Landtagswahlen: 5 Lehren, die sich für die Bundespolitik ziehen lassen
Guten Morgen liebe Freundin und lieber Freund, sehr geehrte LinkedIn-Community,
vor der Interpretation zuerst die Information. Hier die von den jeweiligen Wahlleitern heute Nacht festgestellten vorläufigen Endergebnisse der beiden Landtagswahlen:
- In Baden-Württemberg hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum dritten Mal seine Macht verteidigt. Die CDU, die auf 24,1 Prozent kam und damit in ihrer einstigen Hochburg das schlechteste Ergebnis in ihrer Geschichte einfuhr, könnte damit womöglich Oppositionspartei werden. Denn die Grünen haben nach den aktuellsten Hochrechnungen auch die Möglichkeit, mit SPD und FDP ein Ampel-Bündnis zu bilden.
- In Rheinland-Pfalz wurde SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer von den Wählerinnen und Wählern im Amt bestätigt. Die CDU mit Spitzenkandidat Christian Baldauf kassierte dagegen wie auch in Baden-Württemberg ihr schlechtestes Ergebnis – 27,7 Prozent – ein und schaffte es wieder nicht in die Regierung. Die seit 2016 im Amt befindliche Ampel-Koalition könnte damit fortgesetzt werden.
Doch keines der Ereignisse wurde allein im Raum der Regionalität erzielt. Im Kern sind es fünf Lehren, die sich für die Bundespolitik ziehen lassen:
1. Ein Phänomen, das alle Markenhersteller seit Längerem quält, hat mit voller Wucht auch die Parteien erwischt: Die Markenloyalität schwindet. Der Kunde, in diesem Fall der Wähler, überwindet seine eigene Tradition und lebt seine Neugier aus. Die sogenannte Besenstiel-Wahl, bei der die Parteien einen beliebigen Kandidaten aufstellen und der Bürger greift getreu der überlieferten Farbenlehre zu, gehört der Vergangenheit an. Für die Wähler neuen Typs gilt: Persönlichkeit vor Partei. Oder härter formuliert: Niemand besitzt kein Stammland mehr.
2. Das Konzept der SPD, den Wählern in Gestalt von Vizekanzler Olaf Scholz eine „Merkel in Rot“ anzubieten, hat nicht überzeugt. Der Mann ist solide, aber entfaltet keine zusätzliche Schubkraft. Malu Dreyer holte ihren Sieg allein, so wie die SPD in Baden-Württemberg in Einsamkeit weiter verlor. Die Sehnsüchte der Wählerschaft vermag ein Politiker wie Scholz nicht zu stillen. Sir Ralf Dahrendorf hatte genau diesen Typus des sozialdemokratischen Regierungspolitikers vor Augen als er im Jahr 1987 schrieb:
Eine säkulare politische Kraft hat sich erschöpft. Die Vertreter dieser politischen Kraft sind auch erschöpft. Es bleibt ihnen nur, auf verbleibende Unvollkommenheiten der von ihnen geschaffenen Welt hinzuweisen und im Übrigen das Erreichte zu verteidigen. Beides ruft nicht gerade Begeisterungsstürme hervor. [...] Das ist das Elend der Sozialdemokratie.
3. Die Grünen sind, sobald sie das linksidentitäre Milieu verlassen und – wie in Baden-Württemberg geschehen – auch den „alten weißen Mann" wertschätzen, mehrheitsfähig. Der Wähler entscheidet eben nicht nach Geburtsdatum, Geschlecht und Hautfarbe, sondern verlangt nach Empathie, Charakter und dem Nachweis einer politischen Alltagsklugheit. Die Tatsache, dass Winfried Kretschmann das „überspannte Sprachgehabe“ vieler seiner ParteifreundInnen ablehnt, sich gegen „den Tugend-Terror“ wendet und die „Sprachpolizisten“ auch so benennt, hat seine Beliebtheit weiter gesteigert, nicht etwa geschrumpft. Die Lektion, die es für die Hardliner unter den Bundes-Grünen zu lernen gilt, hat der Politiker und Philosoph Johann Heinrich Pestalozzi einst treffend so formuliert:
Ihr müsst die Menschen lieben, wenn ihr sie ändern wollt.
4. Der politische Liberalismus ist vital. Sobald sich in der FDP Köpfe zeigen, die auf eigene Faust denken und jenseits des Parteimarketings sprechen, entsteht politische Energie. Mit dem baden-württembergischen Spitzenkandidaten Hans-Ulrich Rülke und dem örtlichen Parteichef Michael Theurer, aber auch mit Daniela Schmitt und Volker Wissing, Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz und Generalsekretär in Berlin, konnten die Liberalen in beiden Ländern zulegen.
In Baden-Württemberg holten sie das beste Ergebnis seit 2006. In Rheinland-Pfalz wurde zum ersten Mal eine Ampel-Koalition vom Wähler bestätigt. Für die Bundes-FDP bedeutet das: Das Hoffen ist wieder erlaubt. Übersetzt in das Pflichtenheft des Christian Lindner heißt das für ihn: Null-Fehlerproduktion.
5. Die Union bekam es gestern Abend schriftlich, dass ihr Corona-Management vom Bürgertum nicht mehr sonderlich geschätzt wird. Hohe Todeszahlen, die vorsätzliche Beschädigung der Volkswirtschaft, die de facto Schließung des Bildungssektors, das Schneckentempo beim Impfen und die Bereicherung der Provsionsjäger im Bundestag werfen ihre düsteren Schatten voraus – auch auf den Bundestagswahlkampf.
Fazit: Noch können wir im Bund keine Erschütterung der politischen Landschaft prognostizieren. Aber die tektonischen Platten haben zu driften begonnen. Das Wort Erneuerung liegt nach dieser Pandemie in der Luft.
Die in weiten Teilen analoge Wirtschaftsstruktur, eine erschreckend dysfunktionale Staatlichkeit und die anhaltende Gefährdung der ökologischen Lebensgrundlagen bilden den politischen Imperativ unserer Zeit. Die kommende Bundestagswahl wird nicht mit ruhiger Hand und auch nicht mit Merkel-Nostalgie gewonnen, sondern nur mit einem glaubhaften Erneuerungsversprechen.
Ich wünsche Dir einen angenehmen Start in die neue Woche. Es grüßt Dich auf das Herzlichste
Dein Gabor
PS: In der Gesamtausgabe des Morning Briefings – für das Du dich hier kostenlos anmelden kannst – schreibe ich außerdem über folgende Themen:
- Im Morning Briefing Podcast spricht der Publizist und Soziologe Prof. Heinz Bude über Solidarität und ihre drei wichtigsten Punkte.
Und auf unserem Nachrichten- und Podcast-Portal ThePioneer.de möchte ich Dir heute folgende Lese- und Hörempfehlung geben:
- Während Malu Dreyer und Winfried Kretschmann erneut gewinnen, steht der neue CDU-Chef vor einer schweren Woche. Wie Armin Laschet jetzt Führung zeigen will, erfährst Du in unserem Hauptstadt-Newsletter.
- In unserem neuen Podcast World Briefing analysiert der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel einmal monatlich die Welt im Wandel. In der ersten Folge steht das transatlantische Verhältnis in der Ära Biden/Harris im Mittelpunkt.
Narr wartet auf Antwort (Heine).
3 JahreKretschmanns Lage ist alles andere als komfortabel. Am liebsten würde er weiter machen, wie bisher, also mit den Schwarzen das Land verwalten, den Status Quo aufrechterhalten: Getreu seiner allemanischen Grundhaltung geht es ihm in erster Linie um Stabilität, Kontinuität und Machtgewinn, nicht um Kreativität. Nur macht das Weiterso mit der CDU bundespolitisch zur Zeit keinen besonders guten Eindruck. Da hilft es auch nicht, von Einzelfällen zu sprechen, anstatt von einem strukturellen Problem der Union, hinsichtlich ihrer Korruptionsaffäre. Er hat die Wahl vor hochnotpeinlichen Verhandlungen mit einem schwachen, stigmatisierten Koalitionspartner am Tisch, oder sich auf die Forderungen von SPD und FDP einzulassen. Und die wollen nicht aus purem Selbstzweck mitregieren. Letzteres wäre ungemütlich für Kretschmann aber besser für BaWü. Anders als Dreyer hatte er als Scharfmacher bei der Coronapolitik sich verzockt und auch noch die Wirtschaft gegen sich aufgebracht. Seine Position ist geschwächt. Am Horizont geht die Sonne auf. Steffen Gresch, ehemals DDR-BÜRGERRECHTLER
CEO cb creative bueroeinrichtung gmbh | COO buerostuehle-4u.de | COO officechair-4u.com
3 JahreMal drüber nachdenken: die tektonischen Platten haben zu driften begonnen
Face To Face Is The New Luxury | b2b | Licensing | Growth | Volkswirtschaftslehre
3 JahrePhänomenale Analyse. Auf den Punkt. Danke 🙏