unternehmen auch erlauben, den Strom effizienter in der Region zu verteilen und die Kosten zu senken. Auch Auswirkungen auf die Umwelt, beispielsweise auf die biologische Vielfalt im Meer, könnten so verringert werden. Die möglichen Schäden eines Baubooms im Meer – auch wenn er den erneuerbaren Energien gilt – machen Umweltaktivisten schon heute Sorgen.

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Staatschefs unter sich: Die Nordsee soll zum Kraftwerk Europas werden. Quelle: Reuters

Der Ausbau auf See wird viel Kooperation unter den Staaten verlangen. Denn der Platz ist knapp, das gilt auch für die Ressourcen.

Gleichzeitig steht fest, dass die Länder bei Fragen der Versorgungssicherheit erst einmal nationale Interessen verfolgen. Schon jetzt harzt es, weil Windparks unkoordiniert geplant werden. So hat Belgien in Brüssel offiziell eine Beschwerde gegen einen geplanten französischen Windpark eingereicht.

Belgien, Dänemark, Deutschland und die Niederlande haben sich am Montag verpflichtet, bis Mitte der 2030er Jahre gemeinsam an einem Energienetz – und an «Inseln für die Energieproduktion» in der Nordsee – zu arbeiten.

Daneben gab es eine ganze Reihe von Ankündigungen, die den Bau neuer Leitungen betrafen. Von den Niederlanden nach Grossbritannien, von Belgien nach Dänemark oder Deutschland – die Länder wollen enger zusammenrücken. 


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Alles auf Elektro: Europa braucht Strom

Noch gibt es viele Hürden, auch wenn sich die Regierungschefs mit ihrer Begeisterung für die Windkraft am Montag rhetorisch gegenseitig überboten haben.

Inflation und steigende Kosten in den Lieferketten sowie Eingriffe durch Regierungen überschatten die Branche. Es zeichnen sich Engpässe bei der Herstellung von Fundamenten, Kabeln und Umspannwerken ab, wie die Unternehmen in ihrer gemeinsamen Erklärung zu bedenken geben. Das Bauen neuer Netzverbindungen ist sehr aufwendig, besonders unter Wasser. Und es braucht viel Metall, allem voran Kupfer. 

Dann fehlt, wie immer, das Geld. Europa investiert derzeit laut dem Windbranchenverband 40 Milliarden Euro pro Jahr in seine Stromnetze. Die jährlichen Investitionen müssten laut den Hochrechnungen jedoch während der nächsten dreissig Jahre auf bis zu 80 Milliarden Euro pro Jahr verdoppelt werden.

«Wenn wir die erneuerbaren Energien ausbauen, müssen wir auch das Netz ausbauen. Wenn wir nur die erneuerbaren Energien beschleunigen, machen wir einen grossen Fehler», gab Leonhard Birnbaum, der CEO des deutschen Energieunternehmens E.On, in der «Financial Times» zu bedenken.

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Hochspannungsmasten in Deutschland: Alle möchten Strom, aber keine Leitungen, die den Blick verschandeln. Quelle: imago

Strom ja, Stromleitungen nein

Die Klimaziele werden ohne viele Stromleitungen nicht erreicht werden. In einer klimaneutralen Welt im Jahr 2050 gebe es ein 152 Millionen Kilometer umfassendes Netz – es sei dann mehr als doppelt so lang wie heute, so Hochrechnungen von Bloomberg New Energy Finance. Legte man alle Kabel aneinander, reichten sie bis zur Sonne.

Das ist ein eindrückliches Bild. Es gibt jedoch neben Genehmigungs- und finanziellen Hürden ein weiteres Problem. Menschen wollen zwar den Strom nutzen, haben aber nur ungern eine Stromleitung im Blick.Unterirdische Kabel sind eine Lösung, ihre Installation ist jedoch teurer und aufwendiger.

Dazu kommen Sorgen wegen Lärm und baulicher Eingriffe in die Natur. Die Haltung «Bloss nicht in meiner Nachbarschaft» – oder Nimbyism («nimby» steht für «not in my backyard») – lässt sich in vielen Ecken in Europa beobachten.

Der Widerstand aus der Bevölkerung ist ein Problem. Deutschland sei der absolute Champion des Nimbyism, sagt Roberto Zangrandi von Edso, dem Branchenverband der Verteilnetzbetreiber in Brüssel.

Netzbetreiber und Unternehmen tüftelten an Kommunikationsstrategien, um besser zu erklären, warum die Infrastruktur gebraucht werde, sagt er. Schon heute gebe es viele NGO, die die Entwicklung sehr genau beobachteten. «Wir haben unsere Wachhunde», so Zangrandi über die Aktivisten.


Highlights aus der NZZ zum Klimawandel

  • Grüne Schiffe: Können Schiffsmotoren ohne Schweröl auskommen? Zum Artikel
  • Grünes Wirtschaften: Die Energiewende sei eine grüne industrielle Revolution, sagt der WWF-Schweiz-Chef Thomas Vellacott. Zum Interview
  • Grünes Landwirtschaften: Der Klimawandel zwingt Landwirte im Mekongdelta zum Umdenken. Zum Artikel

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Susann Erdmann/Ehling

Pharmazeutin/Apothekerin/Privatier

1 Jahr

Wieso? Laut Herrn Habeck kommt der Strom doch aus der Steckdose genauso wie das Geld aus dem Bankautomaten. Wie alles bei der grünen Wende ohne Sinn und Verstand, da fundamentales naturwissendchaftliches Fachwissen fehlt. Wenn dort überhaupt Ausbildung/ Studium vorhanden sind, sind es Geisteswissenschaften. Dagegen ist nichts einzuwenden, aber nicht im Wirtschafts/ Finanzsektor

Vernünftig wäre dezentrale Stromerzeugung. Dafür kann man neue kleinere Kernkraftwerke bauen, z.B. der Dual Fluid-Reaktor.

Michael Wilke

Real Estate Opportunities

1 Jahr

Ja weder gibt es die Leitungen noch die Energiespeicher! Darf man aber nicht sagen! Also betanke ich mein E Auto weiter fleißig mit Kohlestrom 🤦♂️

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